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VORTRAG/083: Suchtkranke - Recht auf Scheitern oder Recht auf Hilfe? (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 137 - Heft 3, Juli 2012
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Recht auf Scheitern oder Recht auf Hilfe?
Wer ist verantwortlich, wenn suchtkranke Menschen ihr Leben in den Sand setzen?

Von Martin Reker



Als Arzt im Suchtbereich einer psychiatrischen Klinik habe ich häufig mit Menschen zu tun, die Hartz-IV-Empfänger sind oder die sonst eher zu den Gescheiterten in unserem Staatswesen gehören. Unsere Klienten sind eben nicht nur suchtkrank, sie sind auch oft arbeitslos, haben wenig finanzielle Mittel, wenig Kontakt zu Menschen ohne Suchtproblematik, schlechten Kontakt zur eigenen Familie und häufiger als in der Normalbevölkerung auch Ärger mit der Justiz.


Selbst schuld?

Eigentlich dürfen sie sich darüber nicht beschweren: Wenn ich in meiner oberärztlichen Rolle auf die Station komme und sehe sie dort sitzen, unsere Patienten, dann kenne ich ihre Geschichten nur zu gut. Sie haben in der Trinkphase unentschuldigt am Arbeitsplatz gefehlt, sie sind angetrunken Auto gefahren, manche haben unter Suchtmitteleinfluss ihre Familien schlecht behandelt oder ihr Geld verschleudert.

Wenn ich sie nun alle so vor mir sitzen sehe, da frage ich mich: Was geht mich das an? Und da ich - wie viele andere - zunächst ein Vertreter des Selbstverantwortungsprinzips bin, würde ich sagen: Für diese Situation sind die Patienten selbst verantwortlich. Hätten sie sich an entscheidender Stelle anders verhalten, ihre Situation wäre heute vermutlich anders.

Wenn ich mich nun meinem eigentlichen Arbeitsauftrag, der Suchttherapie, zuwende, so begegne ich als Arzt einem ganz eigentümlichen Arbeitsfeld. Ich habe in meinen frühen Berufsjahren mit Epilepsiekranken gearbeitet. In diesem Arbeitsfeld haben Medikamente einen sehr hohen Stellenwert. Die Patienten wurden in unser Epilepsiezentrum nach Bethel eingewiesen. Unsere Aufgabe war es, die richtigen Medikamente zu finden, und wenn alles gut lief, bekamen die Patienten neue Medikamente, und die Anfälle waren weg.


Nicht "wollen können"

Bei Suchtpatienten ist das irgendwie anders. Die Aussicht, über eine Tablette die Krankheit dauerhaft zu heilen, habe ich nicht. Wenn ich mir meine chronischen Patienten ansehe und sie frage, warum sie wieder angefangen haben zu trinken, dann haben sie immer einen Grund: trinkende Freunde, Langeweile, Kränkungen, seelische und körperliche Schmerzen, Misserfolge, Schlaflosigkeit. Einige sind dabei, die haben schwer mit ihrem Suchtdruck gekämpft, haben versucht durchzuhalten, und sind dann in einem schwachen Moment eingeknickt. Aber bei den meisten bin ich unsicher, ob sie eigentlich überhaupt mit dem Suchtmittelkonsum aufhören wollen. Oder können? Oder wollen können? Können sie nicht, oder wollen sie nicht? Oder können sie es nicht wollen?

Ich denke inzwischen, dass die meisten es nicht wollen können, und meine Aufgabe wäre es, ihnen zu zeigen, wie man es schaffen kann, anders können zu wollen. Um Ihnen besser verständlich zu machen, was ich meine, möchte ich Ihnen ein Beispiel berichten:

Herr W. ist 44 Jahre alt. Er ist bei seinen Eltern zusammen mit seinem drei Jahre älteren Bruder aufgewachsen. Der Vater, ein strenger, aber nicht bösartiger Mann, hat früher auch schon zu viel getrunken, war deswegen aber nie in Behandlung. Er selbst hat das Trinken bei der Bundeswehr angefangen. Da haben sie abends und am Wochenende immer gesoffen. Bei einer Wochenendtour mit drei Freunden sind sie dann auf dem Weg zurück von der Disko schwer verunglückt, sein bester Freund, der einzige Sohn der Nachbarsfamilie, ist dabei gestorben. Unser Patient hatte auf dem Beifahrersitz gesessen, der Fahrer war angetrunken, alle anderen auch. Nach der Bundeswehr hatte er eine Lehre als Dachdecker gemacht. Er war auch ein guter Dachdecker. Aber als er das zweite Mal morgens mit einer, "Fahne" am Arbeitsplatz erschienen war, wollte sein Chef ihn nicht weiter beschäftigen. Dabei hatte er morgens gar nicht mehr getrunken. Er feierte eben nur gerne. Seit dieser Zeit wechselten sich gute und schlechte Zeiten ab. Während der Arbeit hatte er nie getrunken, nur abends und am Wochenende. In den letzten Jahren hatte er - in Zeiten der Arbeitslosigkeit - auch angefangen, tagsüber zu trinken. Er hatte auch nur noch Arbeit bei Zeitarbeitsfirmen gefunden. Nachdem er aber vor vier Jahren seinen Führerschein bei einer Trunkenheitsfahrt verloren hatte, war es für ihn sehr mühsam, die oft weiter entfernten Baustellen zu erreichen, die ihm vermittelt wurden. Er fühlte sich auch nicht mehr so belastbar wie früher. Seine Frau, die er vor zehn Jahren auf einem Schützenfest kennen gelernt hatte, hatte letztes Jahr jemand anderes kennen gelernt und ihn mit der gemeinsamen, nun sechsjährigen Tochter verlassen. Nun war er nach einem Treppensturz über die Notfallambulanz erstmals auf einer Entgiftungsstation gelandet. Eigentlich konnte er sich nicht vorstellen, dass er da schon hingehört. Er wäre lieber auf die allgemeinmedizinischen Station gekommen.

"Eine dauerhafte Abstinenz ist für unseren Patienten völlig unvorstellbar"

Im Gespräch wird schnell deutlich, dass der Mann kein Sympathieträger ist. Er wirkt eher etwas mürrisch, schon die Kontaktaufnahme fällt schwer. Seinen Händen sieht man an, dass er auch schwer arbeiten kann, sein Gesicht und sein Bauch geben schon vor der körperlichen Untersuchung Hinweise darauf, dass er über viele Jahre viel gesoffen und geraucht hat.

Das Gespräch mit ihm macht deutlich, dass er nicht besonders abstinenzmotiviert ist. Arbeit hat ihn immer vom Trinken abgehalten, auch die Anwesenheit seiner früheren Ehefrau. Aber schon wenn er abends alleine zu Hause ist, weiß er gar nichts mit sich anzufangen, außer Bier zu trinken, mit Leuten zusammen zu trinken, Karten zu spielen oder fernzusehen. Bundesliga am besten. Er ist Werder-Fan. Ein Leben ohne Alkohol kann er sich nicht vorstellen. Er hat es nie erlebt, wenigstens nicht als Erwachsener. Auch nicht bei seinem Vater. Abends Bier zu trinken ist für ihn so normal wie Toast zum Frühstück oder Seife beim Händewaschen.

Kommen wir zu unserer Ausgangsfrage zurück: Wie kann dieser Mensch aufhören wollen? Will man ihn wegen seiner Alkoholproblematik behandeln, müsste man ihn zunächst dafür gewinnen, eine Entscheidung zu treffen. Eine Entscheidung gegen den Alkohol. Sonst braucht man mit der Behandlung gar nicht erst anzufangen.

Im Gespräch zeigt sich schnell: Eine dauerhafte Abstinenz ist für unseren Patienten völlig unvorstellbar. Dennoch merken Sie vielleicht, dass Sie durch Ihre respektvolle Art, um die Sie sich auch hier bemüht haben, einen Draht zu ihm bekommen haben, und er erklärt sich schließlich bereit, wenigstens eine gewisse Zeit einmal auf Alkohol zu verzichten. Sie einigen sich nach kurzen Verhandlungen auf vier Wochen. Eine längere Dauer kann er sich nicht vorstellen. Aber die vier Wochen meint er offenbar ernst. Aber dann fragt er Sie: Was soll ich in den vier Wochen mit meiner Zeit machen? Auf diese Frage sind Sie vielleicht nicht so gut vorbereitet. Eine Langzeittherapie wäre vermutlich das Beste. Das kann er sich aber nicht vorstellen, und eigentlich ist er ja auch gar nicht sicher abstinenzmotiviert. Arbeit oder irgendeine Beschäftigung würde sicher etwas helfen, aber er will nicht jede Arbeit machen, und er will Geld dabei verdienen. Das ist so kurzfristig kaum zu machen. Sie erfahren in einem ausführlicheren Gespräch davon, dass er früher gerne geangelt hat und dass irgendwo auch noch ein Freund von ihm sitzt, der kein Alkoholproblem hat, mit dem er früher immer an den Forellenteich gefahren ist. Sie können ihn schließlich motivieren, die Anschrift herauszusuchen, Kontakt zum Freund aufzunehmen und sich mit ihm zu verabreden. An diesem Punkt sind Sie vielleicht etwas erleichtert, dass Sie in dieser schwierigen Situation doch noch einen konstruktiven Anknüpfungspunkt gefunden haben, aber das war auch sehr aufwendig und mühsam. Und Sie merken vielleicht auch: Eigentlich müsste ich da jetzt dranbleiben, das ist noch kein Selbstläufer. Und so bestellen Sie ihn für eine Woche später noch einmal ein.

Als er aus der Tür raus ist, fragen Sie sich: War das jetzt Suchttherapie? Eigentlich haben Sie mit Ihrem Klienten eine geschlagene Stunde darüber diskutiert, was er mit seinem unbeschäftigten Tag anfangen kann. Aber wenn es wieder gut laufen soll, dann braucht unser Patient mehr als seinen Freund zum Angeln. Das ist ein guter Anfang. Aber er brauchte auch wieder eine Arbeit, er brauchte wieder eine Partnerin, man müsste ihm bei der Schuldenregulierung helfen und ihn körperlich wieder etwas aufbauen. Ein großes Projekt. Lohnt sich das? Hat er das verdient? Hat er nicht selbst sein Leben in den Sand gesetzt?


Das Recht auf Scheitern

Dass man das unterschiedlich sehen kann, erfährt man am eindrücklichsten, wenn man etwas in der Welt unterwegs ist. Zum Beispiel in den USA. In den USA würde vermutlich kaum jemand auf die Idee kommen, sich hier psychosozial zu engagieren. Der amerikanische Journalist Glenn Beck des US-Fernsehsenders Fox sprach in diesem Zusammenhang von einem "Recht auf Scheitern".

Wer alternative Vorstellungen von Gesundheit und sozialer Verantwortung kennen lernen möchte, kann interessante Anregungen aus der aktuellen amerikanischen Debatte um die Reform des dortigen Gesundheitswesens mitnehmen. Aus der deutschen Perspektive bleibt völlig unverständlich, warum es einen so großen Widerstand aus bestimmten Kreisen der Politik und Bevölkerung dagegen gibt, dass für alle eine umfassende Gesundheitsversicherung eingeführt wird. Ist es denen egal, wenn ärmere Menschen unversichert und damit bei Krankheit gegebenenfalls unbehandelt bleiben? Tatsächlich muss man eigene Vorstellungen und Weltbilder beiseitelegen und mit Interesse und Neugier auf die Haltung dieser Amerikaner zugehen, um sich das verständlich zu machen. Freiheit bedeutet für diese vor allem, dass es so wenig Staat wie möglich geben sollte, der regulierend in das Leben der Bürger eingreift. Viele meinen sogar, dass man außer für die Verteidigung eigentlich überhaupt keinen Staat brauchte. Alles andere kann man selbst untereinander regeln. Umgekehrt bedeutet diese Form von Freiheit, dass jedem in diesem Sinne freien Amerikaner ein hohes Maß an Selbstverantwortung zugeschrieben wird. Jeder soll die Möglichkeit haben, was aus seinem eigenen Leben zu machen, unabhängig von Herkunft und Religion. So kann jeder vom Tellerwäscher zum Millionär werden, aber jeder kann natürlich auch scheitern. Wenn man reich wird durch eigene Arbeit, wird einem das niemand neiden, ganz im Gegenteil: Viel Geld zu haben ist ein Indikator dafür, dass man aus seinem Leben was gemacht hat. Man kann stolz darauf sein und darf das nach außen zeigen. Wer aber scheitert, darf sich nicht beklagen. Die Gesellschaft ist nicht dafür zuständig, allgemeine Lebensrisiken abzudecken. Dafür ist jeder selbst verantwortlich. In der Chance, zum Millionär zu werden, steckt auch das Risiko, daran zu scheitern. Das muss nicht ehrenrührig sein. Aber es gibt keinen sozialen Anspruch auf Hilfe. Für die Konsequenzen des eigenen Handelns ist man selbst verantwortlich. Es gibt das Recht, sehr reich zu werden (niemand hielte das für "ungerecht"), aber es gibt auch das Recht, zu scheitern.


Recht auf Krankheit

Polarisiert man diese amerikanische Position mit der deutschen, so könnte man in Deutschland - und manche tun das - von einer Vollkaskogesellschaft sprechen. Egal, wie riskant man sich verhält, am Ende wird immer die Gemeinschaft mit ihren sozialen Sicherungssystemen einspringen, um die heftigsten Konsequenzen des Scheiterns abzufangen. Ich kann mir beim Free Climbing an der Felswand das Rückgrat brechen, ich kann meine Firma in den Sand setzen, ich kann saufen und rauchen, wie ich will, immer springt am Ende der Wohlfahrtsstaat ein und finanziert meine medizinische Behandlung oder finanziert mir die Existenzgrundlage. Behandelt, gefüttert und beherbergt wird jeder auf Kosten der sozialen Sicherungssysteme.

In Deutschland spricht man in der Regel weniger vom Recht auf Scheitern, sondern vom Recht auf Krankheit. Im Jahre 2000 hat das Bundesverfassungsgericht einem psychosekranken Menschen mit schweren rezidivierenden psychotischen Phasen zugebilligt, dass ihn in gesunden Intervallen niemand zwingen darf, neuroleptische Medikamente zur Psychoseprophylaxe einzunehmen, selbst wenn das einen chronisch rezidivierenden Verlauf stabilisieren könnte. Solange er überschaut, was er tut, und einen freien Willen hat, darf er laut Grundgesetz krank werden, wenn er das nicht verhindern will. Was in diesem Kontext meist nicht diskutiert wird, ist die Frage, wer dafür haftet. Jeder psychisch Kranke kann immer wieder seine Medikamente absetzen, jeder Suchtkranke nach jeder Entgiftung immer wieder gleich rückfällig werden, ohne dass er beider Finanzierung der Folgebehandlung dafür in Haftung genommen würde.

"In Deutschland spricht man in der Regel weniger vom Recht auf Scheitern, sondern vom Recht auf Krankheit"

Das Grundrecht, krank zu sein bzw. zu bleiben, und die Frage, wer dafür haften muss, wenn ich mich der Krankheit widerstandslos hingebe, sind eigentlich zwei Fragen. Kostenträger unternehmen immer mal wieder einen Anlauf, um kranke Menschen stärker für ein krank machendes Verhalten verantwortlich zu machen, sehen sich aber in der Regel einer geschlossenen Front gerade aus dem psychosozialen Bereich gegenüber, die die Einführung des Schuldprinzips in der Refinanzierung des Gesundheitssystems unmöglich finden. Tatsächlich würde sich unsere Gesellschaft radikal verändern, wenn bei jeder auftretenden Erkrankung gefragt würde, was die einzelne Person versäumt hat, um sich die Gesundheit zu erhalten. Übermäßiges Essen, Alkohol und Rauchen, mangelnde Bewegung oder Risikosportarten könnten dann eine Begründung sein, warum eine Krankenversicherung eine vollständige Kostenübernahme der Behandlung einer Folgeerkrankung ablehnt. Ob wir uns das wünschen wollen?

Letztlich geht es um die Frage, wer der Maßstab für die gesellschaftlichen Verabredungen ist: die Starken oder die Schwachen. Die Idee vom Recht auf Scheitern ist meistens eine Idee der Starken, derer, die davon ausgehen, dass sie im Leben erfolgreich sein werden. Der Stärke hat oft wenig Verständnis für den Schwachen, es sei denn, ihm/ihr wäre ein echtes, d.h. schicksalhaftes und unverschuldetes Unglück zugestoßen. [...] Aber wer einfach nichts schafft, kann auch keine Ansprüche an die Gemeinschaft stellen.

Dem steht die Idee von der Menschenwürde aller Menschen gegenüber. Menschenwürde bedeutet, dass jeder Mensch, egal, wie faul und kriminell er oder sie ist, ein Recht auf eine menschenwürdige Unterkunft, auf menschenwürdige Kleidung und auf menschenwürdige Ernährung hat, auch auf einen respektvollen Umgang. Diese existenzielle Grundsicherung ist im deutschen Sozialstaat gegeben. Manche nennen es die "soziale Hängematte". Die Amerikaner nennen es, ja, Sozialismus. Sie meinen damit nicht den Sozialismus Marx'scher oder sowjetischer Prägung, sondern die staatliche soziale Fürsorge, die ihren Anspruch allein in der staatlich garantierten Menschenwürde hat.

Ich bin froh, dass ich in Deutschland leben darf. Ich möchte hier keine amerikanischen Verhältnisse. Psychisch Kranke, die in der Bronx rumvegetieren, weil sie keinen öffentlichen Hilfeanspruch haben. Strafgefangene, die in den Haftanstalten wie Tiere gehalten werden. Privatisierte Abschiebeknäste. Dabei sitzt niemand von ihnen umsonst.

Mag sein, dass die Justiz manchmal zu lasch ist. Aber ich mag das Prinzip, immer wieder das Positive im Menschen entdecken zu wollen, um das zu fördern und weiterzuentwickeln. Chancen sehen. Die Sozialarbeiter nennen das wohl "Ressourcenorientierung". In der Arbeitsmarktpolitik hat sich die Formel vom "Fördern und Fordern" etabliert.

Fehlverhalten braucht Konsequenzen. Gleichzeitig ist niemand nur böse. Es kommt darauf an, die Ressourcen in einer Person zu erkennen und sie weiterzuentwickeln. Gesellschaft muss dann so organisiert sein, dass es sich auch lohnt, sich anzustrengen und sich "anständig" zu verhalten. Und so muss nach meiner Überzeugung auch der Umgang mit suchtkranken Menschen angelegt sein. Es gehört zur Würde des Menschen, dass es immer noch eine letzte Chance geben sollte, das Blatt doch noch einmal zu wenden.

Was immer sie von biblischen Gleichnissen halten. Ich bin damit groß geworden. Ich mochte immer schon das Gleichnis vom verlorenen Sohn: Und wenn einer von "unseren" Systemsprengern, einer von den kaputten Typen hier aus der Fußgängerzone, an dessen Chance man nicht mehr geglaubt hat, noch einmal die Kurve kriegt und es dann auch hinbekommt, ist das toll.

Die Möglichkeit, dass das gelingen kann, sollte man nie aus dem Auge verlieren. Manche sehen eher die Chancen, andere sehen eher die Gefahren und die Risiken. Ich sehe eher die Chancen und fahre gut damit. Nach zwanzig Jahren Arbeit mit chronisch Suchtkranken.

Es gibt kein Recht auf Scheitern. Nicht deswegen, weil Scheitern in Deutschland verboten wäre. Jeder "darf" auch scheitern. Aber jeder soll darauf hoffen, vielleicht sogar sich darauf verlassen können, dass es noch einmal eine neue Chance gibt. Immer.


Dr. Martin Reker,
Psychiater und Psychotherapeut, ist leitender Arzt der Abteilung Abhängigkeitskranke der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel. Der Artikel ist die gekürzte Fassung seines Vortrags auf dem 4. Fachtag "Begegnung mit süchtigen Klienten - eine unvermeidbare Herausforderung zum gemeinsamen Handeln" in Leipzig, 1./2. März 2012.
E-Mail-Kontakt: Martin.Reker@evkb.de

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 137 - Heft 3, Juli 2012, Seite 42 - 44
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. August 2012