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INTERVIEW/003: Ersatzteillager Mensch - Die Theologin Ilse Maresch erhebt Einspruch (SB)


"Ich darf nicht die Not des einen durch den Zugriff auf den anderen lindern wollen."

Interview mit der Theologin Ilse Maresch am 24. März 2012 im Kulturzentrum Grend in Essen-Steele


Ilse Maresch im Porträt - Foto: privat, © 2012 by Ilse Maresch

Ilse Maresch vom "Arbeitskreis Christen und Bioethik"
Foto: privat, © 2012 by Ilse Maresch

Als am 22. März 2012 im deutschen Bundestag in erster Lesung über einen Regierungsentwurf wie auch eine gemeinsam von allen fünf Bundestagsfraktionen formulierte Änderung des seit 1997 bestehenden Transplantationsgesetzes (TPG) beraten wurde, war das Thema "Organspende" in den Medien gut plaziert. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Frank-Walter Steinmeier, durch die Nierenspende an seine erkrankte Ehefrau Elke Büdenbender prädestiniert für die Rolle des Guten- Beispiel-Gebers, stimmte wie auch Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr in das Hohelied der "Organspende" ein, wie die Krake Transplantationsmedizin in der öffentlichen Präsentation betitelt wird, obwohl dieser Begriff der gesetzlich geforderten und behaupteten umfassenden Aufklärung alles andere als zuträglich ist. Unisono war von beiden zu vernehmen, daß die Organspende nicht nur eine Frage der Mitmenschlichkeit, sondern ein Akt der Nächstenliebe sei.

Nächstenliebe - nicht von ungefähr dürften beide Politiker gerade diesen Begriff gewählt haben, der wie kaum ein zweiter geeignet ist, Forderungen, die staatlicherseits an die Bürger und Bürgerinnen gestellt werden, ohne daß sie als solche benannt werden und zu erkennen sind, in Worte zu kleiden, die im hiesigen Kulturraum die größtmögliche Wirkmächtigkeit zu entfalten versprechen. "Nächstenliebe" ist nicht nur im christlichen Abendland von höchstem moralischem Wert, sondern verspricht eine wohl beispiellose kulturell- religiös-weltanschauliche Breitenwirkung, da sich auch in den anderen beiden monotheistischen Weltreligionen, aber auch im Buddhismus wie in der Philosophie (der "Kategorische Imperativ" Immanuel Kants), wenn man denn so wollte, Äquivalente zu diesem Gebot finden lassen.

Die moralische Wucht dessen ist so immens, daß kein Mensch gegen das Postulat der "Nächstenliebe" etwas einwenden kann, ohne sich unmittelbar rechtfertigen zu müssen, da ihn die Ablehnung dieser wenn auch verkappten Aufforderung nach gesellschaftlichem Wohlverhalten in den Ruch eines bösen Menschen oder gesellschaftlichen Außenseiters brächte. Dabei wäre die Frage, ob mit dem seitens der kirchlichen oder auch staatlichen Obrigkeit erhobenen Gebot der Nächstenliebe nicht Zwecke und Ziele verfolgt werden können, die weit weniger mit dem Umgang des Menschen mit seinem Mitmenschen zu tun haben, sondern deren Beherrsch- und Verfügbarkeit befördern sollen, womöglich von großer Relevanz insbesondere dann, wenn es um die sogenannte "Organspende" geht. Namentlich im christlichen Kontext ist es von der "Nächstenliebe" zur "Christenpflicht" nicht nur ein kurzer Weg, sondern gar keiner, werden doch beide Begriffe laut Duden synonym verwendet [1].

Für Menschen, die in die christliche Terminologie, ob in intellektueller, religiöser oder emotionaler Weise eingebunden sind, stellt die Behauptung, die Spende eines Organs sei ein Akt der Nächstenliebe, womöglich eine kodierte Fassung der durchaus umstrittenen Aussage dar, daß dies zu tun die Pflicht eines Christenmenschen sei. Längst haben sich nämlich auch kritische Christen zusammengefunden, um ihre - vom scheinbar vorherrschenden Konsens abweichende - Auffassung zu artikulieren. Zu ihnen gehört die evangelische Theologin und Pfarrerin Ilse Maresch vom Bonner "Arbeitskreis Christen und Bioethik". Sie ist Sprecherin der InteressenGemeinschaft Kritische Bioethik Nordrhein-Westfalen und hat am 23. und 24. März 2012 an der BioSkop-Tagung "Organspende - gesellschaftlich umstritten, öffentlich undurchschaubar, politisch gefördert" im Kulturzentrum GREND in Essen teilgenommen. Am Rande dieser Tagung ergab sich für den Schattenblick die Gelegenheit zu folgendem Gespräch mit der engagierten Christin.

Schattenblick: Frau Maresch, können Sie Ihre Initiative, den
Arbeitskreis Christen und Bioethik, kurz vorstellen?

Ilse Maresch: Ja. Die Organisation habe ich selber gegründet, offiziell gibt es sie seit 1996. Das hat begonnen in unserer Wohnung, dann haben wir einen öffentlichen Raum gesucht. Unsere Veranstaltungen werden einmal im Monat durch die Presse, persönliche Einladungen, Gemeindebriefe und Plakate publiziert. Wir beschließen immer in der bestehenden Sitzung, was wir das nächste Mal machen wollen. Die Wünsche kommen aus der Gruppe. Ich gebe manchmal Anregungen, aber ich lasse mich von dem leiten, was von der Gruppe gewollt wird. Es kommen fast jedes Mal neue Leute dazu.

SB: Sie sind eine kritische Christin, das könnte man bestimmt so sagen, und waren hier auf dem Seminar zur Organspende. Mit welchem speziellen Interesse an diesem Thema sind Sie hierhergekommen?

IM: Das Thema beunruhigt mich ganz außerordentlich. Ich sehe, daß enormer Druck gemacht wird, daß die Menschen diese Technologie als Spender für sich akzeptieren und daß da eine gesellschaftliche Akzeptanz geschaffen werden soll, die ich nicht nur für problematisch, sondern für schlimm und für inhuman halte. Denn es wird immer nur die Seite der Empfänger betrachtet, nie die Seite der Opfer. Und unter Opfer verstehe ich nicht nur den Spender selbst, der ja vielleicht in tiefem Koma liegt und vielleicht, vor allen Dingen dann, wenn er unter Narkose gesetzt wird, nichts mehr merkt, aber auch seine Angehörigen. Ich finde, daß die Gesellschaft da abdriftet in eine Differenzierung zwischen solchen, die bekommen und solchen, die geben sollen. Und das Geben, das ist ein Nehmen, denn der, der da liegt, kann sich nicht mehr äußern. Andere äußern sich für ihn, mit welchen Motiven auch immer. Auf die Angehörigen wird im Augenblick eines Schocks enormer Druck ausgeübt in einer Situation, in der sie sich mit dem Sterben ihres Lieben befassen müssen und gar keine objektive Möglichkeit haben, sich mit dem Problem "Organspende" auseinanderzusetzen.

Dazu kommt, daß "Tod" in unserer Gesellschaft tabuisiert wird. Es gibt kaum Menschen, die sich bewußt und willentlich mit ihrem Sterben, mit dem Sterben, das auf uns alle, auf die nächsten Angehörigen, zukommt, auseinanderzusetzen. Und dann plötzlich steht man vor dieser Situation und wird nach den Organen gefragt. Ich halte das für schlimm. Es ist unmenschlich. Es ist ein Zugriff auf die Menschen in einer Situation, in der sie hilflos sind, in der sie Hilfe, Unterstützung und Begleitung brauchen, statt daß man von ihnen nimmt und Forderungen an sie stellt mit enormem moralischen Druck.

SB: Nun hat in der aktuellen Diskussion um die Gesetzesnovelle des Transplantationsgesetzes Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP), unterstützt vom SPD-Fraktionsvorsitzenden Frank-Walter Steinmeier, das Wort "Nächstenliebe" im Zusammenhang mit der Pro-Organspende- Kampagne in den Mund genommen. Wie würden Sie als Theologin dazu Stellung nehmen?

IM: Die "Liebe über den Tod hinaus" ist eine Formulierung aus einer gemeinsamen Erklärung der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz. Ich glaube, das war 1991. Ich gehe einmal davon aus, daß man sich damals noch sehr wenig mit der Problematik befaßt hat. Man hat es einfach hingenommen. Der hirntote Mensch ist tot, das ist ein Vorgang nach seinem Leben, er ist tot. Und wenn er dann einverstanden ist oder die Angehörigen glauben, man könne noch etwas Gutes tun, also Liebe geben... Aber ich denke, es ist schon ein Nonsens, bei einem Menschen, der sich nicht wehren und nicht äußern kann, von "Liebe" zu sprechen. Von anderen Menschen wird von ihm etwas genommen, und das wird dann, ich sage einmal, euphemistisch als "Liebe" bezeichnet. Aber zur Liebe gehört der Kontakt zwischen zwei Menschen, daß man sich ansieht und miteinander redet, daß der eine dem anderen gibt, ein Geben und Empfangen. Aber von dem, der da bewußtlos liegt, kann man diese "liebende Teilnahme" gar nicht erwarten. Da ist ein Aktiver, der sich bei dem, der sich nicht helfen kann, bedient. Ich kann da von "Liebe" nicht reden.

SB: Das könnte man im Grunde auch als Raub in seiner ursprünglichsten Form bezeichnen. Sie haben die absolut hilflose Situation dieser Menschen, der Betroffenen wie auch der Angehörigen, bereits angesprochen, in der es ja, wenn man die christliche Botschaft ernst nimmt, ein Gebot der Nächstenliebe wäre, gerade ihnen zur Seite zu stehen.

IM: Genau. Das ist für mich ein ganz, ganz schwieriges Problem, denn wir als Christen, ob nun im Beruf des Pfarrers oder auch als Angehöriger, haben doch als erste Aufgabe, den Hilflosen zu helfen. Der Hilflose aber liegt da vor mir und soll explantiert werden. Ihm soll etwas genommen werden, ihm soll damit wirklich sein Leben genommen werden. Und ich wäge jetzt ab: Es sind zwei, die Interessen haben - auf der einen Seite der Empfänger, der auf ein Organ hofft, und auf der anderen Seite dieser hilflose Mensch, der mir anvertraut ist. Ich darf nicht die Not des einen durch den Zugriff auf den anderen lindern wollen, das geht nicht. Ich kann für mich selber sagen, wie das Herr Steinmeier gemacht hat, der dabei nicht sein Leben verloren hat: "Ich gebe meiner Frau ein Organ." Das ist ein Akt von Liebe und Zuneigung, wo man sich selber nicht schont, sondern sagt, ich gebe ihr etwas. Aber das kann ich nicht für einen anderen machen. Und ich kann diese Entscheidung erst recht nicht treffen, wenn ich ohnmächtig bin, wenn ich im Koma oder im Sterben liege. Dann kann ich das gar nicht, also da ist ein Schnitt.

SB: Hat es in Ihrem Engagement eine Entwicklung, vielleicht sogar eine Radikalisierung gegeben auch in Ihrem religiösen Verständnis im Zusammenhang mit dieser Problematik, durch die Sie möglicherweise in Konflikt gekommen sind auch mit der Kirche und speziell auch mit der Evangelischen Kirche?

IM: Von einem Konflikt möchte ich nicht sprechen. Ich würde sagen, ich werde eher gemieden. Die Auseinandersetzung wird nur von ganz, ganz wenigen angenommen, gesucht fast von niemandem. Ich halte es für ein urchristliches Thema und in meinem Beruf als Pfarrerin für einen Vorgang, der mich täglich begleitet und der bewirkt, daß ich mich mit diesen Dingen auseinandersetze. Begonnen hat das Engagement mit der Bio-Ethik-Konvention. Auch da ging es um die fremdnützige Forschung an nicht einwilligungsfähigen Menschen, die da europaweit legalisiert werden sollte. Das hat mich alarmiert. Ein Sterbender, der explantiert werden soll, ist auch solch ein Nicht-Einwilligungsfähiger, der zu fremdem Nutzen benutzt wird, dessen Organe entnommen werden und dem sein Sterben genommen wird.

Wir wissen überhaupt nicht, was mit dem Sterbenden geschieht, was in ihm vorgeht und was er noch mitbekommt. Das ist ja ein langsames Hinübergleiten in eine Welt, zu der wir keinen Zugang haben. Und dann einfach zu sagen, ich breche hier ab, denn ich will an seine Organe heran, das ist zutiefst unmenschlich. Der Tod gehört zum Leben, genau wie ich geboren bin, da habe ich auch nichts zugetan. Und am Schluß des Lebens sterbe ich, mein Leben wird von mir genommen, es entgleitet mir wieder. Ich als Christin sage, es ist mir von Gott gegeben, ich geb's in Gottes Hände zurück. Da hat aber keiner einen Anspruch, dieses Leben jetzt abzubrechen.

SB: Eine letzte Frage noch: Das Seminar ist jetzt zu Ende, was würden Sie für ein Fazit ziehen nach diesen zwei Tagen intensiver Vorträge und Diskussionen?

IM: Ich habe sehr gute Vorträge gehört, die haben mir ganz viel gebracht. Auch der Jurist, von dem ich am wenigsten erwartet hatte, hat das sehr gut herübergebracht und diese ganzen Unwägbarkeiten deutlich gemacht. Ich bin keine Juristin, aber ich finde, das hat er sehr, sehr gut gemacht. Ich habe in dieser Runde mit lauter engagierten, sehr nachdenklichen Menschen Hoffnung gewonnen. Man steht nicht allein.

SB: Wollen Sie vielleicht noch ein letztes Schlußwort formulieren?

IM: Ich hoffe, daß es mehr Aufklärung gibt, wie jetzt vom Gesetzgeber gefordert, und daß man von beiden Seiten etwas zu erfahren bekommt. Und daß der, der als Spender umworben wird, erfährt, was mit ihm geschieht, ganz praktisch, und daß er auch weiß, was er seinen Angehörigen antut. Ich wäre dafür, daß das Sterben, daß der Tod wieder in die Mitte der Gesellschaft rückt und nicht in Heime und Krankenhäuser verlagert wird und man kommt hinterher nur noch zur Beerdigung, sondern daß man die Gelegenheit nutzt, das Sterben, das auf uns alle zukommt, zu erfahren an anderen Menschen, die einem lieb sind. Daß man auch die Angst, die Panik vor dem Sterben verliert. Das ist ein Weg, den wir alle gehen, und sich darauf vorzubereiten, gehört für mich zur Humanität.

SB: Vielen Dank, Frau Maresch, für dieses Gespräch.

Anmerkung:
[1]‍ ‍http://www.duden.de/rechtschreibung/Christenpflicht

(wird fortgesetzt)

Ilse Maresch - Foto: privat, © 2012 by Ilse Maresch

'Wir als Christen haben als erste Aufgabe, den Hilflosen zu helfen.'
Foto: privat, © 2012 by Ilse Maresch

11.‍ ‍April 2012