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INTERVIEW/019: Das System e-Card - Martin Grauduszus sieht ärztliches Ethos in Gefahr (SB)


Ökonomisierung des Gesundheitssystems verliert den Menschen aus dem Blick

Interview am 28. Juni 2012 in Düsseldorf

Der Facharzt für Allgemeinmedizin und Sportmediziner Dr. med. Martin Grauduszus ist Mitbegründer und seit 2005 Präsident der Freien Ärzteschaft [1] und Mitglied der nordrheinischen Kammerversammlung. Am 28. Juni 2012 kam es vor dem Sozialgericht Düsseldorf in erster Instanz zur Verhandlung der Klage des Wuppertalers Sven S. gegen die zwangsweise Verordnung der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) [2]. Nach der Verhandlung beantwortete Martin Grauduszus, der sich seit mehreren Jahren gegen die Einführung der e-Card engagiert, dem Schattenblick einige Fragen zu der Bewertung des Urteils wie auch den Folgen der Veränderungen im Gesundheitssystem für Patienten und Ärzteschaft.

Martin Grauduszus - Foto: © 2012 by Schattenblick

Martin Grauduszus
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick: Herr Grauduszus, wie bewerten Sie das heutige Urteil?

Martin Grauduszus: Ich habe vom Sozialgericht Düsseldorf eigentlich nichts anderes erwartet, obwohl ich während der Verhandlung dachte, daß man vielleicht auch der Begründung des Antragstellers folgen könnte. Aber das Sozialgericht Düsseldorf sieht sich nicht in der Verantwortung, über eine verfassungsrechtliche Problematik zu urteilen. Man zieht sich nach Beurteilung der Situation auf das zurück, was im Moment mit der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) durchgeführt wird. Dabei werden prospektive Elemente nicht miteinbezogen, wie zum Beispiel, daß die Stammdaten, die jetzt auf der Krankenversichertenkarte stehen und demnächst auf die eGK kommen, übers Internet abgeglichen werden sollen. Nach unserer Einschätzung wird es nicht lange dauern, bis auch die Diagnosen von Patienten, die an Gesundheitsprogrammen, den sogenannten Disease-Management- Programmen, teilnehmen, übers Internet aktualisiert werden. Dann ist es nicht mehr nur eine Karte, die Stammdaten wie Geburtsdatum, Wohnort oder Krankenversicherungsnummer führt, sondern es werden in diesem ersten Schritt auch Gesundheitsdaten übermittelt. Heute wurde auch das elektronische Rezept angesprochen, das dann verpflichtend ist. Durch die Medikamentenverordnung lassen sich durchaus Rückschlüsse auf die Krankheiten der Patienten ziehen.

Ich kann der Argumentation, daß man das trennen kann, nicht folgen, aber das ist eben nicht Aufgabe des Sozialgerichts und auch nicht der nächsten Instanz, darüber wird das Bundesverfassungsgericht dann insgesamt urteilen müssen. Ich konnte heute der Argumentation des Antragstellers und seines Vertreters, Herr Kuhlmann, ganz klar folgen. Es ist für mich wirklich nicht nachvollziehbar, daß die Betreiberorganisation gematik ein Projekt auf Gesetzesgrundlage umsetzt, das dem gesetzlichen Anspruch überhaupt nicht entspricht. Dann wird das Konzept zwischenzeitlich noch ein wenig korrigiert, wodurch die Rechte des Einzelnen stark eingeschränkt werden. Seine Persönlichkeitsrechte und seine informationelle Selbstbestimmung werden im Moment nicht berücksichtigt. Das wird das Bundesverfassungsgericht mit Sicherheit nicht auslassen. Wir haben das auch beim Urteil über die Vorratsdatenspeicherung festgestellt.

SB: In welchem Maße würde sich denn aus ärztlicher Sicht Ihre Rolle und Ihr Verhältnis zu Patienten bei Einführung der elektronischen Gesundheitskarte ändern?

MG: Es wird zu einer doppelten Dokumentation kommen. Zum einen durch das, was zur Verordnung von Therapien oder Medikamenten erforderlich ist. Diese Informationen würden dann an den Kostenträger gehen müssen. Was den Patienten aber wirklich treibt, würde ich in einer eigenen Dokumentation nochmal festhalten müssen. Das erleben wir in unserer Gesellschaft in vielen Bereichen. Es gibt auf der einen Seite die öffentliche Verwaltungsebene und auf der anderen die Privatebene der Menschen. Beides dissoziiert schon im großen Umfang. Die Obrigkeit macht heute Gesetze, die bei den Bürgern nicht mehr ankommen. Sie fühlen sich dann nicht mehr wahrgenommen und vertreten, und das soll dann auch in unseren Praxen stattfinden. Diese Dissoziation der Persönlichkeit wird für uns unerträglich.

Interessant ist, daß man dieses System in Österreich schon eingeführt hat. Wenn da gewisse Präparate verordnet werden, die gar nicht einmal so teuer sind, dann muß ein Profil des Patienten an den Kostenträger geschickt werden. Diese Profile sind am Ende standardisiert, so daß nachher Kunstprodukte entstehen. Es ist ein bürokratischer Irrsinn mit Ergebnissen, die der Realität nicht mehr entsprechen. Irgendwann muß man anfangen, wieder pragmatisch zu denken. In unserem Gesundheitssystem geht es in erster Linie um den Menschen, das Individuum, seine Privatsphäre und seine Gesundheit und nicht nur um die Eindämmung von Kosten. Das ewige Gerede heutzutage dient doch wie auch die langen Verfahren um Genehmigungen dazu, Patienten auszugrenzen und sie am Ende in die Situation zu bringen, daß sie keine Motivation mehr haben und dadurch auf Behandlungen, Ansprüche und Therapien verzichten. Das sind doch unmenschliche Entwicklungen.

Herr Kuhlmann [3] sagte heute in einem Online-Interview, die Kostenträger vertreten nicht die Interessen der Patienten, sondern sie haben ein Eigeninteresse. Das heißt, sie sind eine Institution, die immer mehr wachsen und Gewinne rekrutieren will, aber die eigentliche Arbeit der Versorgung wird von diesen Kostenträgern in allen Bereichen schlechtgeredet. Es werden Statistiken erstellt, in denen wir immer wieder unfairer Kritik ausgesetzt sind. Mein persönlicher Eindruck ist, daß die Verantwortlichen bei den Kosten für die Verwaltung gar nicht wissen, was in der Versorgung tatsächlich geschieht, wenn es einem Menschen nicht gut geht und er nicht in ein spezielles Krankheitsbild paßt, sondern bei ihm mehrere Krankheitsbilder und Symptome auftreten.

Krankheit ist nicht nur ein Herzinfarkt, sondern da ist ein Mensch, der eine Durchblutungsstörung am Herzen mit einer Narbenbildung hat. Immer wird der ganze Mensch krank, andere Organe leiden mit, die Psyche oder Seele sind betroffen. Das ist ganz entscheidend beim Gesundwerden. Es braucht Vertrauen und ein fürsorgliches Umfeld, nicht nur Technik, aber sicherlich auch Technik, das ist keine Frage, wir leben heute in einer technischen Welt, die auch viele Vorteile bringt, aber man muß das Ganze miteinander kombinieren. Die Technik muß nützen, aber die Zuwendung, die Aufmerksamkeit und das Menschliche können Computer, kann IT nicht übernehmen.

SB: Geht dabei auch so etwas wie ein traditionelles ärztliches Ethos verloren oder ist das zu konservativ gedacht?

MG: Was das ärztliche Ethos betrifft, bin ich ganz konservativ. Ich bin der Meinung, daß Ärzte keine Provisionen nehmen sollen, wenn Medikamente verordnet oder Therapien angeboten werden. Das ist unärztlich und auch gegen die ärztliche Berufsordnung. Auf der anderen Seite ist es aber völlig normal und fällt nicht unter Korruption. Das muß man auch unterscheiden. Aber ein Arzt soll und darf so etwas nicht tun. Dieser ärztliche Ethos, dem Patienten verantwortlich zu sein, darf nicht verlorengehen. Die Gesamtentwicklung geht jedoch in die Richtung, daß der Vertragsarzt immer mehr dem Kostenträger verantwortlich ist und nicht mehr dem Patienten. Da hilft uns das Urteil vom Bundesgerichtshof vom letzten Freitag, obwohl in der Öffentlichkeit über Korruption gesprochen wird. Es hilft uns auf einer ganz anderen Ebene weiter, weil das Gesetz nämlich festgestellt hat, daß wir nicht Beauftragte der Kostenträger, sondern in erster Linie dem Patienten verantwortlich sind. Das ist der Kern dieses Urteils, der uns sehr froh gemacht hat.

SB: Wie bewerten Sie im Zusammenhang mit dem Urteil die Privatisierungswelle zum Beispiel der Kliniken? Sehen Sie darin eine Entwicklung, die dem Patienten dienlich sein kann?

MG: Es gibt eine Privatisierung, aber auch wenn es heißt, Konkurrenz belebt das Geschäft, denke ich, daß man tatsächlich auf dem Weg ist, alles privatisieren zu wollen, bis nachher nur noch fünf Player auf dem Markt sind. Heute erleben wir aber die ökonomischen Zwänge in öffentlich-rechtlichen karitativen Häusern genauso. Es ist ein völlig falscher Weg, eine Verdachtsdiagnose bei den Patienten festzulegen, ihn dann durch das System durchzuschleusen und am Ende abzurechnen.

Als ich von 1977 bis 1983 studierte, habe ich in dieser Zeit gelernt, nicht der Magen von Zimmer 7, sondern der Mensch mit dem Magenleiden hat Beschwerden. Damals hat man den Menschen noch als Ganzes betrachtet, mit einer Seele und unter psychosomatischem Aspekt. Jedenfalls hat sich diese Sichtweise heute bei ganz vielen von uns Ärzten meiner Generation in der ambulanten Medizin etabliert. Aber seit zehn oder zwölf Jahren hat sich im Rahmen der Ökonomisierung und Gesundheitswirtschaft eine Situation eingestellt, in der man gemäß der Diagnosis Related Groups (DRG) auf einmal wieder auf Krankheiten fixiert ist und nur noch auf die Diagnose schaut, nicht mehr auf den Menschen. Das ist eine furchtbare Entwicklung. Man hatte sehr viel dazugelernt, aber die Kostenträger und die Verwaltung zwingen uns auf einmal wieder, etwas zu machen, was eigentlich in den 60er und 70er Jahren überwunden wurde.

SB: Stehen Sie mit Ihrer Position gegen die Einführung der e-Card allein innerhalb der Ärzteschaft oder wird sie von Ihren Kollegen geteilt?

MG: Der Widerstand gegen die elektronische Gesundheitskarte und der Unmut darüber sind in der Ärzteschaft unglaublich stark. Der deutsche Ärztetag hat sogar eine energische Resolution herausgegeben, in der klar formuliert wurde, daß das Projekt gescheitert sei, und das, obwohl die Karte schon verteilt wird. Aber trotzdem gilt das Projekt als politisch gescheitert, also prospektiv gesprochen, es wird nichts mehr. Ich war selber erstaunt, daß man sich der Sache angenommen hat. Darin äußert sich letztlich der Unmut über die Gesamtentwicklung der Ökonomisierung, also des Managed-Care-Systems, das den Menschen gesundheitsverwaltet und katalogisiert und nicht mehr individuell nach seinen Bedürfnissen fragt. Aber es gibt Vorgaben, denen man gerecht werden muß, und das ist nachher in der ärztlichen Tätigkeit wichtiger als die Aufmerksamkeit für den Patienten. Das System nimmt einen hohen Stellenwert ein. Obwohl wir uns eigentlich dem Patienten widmen müßten, haben wir ständig andere Gedanken im Kopf.

SB: Es gibt also einen wachsenden Widerstand innerhalb der Ärzteschaft, aber sind denn auch viele Ihrer Kolleginnen und Kollegen bereit, sich in irgendeiner Form an einem Protest zu beteiligen?

MG: Teilweise beteiligen sie sich, aber Ärzte sind nicht besonders aufmüpfig und aktiv, und so ist folgendes passiert: Sie gehen in die innere Emigration. Viele junge Kollegen, von denen man sagt, sie würden nicht mehr arbeiten wollen, sind unter solchen Rahmenbedingungen, in denen sie zum Gesundheitsverwalter der Kostenträger im ambulanten Bereich oder zu einem Renditeoptimierer der Krankenhausträger werden, nicht mehr bereit, ärztlich-kurativ tätig zu sein. Dann gehen sie vielleicht ins Ausland oder in andere Berufe, wo sie nicht mehr diesen Arbeitsbedingungen ausgesetzt sind, aber sie können dann leider auch den schönen Arztberuf nicht mehr ausüben.

SB: Weil sie erkennen müssen, daß die Wirklichkeit immer weniger dem entspricht, was sie sich einmal vorgestellt haben?

MG: Ja. Der große Teil der Studenten und Schüler, die Ärzte werden wollten, haben ein Berufsbild vor Augen gehabt, das häufig durch den netten Arzt oder die Ärztin, die sich um die Menschen kümmert, geprägt war. Das hat mit Altruismus oder Samariterdenken zu tun. Und weil sich dieses Selbstbild nicht mehr leben läßt, sagt man irgendwann enttäuscht, da mache ich nicht mehr mit. Und dann haben wir einen Ärztemangel und brauchen auch noch Substitution, was wir kategorisch ablehnen.

SB: Herr Grauduszus, vielen Dank für das Gespräch.



Fußnoten:

[1] Die Freie Ärzteschaft sieht sich als Koordinator von Interessen niedergelassener Haus- und Fachärzte. Nach eigenen Angaben tritt sie für eine sichere, patienten- und zukunftsorientierte Medizin ein, bei der Arzt und Patient wieder im Mittelpunkt stehen sollen. Sie setzt sich für die Erhaltung und den Ausbau einer zeitgemäßen ambulanten Versorgung in freier Praxis ein, wendet sich gegen eine "rationierte Staatsmedizin und Bürokratisierung" und tritt für Solidarität aller Arztgruppen untereinander sowie menschliche Arbeitsverhältnisse und angemessene Bezahlung in den Medizinberufen ein.

[2] http://www.schattenblick.de/infopool/medizin/report/m0rb0013.html

[3] Siehe dazu Schattenblick - INFOPOOL - MEDIZIN - REPORT
INTERVIEW/018: Das System e-Card - Jan Kuhlmann über Akteure und Folgen des Projekts eGK (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/medizin/report/m0ri0018.html

13. Juli 2012