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ARTIKEL/392: Träume sind Garanten seelischer Gesundheit - Vortrag in Kiel (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 12/2009

Vortrag in Kiel
Träume sind Garanten seelischer Gesundheit

"Du träumst doch!" - Volker Trempler sprach im Rahmen der Reihe
"Psychoanalytische Perspektiven" des John-Rittmeister-Instituts über "Traumleben".

Von Dr. Mechthild Klingenburg-Vogel, Kiel


Sigmund Freud, dessen 1900 erschienene "Traumdeutung" eines der wichtigsten Bücher des 20. Jahrhunderts wurde, hatte den Traum als "Königsweg zum Unbewussten" bezeichnet. So lag es nahe, dass der langjährige Leiter des Ausbildungsausschusses Psychoanalyse am John-Rittmeister-Institut (JRI), Volker Trempler, seinen Vortrag dem Traumleben widmete.

Freud ordnete dem Unbewussten, in dem verdrängte, verbotene, peinliche und schuldhafte Inhalte der bewussten, logischen (sekundärprozesshaften) Kontrolle entzogen sind, eine spezielle Funktionsweise zu, den Primärprozess. Dieser Primärprozess ist eng mit Körperlichkeit, Triebhaftigkeit und Emotion verknüpft. In ihm, in der Sprache der Träume, scheinen die Gesetze der Logik, von Raum und Zeit aufgehoben, alles kann mit jedem gleichgesetzt werden, es gibt keine logischen Widersprüche. Die Mechanismen der Traumarbeit, Verschiebung, Verdichtung, Symbolisierung und sekundäre Bearbeitung, müssen durch die Assoziationen des Träumers zurückübersetzt werden, um den latenten Trauminhalt deuten zu können. Seelische Inhalte können erst durch Symbolisierung als Bild, Szene, Wort, Melodie oder Empfindung dargestellt, mentalisiert, repräsentiert, in unser geistiges Leben eingeschrieben und dadurch denkbar werden. Dies gilt besonders für die Inhalte der impliziten (prozeduralen) Gedächtnissysteme, die im Gegensatz zu den relativ spät sich entwickelnden expliziten - lexikalischen oder biographischen Systemen bereits von Geburt an aktiv sind und sich auf die für eine gesunde emotionale Entwicklung so wesentlichen frühen Bindungserfahrungen beziehen.

Aber auch wenn wir eine scheinbar sachlich-eindeutige Information erhalten, stellt sich jeder tagträumerisch eine andere, meist unbewusste Szenerie dazu vor. Weitgehend unbewusst werden so unsere Wahrnehmungen in psychisch vorstellbare Inhalte transformiert. Dies nannte der Linguist Noam Chomsky die Tiefenstruktur unserer Sprache.

Nach Freud dient die Traumarbeit dazu, unbewusste seelische Inhalte zu verkleiden. Als Träume, Fehlhandlungen oder Symptome gelangen unbewusste Traumgedanken in verschleierter Form ins Bewusstsein und stehen dem Denken auf Sekundärprozessniveau zur Verfügung. Wenn die Traumarbeit uns nicht verheimlichen würde, womit wir uns - traumatische Erfahrungen wiederholend - träumend beschäftigen, könnten wir keine Nacht schlafen. Deshalb hat Freud den Traum als "Hüter des Schlafes" bezeichnet. Träumend werden ungelöste Beziehungserfahrungen immer wieder in Angriff genommen und in einer Art "Update" verarbeitet. Träumen dient der adaptiven Regulation von Affekten und ist für das Lernen und die Gedächtniskonsolidierung von großer Bedeutung. Der Zweck des Träumens besteht also darin, unser Selbst vor der Überwältigung durch unangenehme, verbotene Impulse und Gedanken zu schützen. So ist das Träumen Garant seelischer Gesundheit und Grundlage aller Kreativität und Kunst.

Der Aktivierungszustand des Gehirns des REM-Träumers entspricht - mit Ausnahme der neuronalen Hemmung der für zielgerichtete Handlungen zuständigen Stirnlappen - dem eines hochgradig wachen Menschen! Aus Experimenten, bei denen Versuchspersonen in der besonders traumintensiven REM-Phase geweckt wurden, weiß man, dass man jede Nacht eine bestimmte Zeit lang träumen muss. Traumentzug führt zu Reizbarkeit, Konzentrationsstörungen und zu Halluzinationen bis hin zum Zerfall der Persönlichkeit. Letzteres wird bewusst intendiert, wenn Menschen im Rahmen von Folter mit massivem Schlafentzug misshandelt werden. Medikamente, die die Traumfunktion hemmen, sollten daher mit Vorsicht angewendet werden.

Winfried Bion, einer der bedeutendsten englischen Psychoanalytiker, erweiterte die Traumtheorie und formulierte eine Theorie des Denkens, das deutlich tagträumerische Aspekte aufweist. Mittels komplexer Transformationsprozesse wird die ungeheure Menge an Sinnesinformationen in subjektivierte Abbildungen unserer inneren und äußeren Wirklichkeiten umgeformt und in einem träumerischen Prozess der Überprüfung von emotionaler Bedeutung gefiltert, kategorisiert, verinnerlicht oder aber verworfen. Diese Form der Traumarbeit absorbiert also äußere Wirklichkeit, schreibt sie in innere Wirklichkeit um, ist damit quasi ein Ver-Innern, das dem Er-Innern dient. Dieser intrapsychische Prozess der transformativen Verarbeitung von emotional bedeutsamen Informationen ist bei psychotischen Patienten, bei Patienten mit Borderline-Pathologie, mit psychosomatischen oder Zwangssymptomen besonders störanfällig. Vermutlich haben auch Kinder mit ADS oder ADHS sowie Gewalttäter ein ähnliches Grundproblem: Unaushaltbare, unverstehbare Wirklichkeiten können psychisch nicht integriert werden, werden im Wahn ausgestoßen, in hektischer Nervosität abreagiert oder in Form eines psychosomatischen Symptoms in den eigenen Körper projiziert. Indem die träumerisch-kreative Perspektive Filter erschafft, die die Faktizität des Seins abpuffern und mildern, ist Träumen unabdingbar für die seelische Gesundheit.

Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 12/2009 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2009/200912/h09124a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten
Abbildung der Originalpublikation:

Volker Trempler

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Dezember 2009
62. Jahrgang, Seite 60 - 61
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Mai 2010

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