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INTERVIEW/009: Ersatzteillager Mensch - Eva-Maria Müller-Markfort über Hausgeburtshilfe (SB)


Hebamme - als Beruf bedroht, als Berufung unentbehrlich

Interview mit Eva-Maria Müller-Markfort am 24. März 2012 in Essen-Steele

Eva-Maria Müller-Markfort ist Hebamme und engagiert sich als Präsidentin des Deutschen Fachverbandes für Hausgeburtshilfe e. V. für die Aufrechterhaltung der Möglichkeit, daß werdende Mütter ihr Kind zu Hause zur Welt bringen können. Am Rande der Tagung "Organspende - gesellschaftlich umstritten, öffentlich undurchschaubar, politisch gefördert", die am 23./24. März 2012 im Kulturzentrum GREND in Essen-Steele stattfand, beantwortete Frau Müller-Markfort dem Schattenblick einige Fragen.

Im Gespräch - Foto: © 2012 by Schattenblick

Eva-Maria Müller-Markfort
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick: Frau Müller-Markfort, könnten Sie Ihren beruflichen Hintergrund und Ihr Interesse an dieser Veranstaltung schildern?

Eva-Maria Müller-Markfort: Ich komme gebürtig aus Westfalen und bin mit 16 Jahren nach Belgien ausgewandert, weil meine ältere Schwester dort nach dem Krieg verheiratet war. Ich habe zuerst die Krankenpflegeausbildung gemacht und danach ein Studium an der Freien Universität Brüssel absolviert, weil dort die Grundausbildung Krankenpflege Voraussetzung war für die anderen Studiengänge. Ich bin daher auch im Pflegerischen beheimatet und habe schon als Krankenschwesterschülerin und später als Krankenschwester Sterbende begleitet. Nach Dienst konnte man sich, wenn Ruhe war, zu den Menschen ans Bett setzen und ihnen die Hand halten, auch wenn sie nicht mehr alles ganz bewußt mitbekommen haben.

Ich habe mir dann so meine Gedanken über Leben und Tod gemacht. Was hat dieser Mensch mit 70 oder 80‍ ‍Jahren alles erlebt, wieviel Kriege hat er mitgemacht, wie hat er sich durchs Leben kämpfen müssen? Jetzt liegt er da und ist auf seiner letzten Wegstrecke angelangt. Dennoch könnte man noch von einem vielleicht etwas einsamen, aber würdigen Ende sprechen, indem ein Mensch seinen Tod in dem Moment erleidet, in dem seine Uhr abläuft. Man kann sich darüber streiten, ob sein Lebensende göttliche Fügung oder Schicksal war oder welche Perspektive man auch immer nimmt. Von daher hat mich das immer berührt, auch weil ich in meiner Hebammenarbeit zuweilen Kinder habe sterben gesehen, Gott sei Dank nur sehr selten Mütter. Der Tod wird heutzutage nicht mehr akzeptiert. Kein Kind darf mehr sterben. Es muß gerettet werden, auch die Klitzekleinen, die gar keine Chance haben zu überleben. Da steckt ganz viel Experimentierfreude oder Verdrängung der eigenen Lebensgeschichte dahinter.

Man muß sich schließlich fragen, warum jemand Arzt wird. Welche psychische Verfassung liegt seiner Berufswahl zugrunde? Daß jemand Kinderarzt, Onkologe oder Hals-Nasen-Ohren-Arzt wird, hat immer etwas mit ihm selbst zu tun. In diese Richtung könnte man sehr viel forschen. Die Ärzte denken sicherlich nicht darüber nach. Die Geburtsmediziner oder Gynäkologen sind ja keine Geburtshelfer mehr. Auch Hebammen lernen im wahrsten Sinne des Wortes keine Geburtshilfe mehr in den Kliniken, weil das Umfeld ein medizinisches geworden ist. Wenn ich ins Krankenhaus gehe, um unter kontrollierten Bedingungen ein Kind zu gebären, dann stimmt etwas von Anfang an nicht, denn bei der Geburt handelt es sich ja um einen natürlichen Vorgang.

SB: Wie begründen Sie ihre Kritik an der Art und Weise, wie Kinder im Rahmen des modernen Gesundheitswesens zur Welt gebracht werden?

MM: Ich bin viele Jahre im Ausland gewesen. Nach Belgien arbeitete ich in Frankreich, Großbritannien und Saudi-Arabien. Nachdem ich selbst zwei Kinder geboren hatte, bin ich nach Deutschland zurückgekehrt. Ich wußte, daß die Geburtshilfe in Deutschland damals in den 80er Jahren schlecht war, sowohl vom menschlichen als auch medizinischen Niveau her.

Um das zu erklären, muß ich ein wenig ausholen. Mein Diplom an der Universität Brüssel mußte in der Bundesrepublik anerkannt werden. Damals gab es jedoch noch keine EU, und so mußte ich noch einmal in die Hebammenschule. Ich habe in Heidelberg mein deutsches Hebammenzeugnis gemacht. Die Ausbildung ging seinerzeit über zwei Jahre. Davon war ich drei Monate in der Uniklinik Heidelberg im Kreissaal tätig. Wenn ich einen Moment innehalte, die Augen schließe und mich in diese Zeit zurückversetze, dann kriege ich heute noch Bauchschmerzen angesichts der aus meiner Sicht unmenschlichen Bedingungen, unter denen die Frauen dort ihre Kinder geboren haben. Ich hatte mir damals geschworen, nie wieder in ein deutsches Krankenhaus zu gehen und habe das auch viele Jahre so gehalten, aber Anfang der 80er Jahre kam ich umständehalber nach Deutschland zurück. Ich mußte arbeiten, da ich mich von meinem Mann getrennt und zwei Kinder zu versorgen hatte.

Ich bin in mein Heimatkrankenhaus nach Aalen gegangen, wo man mir sagte, das wäre jetzt ganz toll, da dort selbst die Väter die Babys baden. In der Zwischenzeit hatte sich ja die Geburtsmedizin etabliert, was jedoch an mir vorbeigegangen war. Ich hatte noch die gute alte Geburtshilfe mit Zusprechen und Bauchmassieren praktiziert, bis die Kinder von selbst kamen. Plötzlich gab es jedoch das CTG (Cardiotokografie), das kontinuierlich die Herztöne und Wehen aufschrieb. Diesen Apparat kannte ich gar nicht und wußte auch nicht, wozu er gut war. Ich konnte keinen richtigen Sinn darin erkennen, dachte aber, wenn das heute so ist, dann ist das heute eben so. Ich mußte Geld verdienen und mich anpassen, durfte nicht renitent sein.

Dann gab es noch das Ultraschall, das ich auch nicht kannte. Das Allerschlimmste war jedoch die Periduralanästhesie, die sogenannte Rückenmarkspritze, wie sie früher hieß. Damals waren die Frauen nach dieser Injektion quasi von der Taille abwärts gelähmt. Sie konnten die Beine nicht mehr bewegen, ans Laufen war gar nicht zu denken. Das heißt, sie lagen wie halbgelähmt im Bett und sollten nun ihr Kind mit kraftvollem Einsatz und allen fünf Sinnen gebären, was natürlich nicht möglich war. Das hat mich völlig schockiert. Ich habe das nicht verstanden. Deshalb haben die Ärzte angenommen, daß ich für das Krankenhaus nicht zu gebrauchen war. Ich wollte einfach nur nett zu den Frauen sein, wie ich es gelernt und auch praktiziert hatte. Also bin ich halb gegangen und halb zur Kündigng genötigt worden. Das war 1982.

Daraufhin habe ich in der häuslichen Pflege mit Alten, Kranken und Behinderten bei der AWO gearbeitet. Später habe ich es nocheinmal als Hebamme in einer kleineren Klinik von 1988 bis 1994 in Rheda-Wiedenbrück versucht, bis ich endgültig feststellen mußte, daß die Krankenhausgeburtshilfe nichts für mich ist. Aus meiner Sicht bin ich immer eine gute Hebamme gewesen, aber ich konnte das, was ich gelernt hatte, den menschlichen Beistand, das Wissen und die Intuition, in einem Krankenhaus nicht mehr anbringen. So habe ich, auch durch andere Hebammen motiviert, 1992‍ ‍mit den ersten Hausgeburten angefangen und war dann wieder in meiner Welt, die ich kannte. Warten, bis die Frauen Wehen kriegen, nichts tun, die Schwangerschaft schön zu Ende gehen lassen, nicht intervenieren, keine Medikamente, keine Einleitung. Wenn die Wehen irgendwann spontan losgehen, einfach nur warten, ob es nun fünf oder acht oder zwölf oder 20 Stunden dauert. Bei Erstgebärenden dauert es eben. Nur da sein und die Frau unterstützen. In den allermeisten Fällen kommen die Kinder dann sehr gut und besser als in der Klinik.

Ich bin ja nicht generell gegen die Klinik, nur daß Dinge, die einmal für Ausnahmen gedacht waren, dort zur Routine geworden sind. Ob nun beim Gebären oder wie jetzt bei der Organspende, am Anfang wird immer gesagt, daß es nur für die Ausnahmen und Notfälle gedacht ist. Zum Beispiel war die Pränataldiagnostik erst für Frauen ab 35 Jahre gedacht, doch dann wurde das Alter immer mehr heruntergesetzt. Und heute wird es bei jeder Frau zum Teil mit Nachdruck angeboten. Die Frauen sind heutzutage verängstigt und kennen aus ihrem Umfeld keine anderen Alternativen. Man macht die Nackenfaltenmessung, um zu sehen, ob mit dem Kind alles in Ordnung ist. Ich frage mich immer, wie wollen die Ärzte an so einem kleinen, anderthalb bis zwei Zentimeter großen Embryonen Nackenfalten sehen?

SB: Ist die Rückenmarkspritze heute noch Praxis?

MM: Absolut.

SB: Welche Theorie steckt dahinter?

MM: Die Rechtfertigung und Argumentation dafür ist, daß die Ärzte nur machen, was die Frauen wollen. Das sagen sie zumindest. Die Frauen werden natürlich darin sozialisiert und solange verängstigt, bis sie die Schmerzlosigkeit vorziehen. Meine Theorie ist etwas anders. Ich bin seit über zehn Jahren stark an der Pränatal- oder vorgeburtlichen Psychologie interessiert. Was bekommt das Kind im Mutterleib mit und wie speichert es, was es während der Geburt erlebt?

Heutzutage weiß man, daß nicht nur das Unter- und Unbewußte, also die Seele, alles speichert, sondern auch der Körper eine Erinnerung hat. Das gilt auch für die Frauen von heute, deren Mütter mit Periduralanästhesie geboren haben. Da hat sich der kleine Babykörper, der den Prozeß eventuell noch von sich aus in Gang gesetzt hat, hindurchgedrückt. Es hat ja den angeborenen Trieb in sich, und die Mama hilft und macht und tut.

Seit 20 Jahren bin ich hausgeburtlich tätig und hatte Zeit, Frauen zu beobachten. Wenn man die Frauen machen läßt, ändern sie dauernd ihre Position und liegen nicht einfach herum, sondern gehen ein bißchen in die Hocke, lehnen sich übers Sofa, laufen wieder und stehen dann am Tisch, wackeln mit den Hüften, pusten herum und gehen dann in die Badewanne. Wenn man so eine Idee dafür bekommt, daß das Kind jetzt im Leib auf der Ebene angelangt ist, gleich das Köpfchen drehen muß und dann die Schulter, bin ich zum Schluß zu der Überzeugung gekommen, daß zwischen Mutter und Kind eine sehr enge Bindung besteht, ein "Wir machen das zusammen". Mama muß dem Baby helfen. Die Mütter werden dann immer die Position suchen, die am wenigsten schmerzhaft ist. Und am wenigsten schmerzhaft ist die, wo von innen am wenigsten Druck ist. Also gibt sie dem Kind nach, ändert ihre Position und hilft dadurch dem Baby, sich da hindurchzudrehen. So kann man sich das vorstellen.

SB: Haben Sie über Ihre Erfahrung eine gewisse Sensibilität für das Bewegungsverhalten von gebärenden Müttern entwickelt?

MM: Ja, wie sie atmet, wie sie ihren Schmerz ausdrückt und wie sie jammert. Man lernt mit der Zeit, daß es ein positives und ein negatives Jammern gibt. Irgendwie stellt sich so ein Gefühl ein, daß etwas nicht stimmt, nichts Dramatisches, aber irgendwie läuft etwas nicht. Nach einer Weile merkt man, jetzt ist sie wieder in einem anderen Rhythmus drin, und das Baby lernt, Mama hilft mir, und zum Schluß hilft Mama ganz feste und drückt, und dann ist es da. Es kommt noch hinzu, daß der Körper bei einer nicht medikamentös geleiteten Geburt irgendwann Endorphine ausschüttet. Das sind körpereigene Schmerz- und Betäubungsmittel, die dem Baby so ein bißchen die Spitze vom Schmerz nehmen. Es betäubt nicht wirklich, sondern schafft so etwas wie einen tranceartigen Zustand.

Wenn eine Frau eine Periduralanästhesie hat, ist der Schmerz für sie ausgeschaltet. Das heißt, ihr Körper produziert keine Endorphine mehr. Aber das kleine Kind fühlt noch den Schmerz und vor allen Dingen spürt es plötzlich, bis eben hat Mama mir geholfen, aber auf einmal liegt sie platt wie eine Flunder im Bett. Das Kind erwartet die Hilfe der Mutter, aber es bekommt sie nicht mehr. Ich versuche mich in so ein kleines Kind hineinzuversetzen. Wie muß das bei dem Kind ankommen? Mama hat mich im Stich gelassen. Ich muß zusehen, daß ich hier alleine durchkomme.

Dieses Verlassenheitsgefühl speichert das Kind unter Geburt ab. Der Schmerz, die Angst, verlassen von Mama, und 20 oder 25 Jahre später, wenn es ein Mädchen ist, wird sie schwanger und weiß unbewußt, jetzt werden die alten Erinnerungen wach und steigen hoch. Die Frauen werden sehr durchgängig in der Schwangerschaft. Sie weiß nicht, daß das die Ängste ihrer eigenen Geburt sind. Wenn eine Schwangere Ängste hat, die sie nicht an einen Nagel hängen kann, dann bietet sich die Geburt ihres Kindes dafür an. Oh Gott, ich habe Angst, das tut weh. Und da sagt jeder, das ist normal. Die übersteigerte Angst vor den Wehen macht, daß die Frauen heute, weil sich das in der Gesellschaft so entwickelt hat, keine Verantwortung mehr für sich übernehmen und alles an Schmerzen und Unannehmlichkeiten ausschalten lassen. Früher mußte man noch aus dem Sessel hochkommen, um die Knöpfe am Fernseher zu drücken. Jetzt gibt es Fernbedienungen. Bequemlichkeit über alles.

SB: Es gibt inzwischen eine Konjunktur der natürlichen Geburt, die zum Beispiel das Gebären im Wasser favorisiert. Was halten Sie davon?

MM: Eine Wassergeburt ist sehr schön, denn das Wasser trägt mit, die Muskeln entspannen sich und auch die Wärme tut gut, wie wenn man mit einer weichen Decke zugedeckt wird. Das Wasser wirkt auch seelisch wärmend, und im allgemeinen wird die Eröffnungsperiode verkürzt, der Muttermund öffnet sich schneller, weil die Frau im ganzen von der Wärme viel entspannter ist.

SB: Sie vertreten eine traditionelle Form des Gebärens. Heißen Sie modernere Formen der natürlichen Geburt wie diese gut?

MM: Ja sicher. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert, als die Leute in Hinterhöfen in kleinen Wohnungen lebten, hatten sie noch keine Badewannen. Da war an eine Wassergeburt gar nicht zu denken. Was die Menschen in der Südsee in ihren warmen Gewässern gemacht haben, wissen wir nicht so genau. Vielleicht haben sie das auch gemacht. Irgendwann einmal hat jemand die Idee mit der Badewanne gehabt. Vielleicht wollte eine Frau sich nur entspannen, und dann ist plötzlich das Kind gekommen. Das war so einfach und schön und der Damm ist nicht gerissen, daß man das aufgegriffen hat. Ich biete es jedenfalls immer an, in die Wanne zu gehen.

SB: Wie beurteilen Sie die zunehmende Technifizierung der Geburt, die sich etwa bei der Pränataldiagnostik zu einer regelrechten Qualitätskontrolle verselbständigt?

MM: Das ist aus meiner Sicht sehr gefährlich. Ich vertrete jetzt meine persönliche Meinung, denn wir vom Verband haben keine Richtlinien, aber wir sind uns alle mehr oder weniger einig. Kaum ist das kleine Mümmelchen da und entwickelt sich gerade in einem rasanten Tempo, da fängt man auch schon an einzugreifen. Aber die Vorsorge beginnt schon viel früher beim Schwangerschaftstest. Die Frau hat gerade ihre Periode nicht mehr, wartet noch ein, zwei Wochen und geht dann zum Arzt. Früher hat man erst einmal einen Urintest gemacht, der gut genug war, um festzustellen, ob sie schwanger ist. Das ist heute nicht mehr gut genug. Heute setzt man sofort das Ultraschall ein. Ich bin zwar keine Physikerin und kann das nicht wissenschaftlich beurteilen, aber es wird gesagt, daß diese Schallwellen für das kleine Kind nicht gut sind. Die wirken angeblich ein bißchen so wie Mikrowellen, von denen man sagt, daß sie das Leben töten.

Bei der frühen Beschallung muß man daran denken, daß sich beim Embryonen der Kopf und das Gehirn, also die Großschaltstelle unseres Körpers, als erstes entwickeln. Die meisten Frauen lassen das jeden Monat machen. Man muß sich dabei einmal die Situation vorstellen, wenn der Gynäkologe zwischen sich und der Frau einen Apparat schiebt, bloß nicht zuviel Nähe. Wenn ich dann komme und den Bauch abtaste, sagen die Frauen, meine Güte, das hat mein Arzt noch nie gemacht. Kein Wunder, die laufen ja nur noch mit Handschuhen in den Krankenhäusern herum, direkter Hautkontakt wird vermieden, was auch sehr unmenschlich ist, wie ich finde.

Dann wird das kleine Kind im Mutterbauch vermessen und aufgrund von Meßdaten beurteilt, die nie 100prozentig verläßlich sind. Wenn es vor der Geburt heißt, das Kind wiegt soundso viel, dann betragen die Abweichungen nach der Entbindung manchmal mehrere 100 Gramm. Darüber wird nicht geredet, sondern es wird alles wie bisher weitergemacht. Mediziner lernen leider nicht aus ihren Fehlern und verlassen sich weiterhin auf die Gewichtsmessungen über das Ultraschall. Dann heißt es, das Kind ist jetzt soundso schwer in der 38. Woche. Wissen Sie, das Kind ist jetzt wirklich zu groß. Es wäre besser, wenn es schon jetzt herauskäme. Das wird der Frau in schönen Worten erzählt. Alles wird immer schön erzählt, ob bei der Organspende oder sonstwo. Dann wird die Geburt eingeleitet, und das Kind wiegt schließlich 3400 und nicht 4100 Gramm. Also war das Ganze umsonst, und man hat ein Kind gegen seinen Willen viel zu früh in diese Welt gezogen, was dramatische Folgen für den ganzen Lebensweg des Kindes hat.

SB: Wie bewerten Sie die Auswirkungen der qualitativen Überprüfbarkeit des werdenden Kindes auf die Mütter?

MM: Sie glauben daran. Manchmal habe ich das Gefühl, das Ultraschall ist so eine Art Droge. Sie müssen jeden Monat wieder hin, nachschauen, ob auch alles noch in Ordnung ist. Dann sage ich scherzhaft zu den Frauen, du hast dein Baby schon so oft gesehen. Es ist alles normal, das Herzchen, die Füßchen usw., was sollte jetzt noch passieren? Darüber haben sie noch nie nachgedacht. Dennoch lassen sie es immer wieder machen. Denn mit der Ultraschall-Untersuchung wird unausgesprochen angedeutet, daß vielleicht etwas nicht in Ordnung sein könnte. Diese Befürchtung liegt auf der unbewußten Ebene und treibt die Frauen immer wieder in die Arztpraxis. Dann sage ich, schau' mal, die Nase ist immer noch mitten im Gesicht, die Ohren sind rechts und links, alle Finger und Zehen sind noch dran und der Rücken ist hinten geschlossen. Das wird sich nicht verändern. Der Rücken platzt nicht plötzlich auf, die Ohren fallen nicht ab und auch die Finger bleiben dran. Was willst du jetzt noch gucken? Weil sie es nicht wirklich ausdrücken können, rationalisieren sie und sagen, aber es ist so schön, es strampeln zu sehen. Aber du fühlst doch, wie es strampelt. Ja, aber das ist etwas anderes. Wir sind ja eine aufs Auge fixierte Gesellschaft geworden. Ich sage ihnen zwar, daß das viele Beschallen nicht gut für das kleine Kind ist und sie darüber nachdenken sollten, aber dann gehen sie nächsten Monat doch wieder hin.

SB: Die nächste Stufe der Technifizierung der menschlichen Fortpflanzung ist die Auslagerung des Embryonen in die Petrischale zur künstlichen Befruchtung, wodurch die Präimplantationsdiagnostik ermöglicht und die humangenetische Kontrolle des Embryonen etabliert wird. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?

MM: Niemand will ein behindertes Kind haben. Früher blieb die Frau zu Hause bei ihren Kindern. Wenn ein behindertes Kind dazwischen war, hat sie es mitversorgt. Heute, wo die Frauen arbeiten, kann man sich kein behindertes Kind mehr leisten. Dann müßte die Frau nämlich zu Hause bleiben. Ein gesundes Kind kann ich zur Tagesmutter geben, ein schwerstbehindertes nicht. Das ist ein Druck. Wenn Frauen mit dem Kinderwagen durch die Gegend gehen, sagen Menschen im Vorbeigehen, so etwas muß man doch heute nicht mehr kriegen. Wenn so eine Einstellung dann in den Medien multipliziert wird, muß man sich nicht wundern, wenn sich Frauen fragen, oh Gott, will ich so ein Kind, will ich ein Leben lang auf alles verzichten?

Immer mehr Leute wollen überhaupt keine Kinder, auch keine gesunden. Wie sollen Leute auch akzeptieren, ein behindertes Kind zu bekommen, wenn es die Möglichkeit gibt, es nicht zu bekommen, zumal auch die Abtreibung inzwischen nicht mehr mit dem Makel des Sündhaften behaftet ist wie noch vor 100 Jahren, als es von der Kirche verdammt wurde. Wir wissen aus der Geschichte, daß junge Mütter, die ihr Kind abgetrieben hatten, umgebracht wurden. Heute kann ich entscheiden, ob ich ein behindertes Kind will oder eine Abtreibung mache. Zu sagen, du hast dein Kind getötet, klingt ziemlich brutal, aber das wäre es ja eigentlich. Sie muß dazu zu zwei Stellen hin. Da wird ein bißchen geredet und schließlich kriegt sie einen Zettel, wo draufsteht, sie darf abtreiben. Das wird dann in einer Klinik schön sauber und hygienisch vorgenommen. Danach geht sie nach Hause, und alles ist wieder gut, theoretisch, aber nicht für sie. Sie wird nie vergessen, daß sich einmal ein Kind angemeldet und sie sein Im-Leben-Bleiben verweigert hat. Die Frauen knapsen schon daran.

SB: Was halten Sie von dem Argument der sozialen Indikation, daß Frauen tatsächlich sehr große Probleme haben könnten, weil sie ohnehin in einer sehr benachteiligten Situation leben?

MM: Natürlich sagt man wie immer, daß sich die Gesellschaft ändern muß, aber sie wird es nicht so schnell tun. Wir geben Milliarden für soziale Dinge aus, aber wie wir alle wissen, wird immer am falschen Ende gespart oder nach dem Gießkannenprinzip verteilt. Eigentlich muß eine Familie mit mindestens drei Kindern, wenn schon nicht ein kleines Häuschen, so doch wenigstens eine Paterrewohnung bekommen. Bei meinen Hausgeburten komme ich in Mietshäuser mit sechs bis acht Parteien unten, wo im Flur kein Platz für einen Kinderwagen ist. Was machen die mit dem Kinderwagen? Bis in die vierte Etage hochtragen, denn manche Häuser haben keinen Aufzug? Da wird gar nicht mehr für Kinder geplant.

Unser Staat behauptet zwar, sich um den Nachwuchs zu kümmern, aber er tut nichts. Das Kindergeld ist nur ein Pups dagegen. Wenn heute schon so kalkuliert wird, daß ein durchschnittlicher Erwerbstätiger eine Familie nicht mehr ernähren kann, dann steckt da meines Erachtens das Kalkül dahinter, die Frauen in die Industrie zu bringen. Die Industrie will die Arbeitsplätze mit Frauen besetzen. Wenn die Männer genug verdienten, würde manche Frau zu Hause bleiben. Statt dessen überläßt man das ganze Problem den Familien und insbesondere den Frauen, weil sie das schwächste Glied in der gesellschaftlichen Kette sind. Das finde ich ganz schlimm.

SB: Was halten Sie von der Frauenbewegung, die diese Form der Unterdrückung zu ihrem Thema macht? Schon in den 70er Jahren sind Frauen offensiv für ihre Rechte eingetreten.

MM: Jede Frau muß für ihre Rechte eintreten. Das ist eine sehr persönliche Sache wie die Abtreibung, die Transplantation oder Explantation. Nur sollte niemand dafür bestraft werden, die eine oder die andere Entscheidung getroffen zu haben, weder moralisch noch finanziell. Es heißt immer wieder, daß die Industrie die Frauen braucht. Die Frauen sollen wieder zurück in den Beruf - zurück von was? Man sagt immer Frauen. Und wenn das Wort Frau fällt, stellt man sich eine adrett gekleidete Person mit ihrer Aktentasche auf dem Weg zur Arbeit vor. Wenn man sagen würde, die Mütter müssen wieder zurück, weil die Industrie die Mütter braucht, würde sich psychologisch ein ganz anderes Bild ergeben, denn Mütter sieht man immer mit ein oder zwei Kindern, eins an der Hand und das andere im Kinderwagen. Dann würden bestimmt viele Leute fragen, die will zurück in die Arbeitswelt, aber was ist mit den Kindern? Kinder werden immer ausgeblendet.

SB: Sozial privilegierte Frauen lassen Kinder inzwischen von
Leihmüttern austragen.

MM: Sicher, es gibt Leihmütter, genau wie wir Organe züchten. Frauen werden mehrere Eier entnommen, aber es dürfen ja nur zwei oder drei implantiert werden. Was passiert mit den anderen? Darüber gibt es überhaupt keine Kontrolle. Alles mögliche kann man damit machen. Die Leute denken nicht daran und sind froh, wenn sie endlich ihr Wunschkind kriegen. Alles andere ist dann nicht mehr so wichtig. Ich denke, wir brauchen keine Frauenbewegung, sondern eine Mütterbewegung.

Wir sehen das jetzt auch an unserem Berufsstand, der langsam ausstirbt, ganz dramatisch. Die außerklinische Geburtshilfe ist jetzt durch eine sehr schlechte Bezahlung massiv unter Druck geraten. Ich habe in diesem Jahr für meine Haftpflichtversicherung 5080 Euro bezahlt. Für eine Geburt bekomme ich Brutto etwas mehr als 500 Euro und um den Daumen herum eine Pauschale von 7,28 Euro pro Arbeitsstunde in der Nachsorge. Da muß eine alte Frau lange stricken, um 5000 Euro zusammenzukratzen. Spaßeshalber könnte man sagen, daß die Hebammen von heute sich einen reichen Liebhaber zulegen müßten, damit sie ihren Beruf in der außerklinischen Geburtshilfe als Hobby ausüben können.

Die in der Klinik und wir sind zwar im Prinzip alle Hebammen, aber wir machen nicht mehr die gleiche Arbeit. Das hat sich diversifiziert. Ich bewundere die Hebammen in Kliniken wirklich, weil sie das alles aushalten. Sie machen ihre Arbeit und werden gebraucht, wenn Frauen krank werden oder medizinische Probleme haben und dann im Krankenhaus ihr Heil suchen. Es ist wichtig, daß sie dann eine Hebamme an ihrer Seite haben, die freundlich zu ihnen ist und das unmenschliche System abpolstert. Wir draußen haben ganz andere Probleme. Wir kämpfen um unser Überleben und reisen von einem Ort zum anderen. Bei Hausbesuchen bin ich in den letzten fünf Jahren glatt 6.000 Kilometer im Monat gefahren. Die Fahrzeit kriege ich nicht bezahlt und von den 50 Cent, die ich pro Kilometer bekomme, muß ich Reparaturkosten und Versicherung abziehen. Im Grunde verschenke ich all die Stunden, die ich fahre.

Der Krankenkasse ist das egal. Der Druck wird immer größer, so daß wir subjektiv das Gefühl haben und objektiv zu dem Schluß gelangen, daß diese Art der Geburtshilfe nicht erwünscht ist, weil wir Sand im Getriebe des großen geburtsmedizinischen Systems sind. Wenn die Frauen jetzt wieder normal ihre Kinder kriegen würden, verdient die Pharmaindustrie nichts an mir, weil ich nur ein paar homöopathische Kügelchen brauche. 80 Prozent der Frauen könnten, wenn sie nicht diesen schrecklichen Ängsten ausgesetzt wären, ihre Kinder ganz normal gebären. Das wären Millionenverluste für die Krankenhäuser.

Seit zwei Jahren kämpfen wir auch politisch für die Wahlfreiheit, daß eine Frau in unserem demokratischen Land selbst entscheiden kann, wo sie ihr Kind kriegen will. Was aber, wenn keine außerklinischen Hebammen mehr da sind? Ich komme aus einem Kreis im Münsterland. In Münster gibt es, glaube ich, noch zwei Hebammen. In Bielefeld und Umgebung haben vor zwei oder drei Jahren von neun Hausgeburtshebammen sechs auf einen Schlag aufgehört. Jetzt fahre ich wieder den ganzen Tag bis Bielefeld, um den Frauen, die noch zu Hause entbinden wollen, zu helfen. Ich kann nicht Nein sagen, weil ich weiß, was in der Klinik mit einer Kaiserschnittrate von über 30 Prozent passieren kann.

Frau Feyerabend hat in ihrem Vortrag einen älteren Arzt mit der Aussage zitiert, daß man keinen gesunden Menschen verletzen könne, um einen anderen zu retten. Aber genau das macht man beim Kaiserschnitt. Man schneidet den Bauch einer gesunden Frau auf, um angeblich das Kind zu retten, das in den meisten Fällen überhaupt nicht gerettet werden muß, sondern ganz gut von allein kommen könnte. Daß diese Kinder später als Erwachsene unter einer Art Antriebsschwäche leiden, ist nachvollziehbar. Sie haben sich vorgekämpft und auf einmal war Mama weg. Sie kriegen die Narkose voll und ganz mit. Und dann hat man sie da oben herausgezogen, und sie verstehen die Welt nicht mehr. Das sind oft Leute, die immer wieder etwas anfangen und nie zu Ende führen.

Man könnte auch darüber nachdenken, ob aus diesen ganzen Beschallungen später die hyperaktiven Kinder hervorgehen. Unter den Medikamenten, die bei der Geburt immer noch gegeben werden, sind Opiate und Psychopharmaka. Wenn man seine Ruhe haben will und nachts den Diensthabenden nicht herausklingeln mag, denn das Krankenhaus müßte das wieder extra bezahlen, dann dürfen Hebammen in den Kreissälen wieder spritzen, was eine Zeitlang verpönt war. Das kommt jetzt anscheinend wieder. Da gibt es den gefährlichen Wirkstoff Misoprostol, der Wehen auslöst und als Tablette gegeben wird. Die amerikanische Hebamme Ina May Gaskin, die im letzten Herbst den Alternativen Nobelpreis (Right Livelihood Award) erhielt, hat einen großen Patchwork-Quilt zusammengesetzt, jedes Quadrat mit dem Namen einer Frau, die aufgrund dieser Tablette bei der Geburt gestorben ist.

Es ist bekannt, daß Frauen plötzlich starke Blutungen bekommen und daran verbluten können, und doch wird das Medikament weiter gegeben, auch heute noch in deutschen Krankenhäusern. Noch vor einem halben Jahr sagte mir eine Kollegin aus der Klinik: Aber Eva-Maria, du gibst einfach eine halbe Tablette und fünf Stunden später ist das Kind da. Das ist so toll, da hast du keine Arbeit mehr. Es geht fast immer gut. Immer geht alles fast immer gut, aber auch die Periduralanästhesie hat viele geschädigte Frauen und Kinder hinterlassen. Was nicht gut geht in der Medizin, darüber spricht keiner. Nur die Erfolgsgeschichten werden erzählt, und dann meinen die Leute, daß das immer so ist. Man kann heutzutage Kinder schon im Bauch der Mutter operieren. Die Leute überlegen gar nicht, was das für das Kind bedeutet. Andererseits ist man ganz froh, daß die Leute nicht zuviel denken. Denken ist gefährlich für das System.

Von daher kämpfen wir als Verband der Hausgeburtshebammen um den Erhalt der natürlichen Geburt, egal wo, auch in der Klinik. In der Klinik müßte jede Frau eine Hebamme nur für sich allein haben, wie es bei den Hausgeburten mit der sogenannten Eins-zu-Eins-Betreuung üblich ist. Dafür würde ich auch auf die Straße gehen, aber das müssen die Krankenhaushebammen für sich machen. Wir kämpfen für uns, weil man uns in jeder Beziehung den Hahn abdreht. Wir wissen nicht, wie es weitergehen wird. Speziell für unseren Verband haben wir die traditionelle Hebammenkunst überarbeitet. Wir geben eine sehr fundierte Zusatzausbildung in Hebammengeburtshilfe, die den jungen Kolleginnen in den Krankenhäusern nicht mehr vermittelt wird.

Statt dessen lernen sie, wie man diesen oder jenen Apparat ein- oder ausschaltet und wie man dem Arzt assistiert. Eine normale Geburt haben sie noch nie gesehen, weil es sie in den Krankenhäuser nicht gibt. Wenn das so weitergeht, könnten sich die Frauen irgendwann mit dem Kinderkriegen zurückhalten oder nach einer schlimmen Krankenhausgeburt den Entschluß fassen, keine Kinder mehr mit Kaiserschnitt auf die Welt bringen zu wollen. Das ist schade, denn jedes Kind bringt viel Freude und Liebe ins Leben. So aber werden wir zu einer immer älter werdenden verknöcherten Gesellschaft.

SB: Frau Müller-Markfort, vielen Dank für das lange Gespräch.

Im Gespräch - Foto: © 2012 by Schattenblick

Eva-Maria Müller-Markfort mit SB-Redakteur
Foto: © 2012 by Schattenblick

24.‍ ‍April 2012