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VORTRAG/085: 50 Jahre Rodewischer Thesen - Bedeutung für eine Psychiatrie ohne Einrichtungen (Klaus Dörner)


Soziale Psychiatrie Nr. 144 - Heft 2, April 2014
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Der Geist von Rodewisch
50 Jahre Rodewischer Thesen und ihre Bedeutung für eine Psychiatrie ohne Einrichtungen

Von Klaus Dörner



Als einigermaßen gesamtdeutscher Zeitzeuge (ich war seit 1955 mindestens einmal jährlich im DDR-Bereich) ist für mich die Lektüre der Rodewischer (und auch der folgenden Brandenburger) Thesen immer wieder atemberaubend - gemessen daran, was 1963 in der alten BRD denkmöglich war. Natürlich war damals eine Psychiatrie ohne Einrichtungen auch weltweit noch sozialromantisch oder schlicht undenkbar (am ehesten waren die skandinavischen Länder schon auf dem Weg zur Inklusion). Gerade deshalb wirkte der Geist des »Rodewischer Parlaments der psychiatrisch Tätigen« 1963, als ich »Sozialpsychiatrie« noch nicht mal buchstabieren konnte, zwar in vielem konventionell, jedoch wenigstens in einigen Thesen so erfrischend unkonventionell, gab es hier und da so freie, patienten- und sozialraumorientierte sowie zukunftsträchtige Geistesblitze, dass wir heute noch davon lernen können.

Rodewischer Geistesblitze ...

Im Dienste des Gesamtthemas dieser Jahrestagung beschränke ich mich hier - natürlich einseitig - auf einige dieser Geistesblitze:

1. Akut wie chronisch psychisch Kranke sind gleichermaßen zu einem »sozialverantwortlichen wie frei verfügbaren Leben« zu integrieren. In der alten BRD dauerte es nach der Psychiatrie-Enquete von 1975 bis zu den »Empfehlungen der Expertenkommission« von 1988, um systematisch von den Bedürfnissen der Akutkranken bis zu denen der chronisch Kranken durchzudringen, denn - wie bekannt - lieben Mediziner die Akutkranken, weil heilbar, und hassen die chronisch Kranken, weil unheilbar.

2. Möglichst vom ersten Behandlungstag an beginnt daher nicht nur die Therapie, sondern auch die Rehabilitation (Komplextherapie genannt), nicht nur Psychopharmaka, sondern auch Gruppenpsychotherapie, Soziotherapie und natürlich Arbeitstherapie beinhaltend.

3. Von den überwiegend offenen Stationen geht es möglichst schnell in die tagesklinische und/oder ambulante Poliklinikbetreuung durch ein beruflich gemischtes »Kollektiv« eines sozialräumlich in Sektoren aufgeteilten Versorgungssystems.

4. Neben solchen zum Teil damals schon mutigen Schritten der Deinstitutionalisierung werden sogar - vielleicht ironisch gegenüber der Staatsdoktrin - einige Elemente der Ent-Pathologisierung (oder Ent-Medizinisierung gewagt, so die Forderung der Erforschung der »so genannten Krankheiten« oder der »so genannten hypothetischen Defekte«, ein Zungenschlag, der mir erst bei der jetzigen Lektüre aufgefallen ist. Und

5. ist die Bedeutung der Arbeit für psychisch Kranke für mich besonders aufregend: Während in der alten BRD heute noch chronisch Kranke oft am ambulant betreuten Wohnen scheitern, weil wir nicht für Arbeit gesorgt haben und weil unsere Marktgesellschaft im Grundgesetz kein Recht auf Arbeit kennt, gehen die Rodewischer von einem Menschenbild aus, wonach schon das subjektive Erlebnis, wieder tätig zu sein und etwas zu schaffen, das seinen Wert auch für die Gesellschaft hat, von Bedeutung ist. Das hatte zur Folge, dass (in einem gewissen Umfang) die psychiatrisch Tätigen, die Beschäftigung eines psychisch Kranken in einem Betrieb auch gegen deren Leitung durchsetzen konnten, woraus später der Witz entstanden ist, dass dies zum wirtschaftlichen Niedergang der DDR beigetragen habe!

... und ihr Einfluss auf die Praxis

Warum sich dies - trotz vieler lokaler Versuche - nicht flächendeckend durchsetzen konnte: (1) »Die DDR war ein armes Land« (Klaus Weise), (2) eine eher enge, am naturwissenschaftlichen Fortschritt orientierte als geschichtsphilosophische Menschenbildorientierung des Staates, (3) ein tief sitzendes Misstrauen gegenüber allen lokalen Bestrebungen von Bürgerselbsthilfe sowie (4) im Unterschied dazu die 68er-Bewegung als zusätzliche Schubkraft, wovon wir am besten profitieren konnten.

»Die Vermarktlichung des Helfens ist vielleicht der größte Flurschaden der Moderne«

Wenn man mit Recht sagt, dass sich Rodewisch am besten noch in Leipzig ausgewirkt hat, wo auch die Sektorisierung noch am weitgehendsten gelungen ist, dann hat das wohl auch mit den lokal agierenden Personen zu tun, symbolisiert in Klaus Weise für das »medizinische Bein der Psychiatrie« und Achim Thom für das »philosophische Bein« der Psychiatrie. Daher ist es auch als eine Spätfolge von Rodewisch anzusehen, wenn nach der Wende ausgerechnet in Leipzig der Sozialarbeiter Georg Pohl (aus der »Anstalt Dösen«) durch Gründung des 'Vereins Nr. 3 im Stadtregister' mit als einer der ersten in Deutschland einen ganzen Stadtteil (Stötteritz) mit der Organisation des bürgerschaftlichen Engagements für die Eingliederung von psychisch Kranken inklusionsfähig gemacht hat. Schließlich soll aber auch nicht vergessen werden, dass die schon erwähnten Brandenburger Thesen einige Jahre später im Rahmen des dortigen Psychiatrie»Parlaments« auch davon profitierten, dass ebenfalls erstmals ein paar Fachkrankenhäuser zu ihren Delegationen auch einige Psychiatrie-Erfahrene zählten.

Lernfeld Rodewisch

Und jetzt noch wenigstens ganz kurz zum zweiten Teil meines Themas, der Rodewisch Bedeutung für »eine Psychiatrie ohne Einrichtungen«: Denn seit die UN-Behindertenrechtskonvention mit ihrem Kernbegriff der Inklusion uns mit einem gesamtgesellschaftlichen Bild des Zieles unseres Weges erlaubt, fällt es uns auch leichter, die Geburtsfehler der Psychiatrie zu erkennen und vielleicht auch zu ändern.

Und zwar wurde die Psychiatrie von ihren Pionieren um 1800 durchaus realitätsangemessen gegründet, nämlich als Spannungsfeld zwischen Medizin einerseits und Philosophie (Anthropologie) andererseits. In der Folge änderten sich aber die historischen Zeitumstände des 19. und auch noch 20. Jahrhunderts so ungünstig, dass es zu den Geburtsfehlern kam, an denen wir überwiegend bis heute laborieren (z.B. mein »Bürger und Irre«, 1969):

1. Die Institutionalisierung des Helfens führte zur fabrikanalogen Ausgrenzung und Entwertung der »Unvernünftigen« bis hin zu den Folgen des »tödlichen Mitleids«; vor allem sollten sie die Leistungsfähigen nicht stören, sodass wir Psychiatrie-Profis sie von allen Grundrechten am meisten im Grundrecht auf Arbeit behindert haben. Hier ist die Sozialraum- und Integrationsperspektive angesagt.

2. Die Professionalisierung des Helfens war zunächst segensreich, bis sie zum Monopol führte; hier waren vor allem die chronisch psychisch Kranken die Opfer, denn »nur Bürger können andere Bürger (dauerhaft im Alltag) integrieren«, weil Helfen nur im Gleichgewicht von Technik und Zeit menschengemäß ist.

3. Die Pathologisierung/Medizinisierung des Helfens kippt das notwendige Gleichgewicht zwischen medizinischer und philosophischer (anthropologischer) Perspektive und verdrängt alle übrigen Erklärungs- und Verstehensmodelle.

4. Die Individualisierung des Helfens vergisst, dass Menschen zunächst Beziehungswesen sind, bevor sie auch noch Individuen sein können. Hier ist die Angehörigen-Perspektive, die trialogische Bewegung und damit auch die Inklusion zu kultivieren.

5. Die Vermarktlichung des Helfens ist vielleicht der größte Flurschaden der Moderne; denn so förderlich der Markt bei der auch industriellen Güterproduktion sein mag, so wenig haben Markt, Konkurrenz, Profit oder Rendite in helfenden Beziehungen zu suchen, weil das Schielen nach den profitabelsten Patienten jeden Bürger-Profi-Mix zerstört und jede Gesellschaft entsolidarisiert. Weil aber der Markt die größte politische Gestaltungsmacht hat, ist es immerhin bemerkenswert, dass in Dänemark das Parlament und der Staat sich zu dem autoritären Eingriff entschlossen haben, ein befristetes Pflegeheimbauverbot zu erlassen, weil selbst das Grundrecht der unternehmerischen Berufsfreiheit hinter dem Gemeinwohlprinzip zurückzutreten habe, wie es auch in Deutschland die Verfassung und das Bundesverfassungsgericht verlangt; nur aufgrund dieses Eingriffs hat Dänemark heute europaweit das freieste Wunsch- und Wahlrecht für Pflegebedürftige durchgesetzt.

Man sieht: Der Rodewischer Geist ist durchaus nicht überall vorbildlich; jedoch bei der Ent-Marktlichung des Helfens, beim Recht auf Arbeit und vielleicht auch bei der Ent-Medizinisierung des Helfens können wir von ihm lernen.

Und wer all das zu einseitig und übertrieben findet oder sonst wie nicht glauben mag, sei auf die meisten der übrigen Beiträge zur Erfurter DGSP-Jahrestagung und vor allem auf den »Denk-Zettel« Nr. 4 des DGSP-nahen Denkzentrums der »Soltauer Impulse« verwiesen.


Prof. Dr. Dr. Klaus Dörner (80), Psychiater, war von 1980 bis 1996 ärztlicher Direktor der Westfälischen Klinik Gütersloh. Bei dem Artikel handelt es sich um seinen Beitrag anlässlich der DGSP-Jahrestagung »Psychiatrie ohne Einrichtungen« 2013 in Erfurt.

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 144 - Heft 2, April 2014, Seite 16 - 17
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Juli 2014