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STANDPUNKT/004: Neuroleptika - DGPPN gegen richtungsweisendes Urteil des BVerfG (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 136 - Heft 2, April 2012
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

DGPPN gegen richtungsweisendes Urteil des Bundesverfassungsgerichts
Aus aktuellem Anlass: Zwangsbehandlung in der Psychiatrie und die Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN)

Margret Osterfeld kommentiert



Im Januar 2012 veröffentlichte die DGPPN ihre "Stellungnahme zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 23.3.2011 zur Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug". Die dort vertretene "Grundposition" betrifft jedoch nicht nur die Forensik, sondern auch die Zwangsbehandlung in der Psychiatrie generell.


Natürlich kann man über Medikamente - auch über Antipsychotika (Neuroleptika) - denken, was man will. Oft nützen und helfen sie, durchaus nicht selten sind sie auch unangenehm, oder sie schaden sogar. Und sicher lässt sich mit ihnen manch gutes Geschäft machen. Doch die Denkgewohnheiten ändern sich mit der Zeit - sie sind heute anders als noch vor einigen Jahrzehnten. Inzwischen ist es Allgemeingut, dass Antipsychotika nicht nur positive Wirkungen haben. Gleichzeitig gehören sie jedoch zu den meistverordneten Medikamenten.

Vor drei Jahren, als die UN-Behindertenrechtskonvention von der Bundesregierung ratifiziert wurde, wäre dies eigentlich ein gewichtiger Anlass für psychiatrische Kliniken gewesen, ihre Praxis der Medikamentenvergabe unter Zwang zu überdenken. Doch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) bewies eine raschere Änderungsbereitschaft als die Kliniken. Inzwischen hat es durch zwei richtungsweisende Urteile (2 BvR 882/09 vom 23.3.2011 und 2 BvR 633/11 vom 12.10.2011) deutlich gemacht, dass die gut etablierte Praxis der Zwangsmedikation, aber auch das Aufdrängen und Aufnötigen einer Medikation ohne angemessene Patientenaufklärung rechtlich schlicht und ergreifend nicht zulässig ist. Die Debatte darüber ist an den großen Versorgungskliniken bis heute hingegen dürftig geblieben - meine Tätigkeit in der Besuchskommission NRW hat mich im Jahr 2011 erneut mit schockierenden Beispielen(1) darüber versorgt, wie wenig Patientenrechte im klinischen Alltag geachtet werden. Noch immer gibt es Häuser, die mehr als 20 Prozent ihrer Patienten ohne deren Zustimmung behandeln; kritische Selbstreflexion diesbezüglich ist in manchen Kliniken nicht einmal in Ansätzen bekannt. Dabei nehmen Zwangseinweisungen seit Jahren zu, wobei immer wieder eine "Selbst- oder Fremdgefährdung" unzureichend belegt oder gar konstruiert wird, um eine Rechtsgrundlage für eine Zwangsbehandlung zu schaffen. Eine interessante Übersicht zu diesem Tabuthema lieferte aktuell Susanne Rytina mit ihrem Artikel "Zwang in der Psychiatrie: Das letzte Mittel"(2).

Vor diesem Hintergrund verwundert es schon sehr, dass sich die DGPPN - die wichtigste psychiatrische Fachgesellschaft - im Januar 2012 in einer Stellungnahme ausdrücklich gegen die Urteile des BVerfG stellt.(3)

Beim Lesen der Stellungnahme gewinnt man schnell den Eindruck, als würde das BVG in völliger Sachunkenntnis psychiatrisches Fachpersonal zu völliger Untätigkeit und zur Vorenthaltung wichtiger Hilfen gegenüber ihren Patienten (und damit zu "unterlassener Hilfeleistung") zwingen. Geradezu schamlos fordert die DGPPN eine Fortsetzung der etablierten Zwangsmedikationspraxis selbst für Menschen, denen die Einwilligungsfähigkeit noch nicht abgesprochen wurde. Postuliert wird "ein eigengesetzlich verlaufendes Schicksal" psychisch erkrankter Menschen, würde man dem Fachpersonal die Möglichkeit der (Zwangs-)Medikation vorenthalten. Jeglicher Einfluss psychosozialer Faktoren bei Krankheitsentstehung, Behandlung und Genesung wird schlicht geleugnet, nur um dann zur moralischen Keule zu greifen: "Es ist humanitäre Aufgabe einer Gesellschaft, vermeidbares Leid nicht zuzulassen."

Gleichzeitig schwingt sich die DGPPN in larmoyanter Weise zum Interessenvertreter aller psychiatrischen Patienten auf; entschuldigend wird nur in Nebensätzen angemerkt, dass lediglich eine Minderheit der Patienten von Zwangsmaßnahmen betroffen sei. Der Fachverband scheut sich nicht, in den Stigmatisierungschor einzustimmen und greift zu der bekannten Zirkelschlusslogik: "Ausdruck dieser psychischen Veränderung ist häufig eine Verminderung der Einsicht in die bestehende Störung und der damit verbundenen Minderung selbstreflektierender Fähigkeiten. Konsequenterweise fehlen häufig Krankheitsverständnis und Einsicht in die Behandelbarkeit der zugrundeliegenden Prozesse." Also, wer nicht einsieht, dass er krank ist, beweist der Psychiatrie genau dadurch seine psychische Störung - mehr "Vernunfthoheit" kann es nicht geben. Davon einmal abgesehen taucht das Wort "häufig" ein bisschen zu oft auf, dafür dass es doch nur eine Minderheit von Patienten gibt, die überhaupt von Zwangsmaßnahmen betroffen sind.

Natürlich gibt es in Kliniken oft schwierige Situationen, doch der vom Verfassungsgericht vorgeschlagene Weg der Vertrauensbildung birgt sehr oft eine Lösung, die weit besser ist als die Zwangsmedikation. Es mag sein, dass dieser Weg ein bisschen mehr Mühe und Zeit kostet, dass es mehr an Flexibilität und Mut zur individuellen Lösungsfindung bedarf. Am Ende wird es aber genau dieser Weg sein, der für die Patienten langfristig die besten Ergebnisse bringt. Die aus der aktuellen Stellungnahme sprechende Haltung führt jedoch direkt in einen rechtsfreien Raum, in dem nur noch Psychiater bestimmen, wer wann wie viele Medikamente braucht und wie viel "Willensfähigkeit" den Patienten noch zuzusprechen ist.


Zum Wohle des Patienten?

Fragen an die DGPPN, die sich aufdrängen, sind:

  • Hat die DGPPN selbst noch die Reflexionsfähigkeit, um wahrzunehmen, wie oft Kliniken zum vermeintlichen Patientenwohl zu Zwangsmaßnahmen greifen?
  • Was hat die DGPPN unternommen, um endlich besseres Zahlenmaterial zu Zwangsunterbringung und Zwangsmedikation zu liefern?
  • Vertritt die DGPPN die Vernunfthoheit der Psychiatrie, die schon einmal zu erschreckenden Behandlungsformen geführt hat?
  • Gelten nicht medikamentöse Behandlungsformen wie z.B. Psycho-, Ergo- oder Soziotherapie in der DGPPN so wenig, dass seine Mitglieder diese Methoden nicht anwenden können oder wollen?
  • Wie will die DGPPN sinnvolle Qualitätsstandards für den Fall von notwendigen Zwangsmaßnahmen einführen und durchsetzen, wie will sie dafür sorgen, dass die Zwangsbehandlung irgendwann endlich kein Angst einflößendes Tabuthema mehr sein wird?

Sicher wird die DGPPN-Stellungnahme eine weitere Assistenzarztgeneration im Sinne von "mehr Zwang in der Psychiatrie" beeinflussen. Doch vielleicht wird in der Zukunft mal eine gemeinsame Veranstaltung der DGPPN und der DGSP zu diesem ethisch und fachlich gleichermaßen schwierigen Thema möglich. Bis dahin bin ich frei in meinen Überzeugungen: Dieser Verband wird erst zufrieden sein, wenn es die "Pille Soma"(4) für alle gibt. Erst dann haben wir eine schöne neue Psychiatriewelt, und manch ein Sponsoring-Euro fällt dabei sicher auch für die DGPPN ab. Verteidigt wurde das Geschäftsmodell der letzten Psychiatriejahrzehnte, Patientenwohl und Rechtsstaatlichkeit spielen da eher eine untergeordnete Rolle.

Margret Osterfeld ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und Sprecherin des Fachausschusses Psychopharmaka der DGSP.


Anmerkungen:

(1) Vgl. Margret Osterfeld: Patiententraumatisierung durch die Psychiatrie. In: Psychiatrische Pflege Heute 1/2012, S. 21 ff.

(2) Vgl. Susanne Rytina: Zwang in der Psychiatrie: Das letzte Mittel. In: Gehirn & Geist, H. 1-2, Jan./Febr. 2012, S. 56 ff.; auch im Internet über Spiegel online, 15.1.2012.

(3) Siehe Internet: www.dgppn.de/aktuelles/startseite-detailansicht/article/100/zum-urteil-d.html

(4) Diese Pille spielt eine wichtige Rolle in dem 1932 erschienenen Roman "Schöne neue Welt" von Aldous Huxley.

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 136 - Heft 2, April 2012, Seite 34-35
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Juli 2012