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BERICHT/035: Am Lebensrand - der assistierte Suizid ... Bundestags-Entscheidung über Sterbehilfe steht kurz bevor (SB)


Bundestags-Entscheidung über Sterbehilfe steht bevor

Sieg von Ignoranz und ideologischer Verblendung ist nicht ausgeschlossen

Von Christa Schaffmann - 26. Februar 2023


Am Sonntag (26.02.2023) vor genau drei Jahren hat das Bundesverfassungsgericht unmissverständlich und eindeutig ein Recht des Menschen auf Inanspruchnahme professioneller Suizidhilfe betont. Wo stehen wir heute und welche Optionen hat der Bundestag, wenn er in den nächsten Wochen seine Entscheidung zwischen absehbar zwei Gesetzentwürfen treffen wird? Antworten darauf gab der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS), RA Prof. Robert Roßbruch, auf einer Pressekonferenz in Berlin.


Es gebe eine nicht gerade kleine Gruppe von Bundestagsabgeordneten aus allen Fraktionen, die nichts anderes im Sinn hat, als eine Neuauflage des seinerzeit im Karlsruher Urteil gekippten verfassungswidrigen Gesetzes, so Roßbruch. Gleichzeitig formiere sich derzeit eine Gegen-Gruppe, die zwei Gesetzentwürfe zu einem - in der Tendenz liberalen - verschmelzen will. Dabei handelt es sich um den Entwurf von Helling-Plahr/Sitte et al. sowie Künast/Keul et al. Zu dem Versuch, die eigenen Entwürfe im Interesse besserer Chancen zu verschmelzen, hatten in den zurückliegenden Monaten sowohl die DGHS als auch einige Sachverständige geraten. Auszuschließen ist ein Votum für den Entwurf von Castellucci et al. dennoch nicht. Dieser würde die Wiedereinführung eines § 217 Strafgesetzbuch bedeuten und damit organisierte Freitodbegleitungen verbieten abgesehen von eng definierten Ausnahmen. Das sei völlig indiskutabel, so Roßbruch. "Es gehört schon viel Ignoranz, Beratungsresistenz und ideologische Verblendung dazu, eine bereits als verfassungswidrig und nichtig erklärte Strafrechtsnorm ein zweites Mal gesetzlich implementieren zu wollen." Die nächsten Verfassungsbeschwerden seien programmiert. Auf die Frage von "Schattenblick", wie Menschen, die vorhatten, Ende dieses Jahres oder zu einem noch nicht festgelegten Termin aus dem Leben zu scheiden, darauf reagieren, erklärt der DGHS-Präsident, es gebe tatsächlich Sorgen, und die gewachsene Zahl von Anträgen habe nicht zuletzt auch mit der Angst zu tun, demnächst wieder keine Chance mehr auf eine Freitodbegleitung zu haben. Allerdings hält Roßbruch es auch für möglich, dass sich das Bundesverfassungsgericht einen solchen Affront des Parlaments nicht bieten lässt und es sofort zu einer einstweiligen Anordnung kommt, wodurch das Gesetz schwebend unwirksam würde.

Selbst bei einer Mehrheit für die liberale Variante dürfte es Roßbruch zufolge eine Pflicht-Beratung geben, die er äußerst kritisch sieht. Zum einen, weil die dafür nötige Beratungsstruktur ja erst einmal aufgebaut werden muss. Die Frage, was in der Zwischenzeit mit den Menschen geschehen soll, die eine organisierte Freitodbegleitung für die ihrem Selbstbild am ehesten entsprechende Option halten und womöglich auch nicht die Zeit haben, ein Jahr oder länger zu warten, ist bisher unbeantwortet geblieben. Denkbar ist, dass das Inkrafttreten des Gesetzes bis zur Schaffung einer Beratungsstruktur verschoben wird. Auch eine Übergangslösung, bei der zunächst alles so bliebe wie gegenwärtig, ist nicht auszuschließen.

Die DGHS, die sich als eine Bürgerrechts- und Patientenschutzorganisation versteht, hat ein "Weißbuch Freitodbegleitung" vorgelegt, in dem die Fälle aus den Jahren 2020 und 2021 beschrieben werden. Darin wird deutlich, dass viele Freitodwillige bereits jahrelang Mitglied der DGHS waren, bevor sie ihren Antrag stellten. Es handelt sich bei diesen Menschen nicht um Ad-hoc-Suizidenten. Die große Mehrheit ist zwischen 70 und 99 Jahre alt. "Wir haben nicht zu bewerten, warum ein Mensch nicht mehr leben will", betont Roßbruch und beruft sich dabei auf das Karlsruher Urteil. "Wir haben nur zu bewerten, ob der Entschluss wirklich frei und wohlerwogen zustande gekommen und von einer gewissen Konstanz getragen ist."

Thesen der Befürworter starker Reglementierung widerlegt

Die DGHS nutzte die Pressekonferenz auch, um der von einigen Parlamentariern und Sachverständigen verbreiteten Sorge, dass die Freitodbegleitung durch das Karlsruher Urteil ohne eine enge Regulierung zur Normalität werden könne und Menschen unter Druck gerieten, früher als sie es eigentlich wünschen aus dem Leben zu scheiden. Die Fallzahlen der DGHS widerlegen das. Sie sind moderat steigend. 2021 konnten 120 Anträge bewilligt werden. 2022 waren es 227 von insgesamt 630 Anträgen. Die auf den ersten Blick große Differenz zwischen Anträgen und Freitodbegleitungen erklärt sich so: Die Anträge werden von Psychologinnen und Psychologen gründlich geprüft, manche sind unvollständig, manche weisen Ambivalenzen hinsichtlich des Sterbewunsches auf. In einigen Fällen sterben die Antragsteller bevor die Bearbeitung abgeschlossen ist, in anderen wird der Antrag schon mal gestellt, ohne den Todeszeitpunkt bereits bestimmen zu wollen.

Die Beweggründe der Antragsteller verteilten sich auf schwere Erkrankungen, auf Lebenssattheit oder einen Leidensdruck aufgrund multipler Erkrankungen. 24,67 Prozent gehörten 2022 der Altersgruppe zwischen 70 und 79 Jahren, 37 Prozent der Altersgruppe zwischen 80 und 89 Jahren und 18,6 Prozent der zwischen 90 und 99 Jahren an. Die älteste Antragstellerin war mit 101 Jahren lebenssatt. Die steigenden Fallzahlen erforderten eine personelle Aufstockung der DGHS nicht nur in der Geschäftsstelle. Derzeit kooperiert sie zudem deutschlandweit mit 16 Teams bestehend aus je einem Juristen und einem Arzt. Es sind mehrheitlich erfahrene, oft schon ältere Mediziner.

Ein liberaler Umgang mit Freitodbegleitungen, wie er seit 2020 existiert, führt offenbar nicht zu einer wesentlich höheren Rate von assistierten Suiziden. Historische und kulturelle Unterschiede scheinen einen größeren Einfluss auf den Umgang von Menschen mit dem Freitod zu haben als die jeweilige Gesetzgebung. Dafür sprechen auch die um ein Vielfaches höheren Fallzahlen in der Schweiz. Die Option der Freitodbegleitung ist ein starkes Bedürfnis in der schweizer Bevölkerung, was auch die hohen Mitgliederzahlen in Sterbehilfeorganisationen (allein bei EXIT 154.118 Mitglieder) zeigen. 2022 nahmen 1.125 EXIT-Mitglieder Sterbehilfe in Anspruch, und das bei nur 8.773 Millionen Einwohnern gegenüber Deutschland mit 84.271.000 Einwohnern.

Noch eine weitere Mähr wird durch die statistischen Erhebungen der DGHS widerlegt: Es sind nicht vorrangig Menschen mit niedrigem Bildungsniveau, die sich eine Freitodbegleitung wünschen, und die wegen ihrer fehlenden Kenntnisse zwingend der Beratung bedürften. 38 Prozent haben einen Hochschulabschluss, 23 Prozent einen Realschulabschluss, 15 Prozent ein Abitur und 20 Prozent (altersbedingt) einen Volksschulabschluss.

Noch einmal betonte der DGHS-Präsident, dass die Organisation eine erneute Gesetzgebung nicht für zwingend erforderlich hält. Dies habe seinerzeit auch das Bundesverfassungsgericht so gesehen. Für Ärzte gebe es in Deutschland schon jetzt einen klaren und eindeutigen rechtlichen Rahmen. Auf Nachfrage von "Schattenblick", ob denn genug Ärzte bereit seien Freitodbegleitung zu leisten, teilte Roßbruch mit: "Wir haben keine Stellenausschreibung gemacht; es haben sich Ärzte bei uns gemeldet. Überwiegend handelt es sich um ältere erfahrene Mediziner, aber auch jüngere Ärzte sind dabei.

Bevölkerung noch nicht gut genug informiert

Roßbruch wirbt nicht für eine Freitodbegleitung. Die DGHS macht jedoch die Erfahrung, dass viele Menschen noch nicht genug darüber wissen, was in Deutschland seit drei Jahren möglich ist - dass man z.B. nicht in die Schweiz fahren muss, um selbstbestimmt sterben zu dürfen, dass Ärzte keine standesrechtlichen Konsequenzen mehr fürchten müssen (wie noch vor einigen Jahren), aber auch nicht dazu gezwungen werden dürfen, und dass zwischen 65 und 75 Prozent der Deutschen - egal ob sie sich selbst eine Freitodbegleitung wünschen - den Zugang zu einer professionellen Freitodhilfe befürworten. Die Wissenslücken führen auch dazu, dass Menschen nicht ahnen, was bei der bevorstehenden Bundestagsentscheidung auf dem Spiel steht. Zwar haben bereits 15.000 Menschen die online-Petition "Legale Freitodhilfe. Kein neuer Verbotsparagraf 217 StGB" unterschrieben, was aber längst nicht an die genannten positiven Umfragewerte herankommt.

Politische Aktionen mit Partnern geplant

Mit Blick auf die bevorstehende Abstimmung im Bundestag werden Bundestagsabgeordnete in den nächsten Tagen von der DGHS zusammen mit Dignitas Deutschland, dem Verein Sterbehilfe und der Giordano-Bruno-Stiftung angeschrieben. "Viele, die 2015 in namentlicher Abstimmung ein verfassungswidriges Gesetz beschlossen haben, hegen anscheinend die Absicht, dies 2023 erneut zu tun", erklärte Roßbruch und erinnerte in diesem Zusammenhang noch einmal an den "Berliner Appell", in dem die Organisationen vor einem Jahr ihre wichtigsten Argumente zusammengefasst haben. Geplant seien auch Zeitungsanzeigen mit einer Kampagne, in der die Bevölkerung auf die Einschränkungen, die ein erneutes Verbot der organisierten Freitodbegleitung bringen würde, aufmerksam gemacht wird.


Über die Autorin:

Christa Schaffmann ist Diplomjournalistin und arbeitet seit zehn Jahren als freie Autorin und PR-Beraterin, nachdem sie zehn Jahre Chefredakteurin von Report Psychologie, der Fach- und Verbandszeitschrift des Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen, war.

Weitere Artikel der Autorin zum Thema "Assistierter Suizid" in Form von Berichten und Gesprächen mit Expert*Innen verschiedener Berufs- und Interessengruppen sind im Schattenblick unter dem kategorischen Titel "Am Lebensrand - der assistierte Suizid ..." zu finden unter:

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veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 3. März 2023


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