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INTERVIEW/010: Das System e-Card - Wolfgang Linder kritisiert mangelnden Datenschutz (SB)


Medizinqualität statt e-Card-Bürokratie - zu Risiken und
Nebenwirkungen der elektronischen Gesundheitskarte

Interview mit Wolfgang Linder, ehemaliger Datenschutzreferent der Stadt Bremen, am 18. April 2012 in Berlin



Mit der Einführung der elektronischen Gesundheitskarte, kurz e-Card genannt, mit der noch in diesem Jahr 70 Prozent der gesetzlich Krankenversicherten ausgestattet werden sollen, kommt die Bundesregierung ihrem Ziel, eine umfassende telemetrische Infrastruktur im Gesundheitswesen aufzubauen, einen großen Schritt näher. Verschiedene gesellschaftliche Gruppen lehnen das Vorhaben ab: Ärzte warnen davor, daß das Vertrauensverhältnis zu den Patientinnen und Patienten aufgebrochen und sie zu Handlangern der Krankenkassen gemacht werden; Patientenorganisationen sehen in dem Anlegen von Gesundheitsdatenbanken eine große Gefahr der Diskriminierung bei bestimmten Krankheiten oder angeblichen genetischen Dispositionen; Datenschützer bemängeln am Konzept der e-Card die Einrichtung von Datenbanken, die immer die Gefahr unbefugten Zugriffs bergen, und schlagen als Alternative ein Konzept vor, bei dem die Gesundheitsdaten nicht auf zentralen Servern gespeichert werden, sondern auf einem Datenträger im Besitz der Patientinnen und Patienten verbleiben.

Am 18. April lud das Bündnis "Stoppt-die-e-Card!" zu einer dreistündigen Konferenz unter dem Titel "Medizinqualität statt e-Card-Bürokratie - zu Risiken und Nebenwirkungen der elektronischen Gesundheitskarte" ins Hotel Aquino, Berlin. Der Schattenblick berichtete darüber. [1]

Im Anschluß an die Veranstaltung stellte sich der als Experte zu einem Vortrag eingeladene Wolfgang Linder, ehemaliger Datenschutzreferent der Stadt Bremen und heute Mitglied des Komitees für Grundrechte und Demokratie e. V., für ein Gespräch über weitere Aspekte des Datenschutzes, unter anderem hinsichtlich der nicht zu leugnenden Begehrlichkeiten der Wirtschaft an den Gesundheitsdaten sowie der Gefahr einer nicht auszuschließenden politischen Entwicklung, in der nicht mehr die heutigen Maßstäbe des Datenschutzes eingehalten werden, zur Verfügung.

Referent beim Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Wolfgang Linder warnt - Datenschützer dürfen sich nicht einbinden lassen
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick: Auf meine erste Frage war Prof. Pohl [2] in seinem Vortrag teilweise schon eingegangen. Ich möchte das Thema dennoch aufgreifen. Die Daten würden nicht im Internet abgelegt, hatte ein Herr Marx von der gematik [3] am 10. Februar auf einer Fachtagung der Bundestagsfraktion Die Linke in Berlin [4] behauptet. Wissen Sie, was er damit gemeint haben könnte?

Wolfgang Linder: Da bin ich der falsche Adressat für Ihre Frage. (lacht) Ich werbe ja nicht für Vertrauen in die elektronische Gesundheitskarte, sondern möchte Mißtrauen säen. Der Kern meiner Kritik richtet sich zum einen auf die lebenslange, behandlungsübergreifende Krankenakte, die von jedem Krankenversicherten erstellt werden wird. Das haben Frau Thiess [5] in ihrem Vortrag und, gegen Ende der Diskussion, auch jener Arzt, der das Beispiel des transsexuellen Menschen nannte, der eine Geschlechtsumwandlung gemacht hat, sehr eindrücklich geschildert.

Ich möchte nicht im Lichte meiner gesamten Krankheitsgeschichte betrachtet werden, denn es hat Lebensabschnitte gegeben, da war ich ein anderer Mensch mit anderen gesundheitlichen Schwierigkeiten. Jetzt habe ich Altersprobleme, nicht Jugendprobleme. Auch als relativ normaler Mensch, der keine Krankheiten hat, die gesellschaftlich diskriminiert werden, möchte ich das nicht.

Zum anderen übe ich Kritik daran, daß die Daten möglichst aller Krankenversicherten auf Servern abgelegt werden. Darin besteht das Ziel, erst dann rentiert sich das System. Warum ich das für gefährlich halte, möchte ich an einem Beispiel erläutern, wofür in meinem Vortrag die Zeit nicht reichte. Im "Deutschen Ärzteblatt" vom Februar 2012 wird unter der Überschrift: "Sekundärnutzung von Behandlungsdaten" [6] über das europäische Forschungsprojekt Electronic Health Records for Clinical Research - EHR4CR - berichtet. [7]‍ ‍Demnach soll bis zum Jahr 2014 eine europaweite Technologieplattform aufgebaut werden, "die künftig die Sekundärnutzung von Daten aus elektronischen Patientenakten für die klinische Forschung ermöglichen soll. Der Hintergrund: Mit der Sekundärnutzung von Daten aus elektronischen Patientenakten für die medizinische Forschung könnten Kosten gespart und klinische Forschungsprojekte schneller und effizienter durchgeführt werden. Vor allem könnten die Forscher geeignete Studienpatienten besser identifizieren - bisher eine der größten Schwierigkeiten bei der Planung und Durchführung klinischer Studien. Ziel ist es, über die geplante Plattform elektronische Patientenakten nahtlos in bestehende Forschungsplattformen und Netzwerke des Gesundheitswesens zu integrieren."

SB: Wie verstehen Sie "nahtlos"? Soll damit gesagt werden, daß der Patient nichts von der Verwendung seiner Daten erfährt, er also der Sekundärnutzung nicht widerspricht und dies demnach "nahtlos" über die Bühne gehen soll?

WL: Die Betreiber dieses Projekts sehen im rechtlichen Rahmen eine Schwierigkeit, daß "auf dem Weg noch zahlreiche rechtliche und ethische Fragen zu klären" sind. Es ist ihnen lästig, daß der rechtliche Rahmen bei der "grenzüberschreitenden Nutzung von Patientendaten" insbesondere auch deshalb derzeit noch unklar ist, weil die jetzigen Bestimmungen - ärgerlicherweise, füge ich hier ein - innerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Union stark voneinander abweichen. Es muß also noch angeglichen werden.

SB: Sollten da beim Datenschützer nicht alle Alarmglocken klingeln?

WL: Ja, das sollten sie.

SB: Warum gilt das nicht auch für den Bundesdatenschutzbeauftragten Peter Schaar, der die elektronische Gesundheitskarte mehr oder weniger abgesegnet hat und Ihre Bedenken eigentlich kennen müßte?

WL: Das Grundrechtekomitee, für das ich hier aufgetreten bin und für das ich arbeite, hat alle Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder angeschrieben und darin auf die Gefährlichkeit dieses Projekts hingewiesen. Es hat noch einmal die Meinung der Datenschützer gerade vor dem Hintergrund abgefragt, daß das Projekt jetzt so energisch unter Druck vorangetrieben wird. Daraufhin haben wir eine einzige Antwort des Bundesdatenschutzbeauftragten bekommen, die stellvertretend für alle Landesdatenschutzbeauftragten war. Die Antwort finde ich so ärmlich und traurig! Anschließend haben wir eine Presseerklärung rausgegeben.

SB: Ist die noch verfügbar?

WL: Ja, beim Grundrechtekomitee [8]. Daraufhin ist keine öffentliche Reaktion gekommen. Die Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder gehen erstens davon aus, daß die Daten wirksam verschlüsselt sind, und zweitens, daß die "freiwilligen Anwendungen" [9] eben freiwillig sind. Damit ist für sie die Sache klar. Da gibt es eine Arbeitsgruppe in der gematik, daran nehmen Vertreter dieser Gesellschaft, des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnologie (BSI), der Bundesdatenschutzbeauftragte und einzelne Landesdatenschutzbeauftragte teil.

Meiner Erfahrung nach - ich habe ja früher auch in solchen Zusammenhängen gearbeitet - werden die Datenschutzbeauftragten mit Informationen zugeschüttet, die sie gar nicht alle verarbeiten können. Außerdem wird immer gesagt: Ihr seid doch von Anfang an dabei, ihr könnt jetzt nicht ausscheren. Der Bundesdatenschutzbeauftragte hat es als Erfolg verkauft, daß sie in die Arbeitsgruppe eingebunden sind. Ich dagegen finde, daß diese Einbindung eine Gefahr darstellt. Man hat nicht mehr die Distanz, kann nicht mehr frei agieren und sagen: "Bis hierher und nicht weiter."

SB: Wie bewerten Sie die Freiwilligkeit, mit der die Krankenversicherten angeblich über ihre Gesundheitsdaten bestimmen können - läuft nicht das ganze Konzept, das von der Bundesregierung und von den Gesundheitsverbänden vorangetrieben wird, darauf hinaus, große Datenbanken anzulegen, die weitergehend nutzbar sind? Müßten sie sich ansonsten nicht mit einer einfachen Karte oder einem Stick als Speichermedium, das tatsächlich in den Händen der Krankenversicherten bleibt, zufriedengeben?

WL: Ich war bis 2004 aktiver Bediensteter im Zusammenhang mit Datenschutz. Damals war gerade der Paragraph 291a SGB V in Kraft getreten. Die Sache mit der Freiwilligkeit hatten damals die Datenschutzbeauftragten in das Gesetz reingedrückt. Wir waren ganz verblüfft, daß das Bundesministerium für Gesundheit sich das hat reindrücken lassen! Auf der anderen Seite haben wird damals die Position eingenommen, daß es keine zentralen Sammlungen von Gesundheitsdaten geben soll. Im Herbst 2005 war klar: Das einzige Modell, das noch vom Bundesgesundheitsministerium und der gematik vorangetrieben wurde, war ausgerechnet die zentrale Sammlung der Daten.

Ich glaube, daß sie das mit der Freiwilligkeit nur geschluckt haben, weil sie dachten, wir haben die Datenschützer friedlich gestimmt und gehen erstmal die vordringlichen Sachen an. Und mit dieser Freiwilligkeit, damit beschäftigen wir uns später; man kann Gesetze ja immer ändern.

Meines Erachtens hatten sie dieses Forschungsprojekt EHR4CR, das es damals natürlich noch nicht gab, schon im Hinterkopf, nämlich daß man die zentrale Datensammlung für Planung, Forschung und Evaluierung aller Art nutzen kann. Sicherlich kann man selbst dabei immer noch Datenschutz einbauen, aber die Versuchung, immer mehr Daten im Rahmen von Forschungsprojekten zu erhalten, ist groß.

Da kann man zunächst einmal sagen, daß man den Personenbezug nicht braucht. Aber wenn man zum Beispiel Längsschnittuntersuchungen machen will, was die eigentlich interessanten Untersuchungen sind, bei denen auf einzelne Personen bezogen die gesundheitliche Entwicklung über mehrere Jahre beobachtet wird, braucht man einen Personenbezug. Der kann immer noch pseudonymisiert sein. Solche Studien können immer noch so angelegt sein, daß man nicht wissen muß, daß das der Wolfgang Linder ist. Aber dann will man ja vielleicht noch Fragen stellen und damit hat man dann den Personenbezug.

SB: Aus der Sicht des Forschers wäre das sehr attraktiv.

WL: Ja, und wenn man dann auf der anderen Seite sieht, mit welchen Methoden die Pharmaindustrie versucht, an die bei Ärzten gespeicherten Daten ranzukommen. Dahinter steckt reichlich Energie. Darüber hat vor kurzem der "Spiegel" [10] berichtet. Dem Magazin zufolge hat ein Pharmaunternehmen über Tricks versucht, Ärzte dazu zu bringen, ihre Patientendaten herauszugeben. Wenn erst die e-Card eingeführt ist, bräuchten sie das gar nicht mehr, dann könnten sie an die zentralen Datenbestände gehen.

SB: Die Europäische Union hat im Jahr 2000 die sogenannte Lissabon-Strategie auf den Weg gebracht. Europa solle binnen zehn Jahren zum weltweit führenden Forschungsstandort ausgebaut werden. Ein Schwerpunkt der Forschung war Biotechnologie und Medizin. Das deckt sich mit der vermuteten langfristigen Strategie, von der Sie eben sprachen.

WL: Wenn man jetzt sieht, welches Interesse an den elektronischen Patientenakten besteht, kann man sich vorstellen, als wie lästig die Mitwirkungsmöglichkeiten der Patienten empfunden werden. Es sind verschiedene Entwicklungen vorstellbar. Wie Frau Dr. Lüder [11] in ihrem Vortrag sagte, tun die Ärzte alle das, was ihnen von oben gesagt wird. Die reden jetzt auf ihre Patienten ein, daß sie freiwillige Angaben auf der e-Card machen. Deshalb lautet eine Kritik daran: Der Patient ist dem Arzt nicht gleichberechtigt, sondern er sucht Hilfe beim Arzt. Wenn dieser ihm sagt, mach' mit, dann macht der mit.

Eine weitere Möglichkeit, wie es weitergeht, könnte sein, daß bei Veranstaltungen wie dieser massenhaft Ärzte zu Widerständigen herangebildet werden. Und die beraten jetzt alle ihre Patienten: "Macht nicht mit!" Und die machen dann nicht mit. Das wiederum würde die Interessenten an der e-Card ärgern, und es könnte eine Gesetzesinitiative kommen, die in irgendeinem umfangreichen Artikel untergebracht wird, wo es um ganz andere Sachen geht und dessen Titel auch ganz anders lautet. Der Gesetzesentwurf könnte in einem Änderungsantrag zur letzten Lesung dem Parlament vorgelegt werden, nach der Geschäftsordnung des Bundestags geht das. Ich habe darüber einen Aufsatz in dem vom Grundrechtekomitee herausgegebenen Buch "Digitalisierte Patienten - verkaufte Krankheiten" [12] geschrieben. Drei der fünf Lehrstücke, die ich darin aufgeführt habe, sind verbunden mit solchen Gesetzesinitiativen, und zwar mit den Änderungsanträgen, die in letzter Minute ohne große parlamentarische Debatte durchgezogen wurden. Deshalb halte ich es für vorstellbar, daß auf diese Weise auf einmal die Mitwirkung der Patienten ausgeschaltet werden könnte.

SB: Wer darf solche Änderungsanträge einfließen lassen, und wie funktioniert das?

WL: Das geht über die Fraktionen. Die Mehrheitsfraktionen im Bundestag können das machen, die Minderheitsfraktionen können es versuchen, aber das würde natürlich abgelehnt.

SB: Mehrheitsfraktionen sind natürlich immer auch Parteigänger und verfolgen spezielle Interessen, die nicht unbedingt mit denen des Parlaments insgesamt übereinstimmen. Widerspricht so ein Verfahren nicht der Idee des Parlamentarismus, wonach über solche wichtigen Entscheidungen debattiert werden sollte?

WL: Das sind eben die zwei Seiten. Auf der einen Seite soll das Parlament die Regierung kontrollieren, auf der anderen Seite wählen die Mehrheitsfraktionen die Regierung. Die Bundeskanzlerin bestellt dann ihre Minister, und diese tragen die Regierung. Wie unwirksam die Kontrolle durch die Opposition sein kann, zeigen die Gesetzgebungsvorhaben, über die wir hier sprechen.

SB: Die elektronische Gesundheitskarte wurde zunächst von Rot-Grün angestoßen, dann von Schwarz-Rot - der großen Koalition - fortgesetzt, und jetzt, nach einigem Stolpern, von Schwarz-Gelb forciert vorangetrieben. Anscheinend gibt es eine Permanenz in der gesamten Regierungstätigkeit, die unabhängig von fast allen Parteien ist. Was glauben Sie, wie kommt so eine Permanenz zustande?

WL: Alle der von Ihnen farbig gekennzeichneten Parteien stehen positiv zur Gesundheitskarte. Die einzigen, die dagegen sind, sind Die Linke und hoffentlich die Piraten.

SB: Bei denen weiß man das noch nicht so genau. Bei den Piraten gibt es verschiedene Fraktionen. Einige sind für die Datenfreigabe, man könnte sie die "Post-Privacy-Piraten" nennen, andere eher nicht. Keinesfalls vertreten die Piraten geschlossen einen strengen Datenschutz.

WL: Auch ist es interessant, daß die FDP zunächst sehr kritisch gegenüber der elektronischen Gesundheitskarte eingestellt war. Das war die alte FDP. Ihr wird nachgesagt, daß sie die freiberuflichen, standesbewußten Ärzte vertritt. Jetzt ist aber die neue FDP mit Philipp Rösler und Daniel Bahr dran. Die sind für die Ökonomisierung des Gesundheitswesens, für die Gesundheitswirtschaft und nicht mehr für die standesbewußten altmodischen Ärzte. Deshalb war es völlig logisch und klar, daß, sobald Rösler und Bahr an die Regierung kamen, daß das Projekt elektronische Gesundheitskarte nicht gestoppt wurde, sondern neuen Schwung erhielt. Die neue elektronische Gesundheitskarte ist ein Paradeprojekt für die neue FDP, für den Neoliberalismus.

Zuschauerdebatte - Foto: © 2012 by Schattenblick

Vorträge und Diskussion - sachkundige Einwände gegen das neoliberale Projekt e-Card
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Bei der Konferenz war häufiger die Rede davon, daß es auch ganz konkrete Interessen gibt, die diese elektronische Gesundheitskarte einführen wollen. Könnten Sie das etwas genauer fassen?

WL: Das sind einmal die gesundheitsbürokratischen Interessen, welche die Kosten eindämmen wollen, also die Krankenkassen. Aber die sind auch wiederum nicht durchgängig für die e-Card. Sie sind auch skeptisch, weil sie die Kosten tragen sollen.

SB: Die Krankenkassen wurden ja, wenn ich das richtig erinnere, genötigt, im vergangenen Jahr 10 Prozent, in diesem Jahr weitere 60 Prozent ihrer Versicherten mit der elektronischen Gesundheitskarte auszustatten.

WL: Ja, sie wurden genötigt, aber sie wurden auch angefüttert durch das Versichertenstammdaten-Management [13]. Daran haben die Krankenkassen natürlich wieder ein Interesse. Die Apotheker haben ein Interesse am elektronischen Rezept - da brauchen sie die kaum leserlichen Arztrezepte nicht mehr zu entziffern, beziehungsweise die müssen nicht mehr in den Apotheken-Rechenzentren eingescannt oder ausgelesen werden. Es gibt also viele Institutionen und Menschen, die interessiert daran sind, auf diesen Datenpool zuzugreifen.

Ob anonymisiert, ob pseudonymisiert, ob personenbezogen, ob unter den gegenwärtigen gesetzlichen Bestimmungen, ob unter geänderten gesetzlichen Bestimmungen - das lassen wir alles mal dahingestellt sein: Es entsteht ein unglaublicher Datenpool, der dann unter gegenwärtigen oder veränderten Umständen heute oder zukünftig für alle möglichen Zwecke zur Verfügung steht. Das können auch sinnvolle Zwecke sein. Man kann nicht sagen, daß jede Forschung sinnlos ist.

SB: Auf der Website der gematik [14] ist zu lesen, daß der Patient die vollständige Eigenverantwortung über seine Daten hat, und es wird dort sehr aufwendig beschrieben, wie die Daten verschlüsselt, zerhackt und an verschiedenen Orten abgelegt werden. Zudem soll die e-Card nur mit einem bestimmten PIN-Code und auch nur dann, wenn die Heilberufskarte ebenfalls im Computer steckt, für den Arzt lesbar sein. Es wird so dargestellt, als wenn das wirklich sicher wäre. Eben jedoch sagte Herr Prof. Pohl, da sei absolut nichts sicher.

WL: (lacht) Vor mir sind sie sicher! Ich komme noch aus dem Papierzeitalter. Aber ich glaube auch nicht, daß die Daten wirklich sicher sind.

SB: Sollten sich die politischen Verhältnisse ändern, existieren auf einmal riesige Datenbanken, die dann im Prinzip verfügbar wären. Wäre nicht jede Verschlüsselung, Anonymisierung und Pseudonymisierung in dem Moment, da eine andere Regierung sagt, wir haben anderweitiges Interesse an den Daten, hinfällig?

WL: Dazu gibt ja es zwei passende Beispiele, einmal die LKW-Maut, als Herr Schäuble im Anschluß an einige öffentliche, spektakuläre Straftaten, forderte, daß das Mautsystem entgegen der gesetzlichen Bestimmung auch für die Strafverfolgungsorgane zur Verfügung stehen müßte. Und das zweite, das zeitlich davor liegt, war der Angriff auf die Twin Towers in New York. Danach wurden auch in Deutschland beispielsweise die Daten der Universitäten ausgewertet.

SB: Mit welcher Begründung?

WL: Ich war damals noch aktiv im Dienst und mußte den Landesbeauftragten in einer Besprechung beim Bremer Innensenator vertreten, wo ich massiv unter Druck gesetzt wurde. Das war kurz nach dem 11. September 2001, wo man auch selber unter dem Eindruck der Ereignisse stand. Ich kann nicht sagen, daß ich nicht ebenfalls durch die Stimmung beeinflußt war. Bei jedem Argument, mit dem ich irgendwelche Schranken, Sicherungsstäbe in die Datenauswertung einbauen wollte, wurde ich gleich konfrontiert mit der Gefahr, die doch jetzt bestünde, auch in Deutschland, daß auch hierzulande jederzeit Angriffe gestartet werden können und daß ich doch nicht verantwortlich dafür sein wolle, daß das nicht verhindert wurde. Das war damals die Situation.

SB: Heute steht die Öffentlichkeit nicht mehr ganz so unter diesem Eindruck, obwohl natürlich die sicherheitsstaatlichen Strukturen in den letzten zehn Jahren nicht abgebaut wurden.

WL: Die Sicherheitssituation kann sich jederzeit wieder verschlechtern. Oder es kann eine Hysterie entfacht werden. Gucken Sie nur mal nach Frankreich, was Präsident Sarkozy, um wiedergewählt zu werden, eine Hysterie entfaltet, indem er versucht, Minderheiten zu diskriminieren. Erstens: Sind wir davor sicher? Zweitens kann sich doch die wirtschaftliche Situation jederzeit dramatisch verschlechtern und plötzlich Zwänge ausgeübt werden. Nicht nur Spanien, Portugal und Griechenland und Irland, vielleicht ist irgendwann auch Deutschland einmal dran. Wer schützt uns dann davor, daß diese Situation ausgenutzt wird, um rechtsstaatliche Datenschutzgarantien abzubauen?

SB: Beispielsweise wäre es im Rahmen einer Notstandsgesetzgebung vorstellbar, daß der Datenschutz aufgeweicht wird. Sehen Sie darin eine Gefahr?

WL: Das sehe ich so. Solche Datenbestände könnten dann für Sicherheitszwecke genutzt werden, indem zum Beispiel die Versicherten in verschiedene Kategorien eingruppiert werden. In England gibt es schon so etwas. Da wird durch die Datenverarbeitung automatisch gecheckt, ob sich bei bestimmten Patientengruppen bestimmte teure Behandlungsmethoden oder Medikationen lohnen.

SB: Weil diese eine Erbkrankheit in der Familie haben, wie es ein Konferenzteilnehmer vorhin während der Diskussion geschildert hat?

WL: Ja, oder noch harmloser, wie die Lebensaussichten einer Person sind. Erbkrankheiten, könnte man ja sagen, sind eher selten.

SB: Könnten auch soziale Verhältnisse eine Rolle spielen?

WL: Ja, zum Beispiel hinsichtlich der Frage, wie wertvoll jemand für die Volkswirtschaft ist, ob er rehabilitiert wird und wieder ins Berufsleben zurückkehren kann oder nicht, wie seine Lebensaussichten sind. Das könnte dann humanistisch verblümt werden, wie groß seine Aussichten auf ein lebenswertes Leben sind, wenn ein bestimmtes teures Medikament eingesetzt wird, und ähnliches. Das gibt es ja schon bei der Organtransplantation.

Ich will damit sagen, daß sich da ganz viele Szenarien denken oder entwickeln lassen. Wobei natürlich immer die Gefahr besteht, daß uns das als Spökenkiekerei, Verfolgungswahn oder Hysterie vorgeworfen wird. Aber ich stehe dazu. Man braucht doch nur an das 20. Jahrhundert zu denken, an die zwei Weltkriege, die NS-Zeit, den Stalinismus, alles das, was im Europa im 20. Jahrhundert abgelaufen ist. Als ob der Staat und die Organe, die regieren - ich unterstelle jetzt einmal, zur Zeit zum Wohle der Menschen -, als ob diese Organe und Institutionen automatisch zum Wohle der ihnen Unterworfenen agieren müssen. Das widerspricht einfach der historischen Erfahrung, daß das notwendigerweise so ist.

SB: Müßte aus Ihrer Sicht ein Datenschutzbeauftragter das nicht auch eigentlich in Rechnung stellen bei seiner Bewertung, so daß er nicht nur rein auf die Daten schaut, wie die verschlüsselt sind, und das dann abnickt, sondern daß er auch den historischen Kontext berücksichtigt und die gesellschaftlichen Entwicklungen?

WL: Ja, natürlich. Das Bundesverfassungsgericht hat das 1983 beim berühmten Volkszählungsurteil getan. Ich unterstelle der damaligen Bundesregierung nicht, daß sie das Volkszählungsgesetz für totalitäre, menschenfeindliche Zwecke ausnutzen wollte. Aber das Bundesverfassungsgericht hat einen Bremsstab eingezogen. Jetzt steht meines Erachtens das Verhalten der Datenschutzbeauftragten bei der Gesundheitskarte nicht in der Tradition dieses Urteils des Bundesverfassungsgerichts, um es einmal so auszudrücken.

Jan Kuhlmann, stehend, am Mikrophon - Foto: © 2012 by Schattenblick

Rechtsanwalt Jan Kuhlmann berichtet über den Versuch eines Mandanten, rechtlich gegen die e-Card vorzugehen
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Gibt es Bestrebungen, über das Bundesverfassungsgericht gegen die E-Card vorzugehen?

WL: Das versucht der Rechtsanwalt Jan Kuhlmann, der auf der Konferenz in einer der Diskussionsphasen gesprochen hat. Das Problem besteht anscheinend darin, daß das Sozialgericht Düsseldorf keinen Termin anberaumt. Die schieben die Sache auf die lange Bank - daher rührt ja der Ausdruck auf die lange Bank schieben. Das geht auf das Reichskammergericht in Wetzlar im alten deutschen Reich noch vor der Zeit von Napoleon zurück. (lacht) Das Sozialgericht Düsseldorf ist wohl in guter alter Reichstradition. Der Rechtsanwalt braucht den Termin, denn bevor ein Bürger das Bundesverfassungsgericht anruft, muß er den Rechtsweg ausgeschöpft haben. Und auf diesem Rechtsweg befindet sich der Mandant von Herrn Kuhlmann.

SB: Ich komme nochmal auf die sogenannte Spökenkiekerei zurück, um ihr vielleicht eine andere Wendung zu geben. Wäre es nicht erste Pflicht eines mündigen, aufmerksamen Bürgers, darauf zu achten oder zu fragen, was die Regierung macht, welche Gesetze auf ihn zukommen, was für Maßnahmen eben auch im Bereich der Gesundheit getroffen werden, und sich zu erkundigen, welche Konsequenzen die e-Card haben könnte?

WL: Darüber habe ich viel nachgedacht. In meinem Freundeskreis bin ich ja inzwischen berüchtigt, daß ich immer mit dem Thema Gesundheitskarte komme. Ich habe jetzt zwei ganz konkrete Fälle erlebt mit der Gesundheitskarte und Freunden, auf die ich große Stücke halte, politisch bewußte, seriöse Menschen. Der eine hatte zunächst an seine Krankenkasse geschrieben, daß er die Karte nicht wolle. Der hat keine inhaltliche Antwort bekommen, sondern einfach wieder eine Aufforderung. Daraufhin hat er mich angerufen und hat gesagt: "Lieber Wolfgang, habe bitte Verständnis, ich will da keinen Ärger" - das ist ein älterer Mensch, der ist 85 -, "ich habe andere Probleme."

Der andere Freund - ich will das mal sagen, weil ich das super fand -, der ist zur Beerdigung von Fritz Teufel aus Bremen nach Berlin gefahren, weil er dabei sein wollte.

SB: Ein alter Kommunarde ...

WL: (lacht) Gut, ich will damit sagen, wes Geistes Kind dieser Mensch ist. Auch ein sehr humorvoller Mensch, er hat irgendwie ein Faible für Fritz Teufel. Wir saßen also gemütlich in einer Kneipe, und dann zückt er seine Brieftasche, zeigt mir stolz die Karte und sagt: "Ich habe jetzt auch die Gesundheitskarte." Er guckt mich nett und herausfordernd zugleich an. Das einzige, was ich noch geschafft habe, war, ihm zu sagen: "Ja mein Lieber, wenn es deiner Gesundheit nutzt." Der Spruch fiel mir noch ein. Es gibt ja den berühmten Satz von Fritz Teufel, der vor Gericht aufstehen sollte, und sagte: "Wenn es der Rechtsfindung nutzt."

Ich hätte natürlich aufstehen können und sagen: Das Tischtuch ist zerschnitten. Aber es ist ein guter Freund. Da ist man sprachlos. Ich schließe daraus, daß die Ängste gerade im Gesundheitsbereich mit Versicherungen, wo es manchmal um viel Geld geht, massiv sind. Da stehen einfach andere Dinge im Vordergrund. Das ist natürlich eine große Gefahr.

SB: Herzlichen Dank, Herr Linder, für das ausführliche Gespräch.


Fußnoten:

[1]‍ ‍BERICHT/010: Das System e-Card - Optimierter Zugriff auf die Ressource Mensch (SB), 21.il 2012
http://schattenblick.com/infopool/medizin/report/m0rb0010.html

[2]‍ ‍Prof. Hartmut Pohl, Sprecher des Präsidiumsarbeitskreises "Datenschutz und IT Sicherheit" der Gesellschaft für Informatik (GI).

[3]‍ ‍Die gematik - Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte mbH wurde am 11. Januar 2005 von den Spitzenverbänden des deutschen Gesundheitswesens gegründet, um gemäß gesetzlichem Auftrag die elektronische Gesundheitskarte und die Telematikinfrastruktur als Plattform einer vernetzten Versorgung einzuführen. Gesellschafter sind die Bundesärztekammer / Arbeitsgemeinschaft der deutschen Ärztekammer, Bundeszahnärztekammer, DAV - Deutscher Apothekerverband e.V., Deutsche Krankenhausgesellschaft e.V., der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV), Kassenärztliche Bundesvereinigung und die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung.

[4] http://www.kathrin-vogler.de/themen/gesundheit/elektronische_gesundheitskarte/smarx/

[5]‍ ‍Gabi Thiess, Patientenvertreterin.

[6]‍ ‍"Sekundärnutzung von Behandlungsdaten", Dtsch. Arztebl 2012; 109(7): A-336 / B-291 / C-287
http://www.aerzteblatt.de/archiv/122714/Forschung-Sekundaernutzung-von-Behandlungsdaten

[7]‍ ‍EHR4CR - Electronic Health Records for Clinical Research (Elektronische Gesundheitsdaten für klinische Forschungen) ist ein gemeinsames Forschungsprogramm von akademischen Einrichtungen der Europäischen Union und Partnern aus der Wirtschaft. Finanziert wird EHR4CR von 2011 bis 2014 mit rund 16 Mio. Euro aus dem 7. Rahmenprogramm der EU-Kommission. Es wird als ein Public-private-partnership-Projekt zwischen der Europäischen Union und der European Federation of Pharmaceutical Industries and Associations (EFPIA), dem europäischen Dachverband der nationalen Verbände forschender Pharmaunternehmen sowie einzelner Pharmaunternehmen, durchgeführt. Abgesehen von den Pharmaunternehmen AstraZeneca, F. Hoffmann-La Roche, Lilly, Sanofi-Aventis, MERCK, AMGEN, Johnson & Johnson, GlaxoSmithKline, Bayer Health Care und Novartis Pharma AG sind daran unter anderem aus Deutschland European Molecular Biology Laboratory (EMBL-EBI), Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Telematikplattform für Medizinische Forschungsnetze (TMF), Xclinical Gmbh, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf involviert. Diese Angaben wurde aus dem Internet abgerufen am 24. April 2012 von der Website:
http://www.ehr4cr.eu/docs/EHR4CR%20Executive%20Summary%20Nov%2005,%202011.pdf

[8]‍ ‍http://www.grundrechtekomitee.de/node/423

[9]‍ ‍Die e-Card verfügt über einen verpflichtenden Stammdatensatz und über freiwillige Anwendungen, über deren Umfang die Krankenversicherten entscheiden dürfen.

[10]‍ ‍"Interne Novartis-Dokumente zeigen, wie sich Pharmavertreter offenbar Zugang zu Ärzte-Computern verschaffen", Spiegel Online, 25. März 2012
http://www.spiegel.de/spiegel/vorab/0,1518,823486,00.html

[11]‍ ‍Dr. Silke Lüder ist Ärztin aus Hamburg. Als Mitglied der Initiative "Stoppt-die-e-Card!" hat sie die Konferenz am 18. April in Berlin mitorganisiert und ein Einführungsreferat gehalten.

[12]‍ ‍Wolfgang Linder: "Die elektronische Gesundheitskarte - Baustein der zentralen Telematikinfrastruktur in der Gesundheitsökonomie - oder: Fünf Lehrstücke, wie Bürokratie und Lobby ihre Interessen durchsetzen - oder leichtfertig und willfährig der Deutsche Bundestag Gesetze beschließt und ändert", in: "Digitalisierte Patienten - verkaufte Krankheiten. Elektronische Gesundheitskarte und die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens", hrsg. vom Komitee für Grundrechte und Demokratie e. V., Köln, 1. Aufl., April 2011.

[13]‍ ‍Die Versichertenstammdaten werden auf der e-Card abgelegt. Diese Daten gehören nicht zum sogenannten Basis-Rollout, der gegenwärtig stattfindet, und werden erst sukzessive zu späteren Zeitpunkten aufgespielt. Diese Daten können sensible medizinische Bereiche berühren und sollen regelmäßig von den Arztpraxen aktualisiert werden

[14]‍ ‍http://www.gematik.de/cms/de/header_navigation/faq/faq_1.jsp

Interviewpartner, sitzend, in Hotel-Lounge - Foto: © 2012 by Schattenblick

Wolfgang Linder
Foto: © 2012 by Schattenblick

24.‍ ‍April 2012