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VORTRAG/096: 40 Jahre Projekt »Psychiatriereform« - Was ist daraus geworden? (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 15 - Heft 2/17, 2017
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

40 Jahre gesellschaftspolitisches Projekt »Psychiatriereform« - Was ist daraus geworden?
Mit einer kritischen Bilanz der Psychiatriereform in Deutschland wurde die DGSP-Jahrestagung 2016 in Berlin eröffnet

Von Ernst von Kardorff


Warum noch eine weitere Bilanzierung zu den vielen bereits vorliegenden, etwa zu den umfangreichen Berichten der Aktion Psychisch Kranke (2001 und 2011) oder dem Sammelband »40 Jahre Psychiatrie-Enquete« (Armbruster et al. 2015)? Mein Anliegen ist, in einer Reflexion des Erreichten einige Überlegungen zum gesellschaftspolitischen Stellenwert der Psychiatriereform zu diskutieren und auf einige Paradoxien und Ambivalenzen in ihrer Entwicklung hinzuweisen; dies soll dazu ermutigen, die im Alltag der psychiatrischen Praxis oft vergessene oder liegen gebliebene gesellschaftspolitische Dimension für die Sozialpsychiatrie als eine ihrer zentralen Aufgaben zurückzugewinnen.

Einführung

Günther Wienberg hat 2014 aus sozialpsychiatrischer Binnenperspektive konstatiert, dass die mit und im Gefolge der Enquete eingeleiteten Veränderungen rückblickend eines der erfolgreichsten und nachhaltigsten Reformprojekte der Bundesrepublik darstellten. Dies klingt plausibel, wenn man die Ausgangssituation der »elenden und menschenunwürdigen« Zustände in der Psychiatrie bei Einsetzung der Psychiatrie-Enquete 1971 in Rechnung stellt: Die Bedingungen für Patienteninnen und Patienten haben sich in vielen Hinsichten deutlich verbessert, psychische Erkrankungen wurden mit körperlichen rechtlich gleichgestellt, die Mehrzahl der Großkliniken wurde durch psychiatrische Fachabteilungen ersetzt, und innerhalb der Versorgungslandschaft ist eine große und auch unübersichtliche Vielzahl differenzierter Angebote entstanden. Die Planung von psychiatrischen Einrichtungen folgt - zumindest in der Theorie - den regionalen Bedarfen und nicht länger der Logik von Angeboten und »Standardversorgungsgebieten«, und die Prinzipien vorrangig wohnortnaher, ambulanter und sozialraumorientierter Verbundstrukturen, die Personenzentrierung und Bemühungen zur Partizipation (wie »shared desicion making«, Trialog, EX-IN, Peer-Involvement und Empowerment) - wenngleich nicht überall oder vollständig umgesetzt - gelten heute als Kernkriterien moderner sozialpsychiatrischer Versorgung(squalität). Diese Erfolge, trotz fortbestehender Probleme wie z.Stigmatisierung, Diskriminierung und Ausgrenzung Ver-rückter, ihre Exklusion in Armutslagen und ambulanten Gettos und ihre geringe Teilhabe am Arbeitsleben sind dem Kairos einer besonderen historischen Konstellation zu verdanken, in der von engagierten Psychiaterinnen und Psychiatern und anderen Fachkräften aus dem System heraus entwickelte und geschickt mit der Politik vernetzte Reformbestrebungen (Aktion Psychisch Kranke, Mannheimer Kreis, DGSP) auf eine gesellschaftliche Aufbruchsstimmung trafen, die in Verbindung mit der organisierten Selbstvertretung Betroffener (Psychiatrie-Erfahrene, Angehörige psychisch Erkrankter, Krüppelbewegung, Gesundheitsbewegung) als Reformbeschleuniger wirkte. All dies verband sich mit den Interessen der Wohlfahrtsverbände an der Ausweitung von Handlungsfeldern und dem Bestreben der beteiligten Disziplinen und Professionen nach mehr Einfluss und neuen Stellen. Diese erfolgreiche »Single-issue«-Perspektive hat zugleich zu einer selbstbezüglichen Eigendynamik der Psychiatriereform beigetragen; der Erfolg wurde jedoch mit einer unkritischen Übernahme des gesellschaftlichen Auftrags zur Organisierung eines möglichst reibungslosen Umgangs mit psychischem Leiden und den Ver-rückten erkauft. Der noch zu Beginn der Reformdiskurse vorhandene Bezug psychischer Erkrankungen zum Leiden an den gesellschaftlichen Zuständen wurde im weiteren Verlauf der Modernisierung des Systems bestenfalls zum Randthema. Dies liegt nicht zuletzt an den gesellschaftspolitischen Funktionen der Psychiatrie als Teil staatlicher Versorgungspolitik, als Instanz sozialer Kontrolle und als Deutungsmacht an den Grenzen von Normalität und Wahnsinn.

Zur gesellschaftspolitischen Dimension der Psychiatrie

Psychiatrie, verstanden als Praxis des gesellschaftlich organisierten Umgangs mit Menschen, die aus der Mitte der sozialen Ordnung ausgestoßen, in ihren oft beschränkten und zu engen sozialen Beziehungen häufig schwer entwirrbar verstrickt und aus ihrer eigenen Mitte ver-rückt sind, ist von Beginn an durch und durch politisch, d.h. eine Angelegenheit der Gesellschaft, ihrer politischen Instanzen und der beteiligten Disziplinen. In deren Diskursen werden die Grenzen von Normalität(serwartungen) beständig neu verhandelt - ein Gedanke, der in den 1970er Jahren von Foucault, Basaglia und anderen thematisiert wurde und erst mit der Inklusionsdebatte wieder, nun unter erweiterten Vorzeichen wie der Wahrung der Menschenrechte, der Betonung von Selbstbestimmung und dem Recht zu umfassender gesellschaftlicher Teilhabe, an Bedeutung gewinnt. 1972 formulierte Klaus Dörner programmatisch: »Psychiatrie ist soziale Psychiatrie oder sie ist keine Psychiatrie«. In dieser Formulierung ist nicht nur ein normatives Ziel enthalten, sondern auch eine Aussage über die gesellschaftspolitische Dimension der Psychiatrie. Damit verbunden ist, dass für die Mehrzahl der langfristig unter psychischen Beeinträchtigungen leidenden Menschen nicht die Erkrankung, sondern das durch sie irritierte Leben die zentrale Herausforderung für sie selbst (Schaeffer 2009) und für die Gesellschaft darstellt; damit geraten ihre Lebensbedingungen als Ganzes und ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben - und nicht allein ihre Behandlung, Kontrolle und Rehabilitation - in den Fokus. Auf die neben individuellen, beziehungsbedingten und konstitutionellen zentral wirksamen gesellschaftlichen Kontexte und Bestimmungsgründe für psychische Beeinträchtigungen hat Dreitzel schon 1968 in seinem Buch »Die gesellschaftlichen Leiden und das Leiden an der Gesellschaft« verwiesen; dort hat er gezeigt, wie sich die jeweilige gesellschaftliche Verfasstheit auf das Erleben und Empfinden der Subjekte auswirkt und das Risiko für psychische Beeinträchtigungen erhöht. Am Zusammenspiel zwischen Gesellschaft und Psychiatrie spitzt sich die Frage nach geeigneten Ansatzpunkten und Formen des gesellschaftlichen und nicht allein psychiatrischen Umgangs mit gestörten und störenden, mit ver-rückten und bedrohlich erscheinenden, aber auch kreativ aus der Norm fallenden Verhaltensweisen und Biografien zu: Diese sind ein sensibler Indikator für Vulnerabilitäten gegenüber krank machenden gesellschaftlichen Bedingungen wie auch für ein Scheitern an oder einen Widerstand gegen neue Anforderungen oder Zumutungen; damit ermöglichen sie eine kritische Perspektive, die über individuelle Behandlung und organisatorische Versorgungsaufgaben der Psychiatrie hinausweist und den Anspruch der Psychiatrie auf die Deutungshoheit für subjektives Leiden und ihre Markierung als Krankheiten infrage stellt.

Psychiatriereform als gesellschaftspolitisches Projekt

Die Reform der bis in die 1970er Jahre hinein skandalösen Zustände in der Psychiatrie war von vielen damals Engagierten, darunter vielen jüngeren Fachkräften aus der Studentenbewegung, durchaus als gesellschaftspolitisches Projekt verstanden worden (vgl. Kersting 2003) und nicht allein als innerpsychiatrische Reform und Anpassung an internationale Entwicklungen. In den damaligen Kernaussagen erschien die Psychiatrie als Disziplin und Organisationskomplex, die abweichendes und irritierendes Verhalten zur Krankheit erklärt und damit zur Festigung und Rechtfertigung herrschender Normen und Werte beiträgt, gesellschaftliche Ursachen für die Leiden an der Gesellschaft individualisiert und in ihren Behandlungsstrategien auf unkritische Anpassung und Normalisierung abzielt (Foucault 1975; ders. 1976; Castel 1982), die bürgerliche Familie als Ort emanzipationsfeindlicher Unterdrückung stabilisiert (Cooper 1978) und die existenzielle Kreativität und Lösungspotenziale in subjektiven Identitätskrisen verkennt und medikamentös ruhigstellt, anstatt die Menschen durch die Krise zu begleiten (Laing 1969), wie dies dann später in begrenztem Umfang durch Soteria-Konzepte realisiert werden sollte. Diese Verknüpfung der Psychiatriereform mit einer radikalen politischen Kritik des subjektiven Leidens an den gesellschaftlichen Verhältnissen und einer grundsätzlichen Kultur und Wissenschaftskritik an der Psychiatrie erwies sich jedoch als kurzlebig, verblieb weitgehend im akademischen Milieu und erreichte nur einen Teil der Beschäftigten in der Psychiatrie, von der Mehrheit der Patientinnen und Patienten ganz zu schweigen. Gleichwohl haben diese Debatten, vermittelt über die Neuen Sozialen Bewegungen, dazu beigetragen, das gesellschaftliche Klima liberaler, Lebensformen pluraler und Wertvorstellungen verhandelbarer zu machen und damit auch Räume für die Selbstorganisation Psychiatrieerfahrener und ihrer Angehörigen geschaffen sowie Fachkräfte für die Anliegen der betroffenen Menschen und nicht nur für die Korrektion von Defiziten sensibilisiert. All dies hat auch zu größerem Verständnis und größerer Offenheit für das Recht auf Selbstbestimmung, auf individuelle, nicht dem Mainstream folgende Lebensentwürfe, für Idiosynkrasien und subjektive Identitätskrisen geführt und Reformimpulse für die Gemeindepsychiatrie in einem allgemeinen Klima des gesellschaftlichen Aufbruchs gesetzt. Von dieser Aufbruchsstimmung ist heute in einer Gesellschaft des »erschöpften Selbst« (Ehrenberg 20102), des beständigen Risikos (Beck 1986) und rasant beschleunigten Wandels (Rosa 2013) und der damit verbundenen vielfältigen Ängste (Bude 2014) nur mehr wenig übrig geblieben. Zugleich haben sich in der konkreten Weiterentwicklung der Reform, wesentlich durch Selbsthilfe/organisationen getragen und von engagierten Fachkräften unterstützt, neue und eigenständige Dynamiken in der gesellschaftlichen Verkörperung des Politischen herausgebildet: Sie lassen sich unter den Überschriften »Politik von unten«, »zivilgesellschaftliche Selbstorganisation« und »Partizipation« zusammenfassen, bei denen es, trotz unterschiedlicher Auffassungen im Einzelnen, vor allem um mehr gesellschaftliche Teilhabe, um verbesserte Kooperation, um Kompromisse und Lösungen geht als um grundsätzliche oder ideologisch aufgeladene Konflikte (vgl. v. Kardorff 2014).

Auch in dieser Perspektive lässt sich die Gemeinde und Sozialpsychiatrie als gesellschaftlicher Erfolg verbuchen: Heute sprechen Psychiatrie-Erfahrene und Angehörige vermittels lokaler Selbsthilfegruppen und Initiativen sowie bundesweiter Organisationen mit eigener Stimme und setzen sich für ihre Anliegen ein, haben erweiterte Handlungsmöglichkeiten gewonnen und sich mehr Mitsprache und öffentliche Aufmerksamkeit erstritten. Dies halte ich für den bedeutsamsten, von der Enquete weder vor noch vorausgesehenen politischen Effekt der Psychiatriereform für die Zivilgesellschaft.

Von der Gesellschaftspolitik zu den Mühen der Ebene

Mit Blick auf das Verhältnis von Psychiatrie und Gesellschaft lässt sich seither von einer Entpolitisierung sprechen: Mit der Ausdifferenzierung der Gemeindepsychiatrie ist eine (sozial-)psychiatrische Selbstgenügsamkeit und eine vorwiegend nach innen auf die »gemeindepsychiatrische Szene« gerichtete Nabelschau aller beteiligten Akteure entstanden. Dies verwundert nicht, wenn man die »Mühen der Ebene« bei den einzelnen Reformschritten in ihrer komplexen Verflechtung mit anderen Bereichen der Sozialpolitik, mit konfligierenden Interessen der Kostenträger und Leistungsanbieter, der Länder und Kommunen betrachtet (vgl. Kunze 2015).

Die Erfolgsgeschichte der Enquete - bei allen immer noch bestehenden Missständen im Einzelnen wie große Heime, das Zirkulieren vieler Betroffener in ambulanten Gettos, die bedrückende Armutslage vieler Psychiatrie-Erfahrener und ihre Exklusion von sozialer Teilhabe (vgl. Richter 2010), die geringe Beteiligung psychisch Erkrankter am Arbeitsleben (Schubert et al. 2013), die Unterversorgung von Menschen mit Angsterkrankungen, die fortbestehende Stigmatisierung psychisch erkrankter Menschen und ihrer Familien (Finzen 2013) oder der ungelöste Skandal einer immer mehr ausufernden Sicherungsverwahrung - ist zugleich eine Erfolgsgeschichte der Psychiatrie als Disziplin, als Profession und als Organisation und ihres von der Gesellschaft weitgehend unbemerkten kontinuierlichen Wachstums: an neuen Einrichtungen und Personal, an einer Ausweitung ihrer Zuständigkeiten und der Ausdehnung psychiatrischer Klassifikationen auf immer neue und neu konstruierte Formen abweichenden Verhaltens, was besonders deutlich an der geplanten Einführung des neuen DSMV Klassifikationssystems wird (vgl. Frances 2013; v. Kardorff 2015). Kurz, die Psychiatrie hat den von der Gesellschaft an sie delegierten Auftrag, den Umgang mit den ver-rückten Menschen arbeitsteilig und störungsfrei zu organisieren, weitgehend unreflektiert übernommen.

Zu einigen Paradoxien der Psychiatriereform

Zwischen Personenzentrierung und individualisierender Pathologisierung

Gegenüber standardisierten Behandlungsangeboten war die zu Beginn der 1990er Jahre eingeführte Personenzentrierung ein Gewinn. Sie zielt darauf ab, für den individuellen Bedarf passfähige und der Idee nach gemeinsam mit den Klienten ausgehandelte und von ihnen akzeptierte Hilfen zu entwickeln. Sie ist damit notwendigerweise mit einer hilfreichen Individualisierung verbunden, um nach lebensweltnahen Lösungen für Problemkonstellationen in Biografie, Familie und sozialem Netzwerk und mit Blick auf die jeweilige Lebens und Arbeitssituation zu suchen. In einer weiter gefassten Perspektive zeigt sich eine Paradoxie der Personenzentrierung darin, dass sie weitgehend dem individualisierenden Pathologiemodell folgt, in dessen Zentrum der Gedanke der Korrektur, der Kompensation und der Anpassung steht. Psychische Behinderung erscheint so vorrangig als individuelles Problem (das sie immer auch ist) und als Defizit der Person und nicht mehr als Ergebnis gesellschaftlicher Einflüsse und Barrieren, für die sich die Psychiatrie als nicht zuständig erklärt. In gesellschaftspolitischer Perspektive bedeutet dies z. B. die Ausblendung krank machender Arbeitsverhältnisse, sozialer Ausgrenzung und der mehrheitsgesellschaftlichen Zumutungen an gerade gängige Modi einer der gesellschaftlichen Entwicklung folgenden und von der Wirtschaft geforderten Subjektivierung in Richtung eines flexiblen, leistungsbereiten und selbstgesteuerten »unternehmerischen Selbst« (Bröckling 2007) als (un-)heimlichem Lehrplan.

Zunehmende Pathologisierung, Medikalisierung und Therapeutisierung

Der Zusammenhang zwischen der Zunahme diagnostizierter psychischer Erkrankungen und dem damit einhergehenden Anstieg von Arbeitsunfähigkeit und vorzeitigem Renteneintritt mit veränderten Anforderungen in der Arbeitswelt wie Zeitdruck, Konkurrenz, Ängsten vor dem Arbeitsplatzverlust, Präsentismus oder mangelnder Wertschätzung der Arbeit usw. wird von der Psychiatrie nur vereinzelt und kaum gesellschaftskritisch thematisiert, sondern am Einzelnen kuriert. Die zunehmende Pathologisierung von immer mehr und auch schon geringeren Auffälligkeiten steht für eine Ausweitung von Interventionen und deren immer weitere Vorverlagerung: etwa, wenn eine länger anhaltende Trauer in eine behandlungsbedürftige Depression, Irritationen des Lebens zum Trauma, das Leiden an Zurücksetzung und Drangsalierung in der Arbeit zum Verbitterungssyndrom usw. individualisierend umgedeutet werden. Dies zeigt sich an Forderungen der am biologisch-neuropsychologisch und genetischen Paradigma orientierten Psychiatrie zur Ausweitung individualisierender präventiver Screeningverfahren und bis ins Kindesalter hinein vorverlegter Eingriffe sowie einer zunehmenden Medikalisierung bis zum leistungssteigernden Neuro-Enhancement oder zum selbstkontrollierenden Gesundheitstracking. Damit schreitet eine Psychiatrisierung und Therapeutisierung des gesellschaftlichen Alltags (und eine Selbstpsychiatrisierung durch Übernahme psychiatrischer Definitionen durch Betroffene) voran - eine Tendenz, die schon zu Beginn der 1980er Jahre etwa von Castel u. a., Rose, Wambach und Hellerich moniert wurde und die sich bis heute unter anderen Vorzeichen in Bemühungen zu einer Neuformierung des Subjekts fortsetzt.

Diese Entwicklungen wurden in der Psychiatriereform bis heute zu keinem nennenswerten Thema fachlicher (Selbst)Kritik oder einer Kritik an der Berufspolitik der Psychiater, Psychologen und Sozialpädagogen (z. B. Rose 1985 und 1999)(2). Das gilt auch für eine weitgehend fehlende Kritik des psychiatrisch-pharmakologischen Komplexes; von wenigen Ausnahmen abgesehen (z. B. Lehmann 2010)(6) trifft eine derartige Kritik auf geringe Resonanz, anders als in den USA, wo etwa Frances (2013) aus dem psychiatrischen System heraus dieses Thema auf die Agenda gesetzt hat (vgl. auch Rose 2003).

Zwischen ambulantem Getto und »drittem Sozialraum«

Die Öffnung der Anstalten, Enthospitalisierung und Ambulantisierung der Hilfen im Sozialraum lässt sich nur zum Teil als Erfolgsgeschichte lesen; vielfach ist hier eine bis heute andauernde kostengünstige Umhospitalisierung in Heimbereiche mit fehlender Selbstbestimmung erfolgt, oft unter Missachtung von Menschenrechten und Menschenwürde. Und im gemeindepsychiatrischen Sozialraum hat das Zirkulieren in ambulanten Gettos, etwa von Tagesstätten und Sozialpsychiatrischen Diensten oder die Verschiebung als arbeitsunfähig diagnostizierter psychisch behinderter Menschen in WfbMs, Sonderwelten entstehen lassen. Zwar gewähren sie durchaus Schutz und Hilfe, bieten einen Rückzugsraum und stellen Gelegenheiten zum Aufbau und zur Stabilisierung neuer sozialer Beziehungen bereit und ermöglichen das Erproben neuer Verhaltensmuster; zugleich stabilisieren sie die Abhängigkeit von Einrichtungen und Fachkräften, erzeugen neue Formen erlernter Hilflosigkeit und bieten einem resignativen Sichabfinden eine Legitimation im sicheren Abseits zusammen mit Professionellen, Angehörigen und den »Freunden der Behinderten«. In diesem Sicheinrichten entstehen bei Klienten wie Fachkräften Anspruchshaltungen, die einer Logik der Bequemlichkeit, der Bestandssicherung und der Erbhoferweiterung folgen.

Die Ambulantisierung ist mit einem Wachstum an Einrichtungen verbunden, von dem vor allem der wohlfahrtsindustrielle Komplex (und die dort Beschäftigten) profitiert, der sich zugleich politisch einflussreich auch aus wohlverstandenem Eigeninteresse advokatorisch für die Psychiatrie-Erfahrenen einsetzt. Dieses wild gewachsene - und keineswegs allein am Bedarf orientierte - Versorgungssystem ist nicht nur intransparent, sondern weist Mängel in Kooperation, Koordination und Vernetzung auf und hat Wirksamkeitsdefizite. Zusammen mit mangelnder Partizipation ist dies eine Ursache für das Zirkulieren vieler Betroffener in endlosen Maßnahmekarrieren und für die Stabilisierung von Perspektivlosigkeit in einer müden und selbstgenügsamen »Gemeinschaft«.

Die »armen Irren«: Gemeindepsychiatrie als Armutsverwaltung?!

Auch die soziale Lage von Menschen mit chronifizierten seelischen Beeinträchtigungen hat sich nur wenig verbessert. Diese Paradoxie zwischen einer auf Lebensweltorientierung und Gemeindenähe angelegten Inklusion und einer fortbestehenden sozialen und ökonomischen Randseiterposition psychisch erkrankter Menschen als stigmatisierte Gruppe verweist einerseits auf nachhaltig im kollektiven Gedächtnis verankerte und über frühe Sozialisationsprozesse emotional stabilisierte Vorurteilskomplexe. Andererseits verweist es auf soziale Ausgrenzungsprozesse der von Heinz Bude etwas zynisch als »Überflüssige« bezeichneten Menschen, die den Produktivitätserwartungen der Normalgesellschaft nicht (mehr) nachkommen können oder wollen. Auch das damit zusammenhängende Thema »Armut und prekäre Arbeits und Lebensverhältnisse« ist bislang innerhalb der Psychiatriereform nur vereinzelt erörtert worden. Eine Ausnahme stellen hier die seit 2011 erschienenen bislang sechs »Denkzettel« der Soltauer Initiative (vgl. www.psychiatrie.de/dgsp/soltauer-initiative/) sowie die 16 Denkanstöße der DGSP (www.dgsp-ev.de/denk-an-stoesse.html) dar, die wichtige Impulse für eine entsprechende Diskussion liefern und Ansatzpunkte zu einer gesellschaftspolitischen Repolitisierung der Psychiatrie bieten.

Das gesellschaftliche Klima: Zwischen Entstigmatisierung und fortwährender Stigmatisierung

Wissenschaftliche Studien (z. B. Angermeyer et al. 2013; Finzen 2013) und Erfahrungsberichte Betroffener und Angehöriger belegen trotz Allgemeinem Gleichbehandlungsgesetz (AGG) und vielfältiger Entstigmatisierungsinitiativen die fortdauernde Diskriminierung besonders schwer erkrankter psychisch beeinträchtigter Menschen, sei es in der Öffentlichkeit, in Schule und Ausbildung oder innerhalb des Versorgungssystems, bei der Wohnungssuche und im Geschäftsverkehr sowie auf dem Arbeitsmarkt. Während viele Betroffene versuchen, etwa am Arbeitsplatz oder im Sportverein als »normal« durchzugehen, stellt sich die Situation für Menschen mit chronifizierten Beeinträchtigungen als besonders prekär dar: Bekannt in Kliniken, Krisendiensten und Beratungsstellen, eingebunden in Behandlungsregimes und institutionenabhängige Lebenslagen, sind viele von ihnen sozial isoliert oder haben sich aus Selbstschutz, Angst vor Stigmatisierung oder durch ihr eigenes Verhalten aus den bisher vertrauten Netzen zurückgezogen. Im Blick der anderen werden sie als Angehörige einer besonderen Kategorie behandelt. Sie finden und erleben sich damit immer wieder auf der Seite der Ausgeschlossenen, inkludiert allerdings in Behandlungsregimes und die Kontrollen der Sozialadministration, von denen viele in ihrer materiellen Existenz abhängig sind und vielfach über betreuungsrechtliche Regelungen oder das Arbeitsmarktregime des SGB II auch in ihrer Lebensführung beschnitten werden. Entstigmatisierungskampagnen »von unten«, etwa von Initiativen wie »Irre menschlich«, mit betroffenen Menschen als Botschaftern für ihre eigene Perspektive, beispielsweise in Schulen, leisten hier einen wichtigen sozialraumbezogenen Beitrag (Sielaff 2010).

Geringe Umsetzung von Selbstbestimmung und Partizipation

Partizipation und Selbstbestimmung sind in der Regelversorgung - trotz der innovativen und weiterwachsenden trialogischen Angebote seit Beginn der 1990er Jahre (Bock et al. 2014; Bombosch, Hansen, Blume 2013) immer noch keine Selbstverständlichkeit: In der routineförmigen Behandlungspraxis dominieren Fragen der Compliance und Behandlungsadhärenz und aus Expertensicht entwickelte Konzepte der Psychoedukation. Mangelnde Compliance wird als Krankheitssymptom, als Zeichen für eine negative Prognose der Krankheitsentwicklung oder bestenfalls als Scheitern der Fachkraft-Patienten-Kooperation gesehen. Thomas Bock (2011) kritisiert, dass diese krankheitszentrierte professionelle Sicht weder der subjektiven Sinngebung und dem »Eigensinn« der psychischen Beeinträchtigung gerecht wird noch das Bemühen um Wiedergewinnung von Autonomie und Lebensqualität stärkt oder auch die kreativen Aspekte von Psychosen berücksichtigt.

Basaglias Ideen wieder aufgreifen und weiterdenken

Die Ideen der »Demokratischen Psychiatrie« lassen sich mit den Forderungen der UN-BRK nach Inklusion und einer Kultur der Anerkennung von Heterogenität sehr gut für eine Wiederbelebung der Psychiatriereform als gesellschaftspolitischem Projekt nutzbar machen.

Basaglias Ideen (ders. 1974) haben in Theorie und Praxis der deutschen Gemeindepsychiatrie kaum Spuren hinterlassen - mit Ausnahme vielleicht der bis heute bestehenden und kreativ weiterentwickelten Bremer Initiative »Blaue Karawane«. Basaglias Gedanke war, die gesellschaftliche »Delega«, also den weitgehenden gesellschaftlichen Auftrag an die Psychiatrie bis auf Krisenintervention und Behandlung zurückzuweisen und die Sorge um die an sich selbst und an der Gesellschaft leidenden Menschen wieder an die Gesellschaft, konkret an ihre Lebensorte in der Kommune und an die staatliche und kommunale Finanzverantwortung »zurückzugeben«, also sich der Segregation - und heute müsste man ergänzen - sich der fortschreitenden Psychiatrisierung des Alltags entgegenzustellen. Diese Überlegung könnte zu einer gesellschaftspolitischen Debatte um Sorgearbeit angesichts des demografischen Wandels, der Zunahme von Menschen mit Beeinträchtigungen, der Veränderungen innerhalb der Arbeitsgesellschaft und eines sich andeutenden Wandels mit Blick auf die subjektiven Vorstellungen von Lebensqualität beitragen. Basaglias Verdienst liegt dabei nicht zuletzt in der Symbolkraft der von ihm angestoßenen Aktionen, die auf andere gesellschaftliche Bereiche, Politikfelder, kulturellen Umgang und Mentalitätsdispositive ausstrahlen.

Ernst von Kardorff, Prof. Dr. (i.R.); vormals Institut für Rehabilitationswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin.
E-Mail: ernst.von.kardorff@rz.hu-berlin.de

Literatur beim Verfasser


Anmerkung

Der vorliegende Text ist die stark gekürzte Fassung des Vortrags des Autors auf der Jahrestagung der DGSP am 6. Oktober 2016 in Berlin. Er basiert auf seinem Beitrag »Was ist aus dem gesellschaftspolitischen Projekt der Psychiatrie geworden?« In: Armbruster, Jürgen et al. (Hrsg.) (2015) 40 Jahre Psychiatrie-Enquete. Ein Blick zurück nach vorn, Köln: Psychiatrie Verlag, S. 148-164

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 156 Heft 2/17, April 2017, Seite 4 - 8
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
Zeltinger Str. 9, 50969 Köln
Telefon: 0221/511 002, Fax: 0221/529 903
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Erscheinungsweise: vierteljährlich, jeweils zum Quartalsanfang
Bezugspreis: Einzelheft 10, Euro
Jahresabo: 34, Euro inkl. Zustellung
Für DGSP-Mitglieder ist der Bezug im Mitgliedsbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum ". Juni 2017

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