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ARTIKEL/387: Interview - "Die Depression ist in der Mitte der Gesellschaft!" (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 1/2009

Interview mit Prof. Dr. Fritz Hohagen
"Die Depression ist in der Mitte der Gesellschaft!"

Von Werner Loosen


Bei der Jahrestagung der Akademie für medizinische Fort- und Weiterbildung am 4. Juli 2009 geht es um Depression. Vorab hat das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt mit dem wissenschaftlichen Leiter der Tagung, Prof. Dr. Fritz Hohagen, Jahrgang 1954, gesprochen. Der Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck (seit 1999), erläutert, worum es ihm vor allem geht und was er sich von der Tagung verspricht.

SHÄ: Wie ist es zu diesem Thema gekommen?

Prof. Dr. Fritz Hohagen: Die Akademie möchte dieses Thema in aller Öffentlichkeit behandeln, weil die Depression mittlerweile unsere Volkskrankheit Nr. 1 ist. Insgesamt hat die Bedeutung psychischer Erkrankungen deutlich zugenommen, wenn Sie beispielsweise nur die Arbeitsunfähigkeitstage zählen. Inzwischen ist jede fünfte Frau in Deutschland zumindest gelegentlich an einer Depression erkrankt, bei den Männern ist es jeder zehnte. Das bedeutet, dass diese Erkrankung eine enorme gesundheitspolitische Relevanz hat. Von daher finde ich es außerordentlich klug und richtig, dass die Akademie dieses Thema für die diesjährige Jahrestagung ausgesucht hat. Dahinter steckt auch das Wissen, dass die Depression jeden Einzelnen von uns treffen kann. Wir wollen mit dieser Veranstaltung die Ärzte und die allgemeine Öffentlichkeit aufklären, was Depression ist, und wir wollen neue Behandlungsmöglichkeiten vorstellen.

SHÄ: Apropos - was ist Depression?

Prof. Dr. Fritz Hohagen: Depression - das ist nicht nur "nicht gut drauf" sein, das ist nicht nur Trauer. Depression ist eine Lähmung verschiedener Funktionsbereiche im menschlichen Körper, die vom Gehirn ausgeht. Die von dieser Lähmung betroffenen Menschen erleben sich als innerlich versteinert, sie können sich nicht mehr freuen. Verstärkt sind andere Körperfunktionen betroffen, beispielsweise leiden Depressive unter Appetitmangel, der teilweise zu großen Gewichtsverlusten führen kann. Schlaf, Aufmerksamkeit und Konzentration sind extrem gestört, gefolgt von Interesselosigkeit, Lebensüberdruss und der Gefahr eines Suizids. Die Depression ist also nicht nur eine Sache des Gemüts, vielmehr ist der gesamte Körper betroffen. So werden in einer depressiven Phase Stresshormone ausgeschüttet, was zu weiteren Erkrankungen führen kann.

SHÄ: Welches sind die Ursachen der Depression?

Prof. Dr. Fritz Hohagen: Die Ursachen sind vielschichtig und bei jedem Menschen anders gewichtet. Auch eine genetische Disposition mag im Einzelfall vorliegen, was aber nicht heißt, dass der auf diese Weise Betroffene in jedem Fall eine Depression entwickeln muss. Hinzu kommen in vielen Fällen psychosoziale Aspekte, etwa ständiger Streit, ein Rollenwechsel, wenn beispielsweise die Kinder aus dem Haus gehen; eine Veränderung der Lebenssituation mag dazu kommen, Verluste und Trauer lassen Menschen depressiv werden, genauso aber auch die Schwierigkeit, mit anderen Menschen zu kommunizieren. Gewiss ist sicher auch, dass manche Menschen zur Depression neigen. Neurobiologische und psychosoziale Faktoren spielen in etwa eine gleiche Rolle. Wir Ärzte und Wissenschaftler haben uns inzwischen verabschiedet von der früheren Zweiteilung exogen und reaktiv. Um das gleich zu sagen: Es gibt keinen Marker, mit dem Sie die Depression erkennen könnten! Das klinische Bild ist entscheidend. Und um es noch einmal zu wiederholen, weil es mir wichtig ist: Die Depression kann jeden treffen, insofern ist sie auch in der Mitte unserer Gesellschaft.

SHÄ: Sie haben vorhin gesagt, die Depression sei mehr als nur Traurigkeit ...

Prof. Dr. Fritz Hohagen: ... richtig, und wir hier in der Klinik sehen selbstverständlich nur die schweren Depressionen, die entweder vom niedergelassenen Facharzt oder eben in der Klinik behandelt werden. Eine leichte Depression lässt sich vielleicht auch mit eigener Kraft in den Griff bekommen. Wer aber seinen Lebensalltag nicht mehr bewältigt, wer unter zusätzlichen schweren Funktionseinbußen leidet, der muss behandelt werden, da die Depression auch eine gefährliche Krankheit ist. Nehmen Sie nur eine solche Zahl: Zehn bis 15 Prozent derjenigen, die schon einmal wegen einer schweren Depression in stationärer Behandlung waren, suizidieren sich! Gewiss sollten wir tägliche Missstimmung nicht gleich pathologisieren. Behandelt werden muss aber, wenn eine Gefährdung vorliegt, und die ist erkennbar an bestimmten Symptomen - niedergedrückte Stimmung bis hin zum Gefühl der Gefühllosigkeit, fehlender Antrieb, dauerhafte Schlafstörung, Konzentrationsstörung, Suizidversuche oder auch ständige Appetitlosigkeit.

SHÄ: Wer ist vor allem von einer Depression betroffen?

Prof. Dr. Fritz Hohagen: Unter den Erkrankten sind, wie angedeutet, deutlich mehr Frauen. Im Alter ist die Depression häufiger, oft aber reichen die Anfänge bis in die Jugendzeit zurück.

SHÄ: Was soll ich tun, wenn ich mich depressiv fühle?

Prof. Dr. Fritz Hohagen: Bei einer ausgeprägten Depression ist es wichtig, sich ärztlich beraten zu lassen. Dazu gehört eine gründliche Untersuchung. So kann beispielsweise eine Schilddrüsenunterfunktion die Ursache der Depression sein. Für eine derartige Beratung und Untersuchung ist zunächst einmal der Hausarzt zuständig. Der weist den Patienten weiter, wenn es nötig ist. Das Problem und ein Kennzeichen der Erkrankung ist dabei, dass der Patient sich zurückzieht und es ihm daher nicht leicht fällt, überhaupt zum Arzt zu gehen. Es ist notwendig, dass Familie und Freundeskreis ihn motivieren. Auch von daher zeigt sich die wichtige Funktion des Hausarztes, immerhin gehen 70 Prozent aller Deutschen mindestens einmal im Jahr zu ihrem Hausarzt. Allerdings sollte der Hausarzt hinreichend fort- und weitergebildet sein - sicher ist dies mit ein Grund, warum die Akademie dieses Thema aufgegriffen hat. Wie gesagt, die Depression ist nicht sichtbar, der Hausarzt muss sie sozusagen erfragen. Frühere Aktionen, etwa unser "Lübecker Bündnis gegen Depression", haben das Bewusstsein der niedergelassenen Ärzte stark verändert, und das ist auch gut so.

SHÄ: Was können Sie zur Behandlung der Depression sagen?

Prof. Dr. Fritz Hohagen: Während der Basisbehandlung sollte der Hausarzt seinen Patienten engmaschig führen, er sollte ihn aufklären, was eine Depression ist, und er sollte möglichst immer die Familie einbeziehen, denn die weiß ja auch nicht, was plötzlich mit ihrem Familienmitglied los ist. Sicher, meist entwickelt sich die Erkrankung schleichend über Wochen und Monate, es können aber auch mal nur wenige Tage sein. So, und nun liegt der Betroffene ständig im Bett, er hat keine Interessen mehr, Familie und Arbeit sind ihm gleichgültig - in so einem Fall muss man sich genau über die Therapiemöglichkeiten informieren. Große und weitreichende Entscheidungen sollten in dieser Zeit nicht getroffen werden, etwa eine frühzeitige Berentung. Der Betroffene muss zu allererst entlastet werden, der Hausarzt sollte ihn krankschreiben und der Umwelt des Erkrankten vermitteln, dass dieser im Augenblick geschont werden muss, dass er buchstäblich nicht mehr kann.

SHÄ: Und dann gibt es Medikamente?

Prof. Dr. Fritz Hohagen: Ja, glücklicherweise haben wir inzwischen gut verträgliche Antidepressiva. Bei einer schweren Depression sind sie das Mittel der Wahl. Bei einer leichten oder mittelschweren Depression ist eine Psychotherapie oft genauso wirksam. Dabei hat sich vor allem die kognitive Verhaltenstherapie als effektiv erwiesen. Sie umfasst in der Regel 40 Sitzungen, manchmal allerdings kann sie auch länger dauern. Bei den Medikamenten gibt es insofern eine Schwierigkeit, als sie immer noch auf große Vorurteile stoßen. Ich kann es nur dauernd wiederholen: Sie führen nicht zu einer Veränderung der Persönlichkeit! Sie machen den Betroffenen nicht abhängig! Vielmehr sind sie sehr gut wirksam. Wie lange behandelt werden muss? Das ist von Fall zu Fall unterschiedlich. Unbehandelt verlaufende Phasen der Depression dauern in der Regel sechs bis acht Monate. Andere Phasen dauern drei bis fünf Jahre. Diese Zeit sollte auf jeden Fall verkürzt werden. Durchschnittlich sechs Monate medikamentöse Therapie halte ich für empfehlenswert, dann ist der Patient erst einmal raus aus der Depression. Wenn der Patient erfolgreich behandelt wurde, sollte das Medikament auch in der behandlungsfreien Zeit in der Regel mindestens sechs bis acht Monate weiter eingenommen werden, um einen Rückfall zu verhindern. Bei häufigeren Phasen sollte das Antidepressivum länger gegeben werden.

SHÄ: Wie ist inzwischen das Bild eines an Depression Erkrankten in der Öffentlichkeit?

Prof. Dr. Fritz Hohagen: Eine gewisse Stigmatisierung geht sicher immer noch mit der Depression einher, das ist ebenso wie bei anderen psychischen Erkrankungen, ist aber längst nicht mehr so stark wie früher. Es hat sich gelohnt, immer wieder von neuem darauf hinzuweisen, dass die Depression jeden von uns treffen kann und dass es eine wirkungsvoll zu behandelnde Erkrankung ist. Ich stelle in den letzten Jahren eine wachsende Offenheit fest, mit der über die Depression gesprochen wird - sicher liegt es mit daran, um auch dies zu wiederholen: Die Depression ist mitten unter uns!

SHÄ: Welches sind die Schwerpunkte, welches die Ziele der Tagung im Juli?

Prof. Dr. Fritz Hohagen: Wir zeigen damit, dass wir ein wichtiges gesundheitspolitisches Thema aufgegriffen haben. Und wir wollen relevante Informationen vermitteln. Schwerpunkte - führende Experten aus Deutschland werden an dieser Tagung teilnehmen, sie werden die Bedeutung der Depression für die Gesundheitspolitik aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchten. Es wird um die neurobiologischen Entstehungsprozesse der Depression gehen, also um das, was sich im Gehirn abspielt. Wir werden auf die Interaktion zwischen psychischen und somatischen Aspekten der Erkrankung hinweisen, beispielsweise erklären, warum ein depressiv Erkrankter häufiger an einer koronaren Herzerkrankung und möglicherweise einem Infarkt leidet. Es wird um die medikamentösen ebenso wie um die psychotherapeutischen Behandlungsansätze gehen. Wir werden schließlich darlegen, wie künstlerische Darstellungen - ob in Musik, Malerei oder Literatur - als Ausdruck einer Depression verstanden werden können.

SHÄ: Was wünschen Sie sich für die Tagung?

Prof. Dr. Fritz Hohagen: Selbstverständlich wünsche ich mir eine ganz rege Beteiligung, also sehr viele Interessenten und ein entsprechend volles Haus. Ich wünsche mir eine Bereicherung für alle. Und ich wünsche mir vor allem, dass diese Jahrestagung den Betroffenen zugute kommt!

SHÄ: Besten Dank für diese interessanten Erläuterungen.

Werner Loosen, Faassweg 8, 20249 Hamburg

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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 1/2009 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2009/200901/h090104a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:
Prof. Dr. Fritz Hohagen

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Januar 2009
62. Jahrgang, Seite 17 - 19
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Karl-Werner Ratschko (V.i.S.d.P.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. April 2009

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