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MENSCHENRECHTE/042: Fachtag Werdenfelser Weg am 22.06.2016 - Vermeidung medikamentöser Fixierung (idw)


Katholische Stiftungsfachhochschule München - 23.06.2016

4. Fachtag Werdenfelser Weg am 22. Juli 2016 an der KSFH: Vermeidung medikamentöser Fixierung


Bereits im letzten Sommer diskutierten an die 400 Teilnehmer an der Katholischen Stiftungsfachhochschule München über medikamentöse Fixierung. Aufgrund der hohen Nachfrage und der Brisanz des Themas, haben sich die beiden Begründer und Initiatoren des "Werdenfelser Weges", Dr. Sebastian Kirsch und Josef Wassermann, nun für einen zweiten Fachtag entschieden, der sich abermals intensiv mit der Vermeidung von medikamentöser Fixierung alter, kranker und behinderter Menschen auseinandersetzt - dieses Mal mit inhaltlichem Schwerpunkt auf Projekten und Vorgehensweisen der Praxis.

Vermeidung medikamentöser Fixierung: an der KSFH diskutieren erneut Experten und (Fach-)Publikum zu dem aktuellen Thema

Die Fragestellung der medikamentösen Freiheitsentziehung stellt eine Grauzone in der Versorgung von alten, kranken oder behinderten Menschen dar. Es handelt sich hierbei um Medikamente, häufig Psychopharmaka, die dieser Gruppe von Personen ohne sonstigen therapeutischen Anlass verabreicht werden, mit der vorrangigen Zielsetzung, sie ruhig zu stellen und sie daran zu hindern, ihrem natürlichen Bewegungsbedürfnis nachzukommen. Einerseits gibt es dazu eine klare gesetzliche Grundlage (§ 1906 Abs. 4 BG), nach der dies nur mit Zustimmung des Betreuers und Genehmigung des Gerichts (wie bei mechanischen Fixierungen wie Bettgitter und Bauchgurten) geschehen darf. "Andererseits zeigt der Kontakt mit vielen meiner Richterkollegen, dass derartige Genehmigungsverfahren praktisch nicht stattfinden", sagt Dr. jur. Sebastian Kirsch, Richter am Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen und einer der beiden Mitbegründer der Idee des Werdenfelser Weges, "weil entsprechende Hinweise an das Gericht und Anträge der Betreuer fehlen. Es werden also gezielt Freiheitsentziehungen mit Medikamenten vorgenommen, ohne dass es der gesetzlich vorgesehenen rechtlichen Grundlage entspricht."

So ist es ein offenes Geheimnis, dass derartig motivierte Medikamentengaben Alltag sind in der stationären Pflege. "Es gibt Hochrechnungen, dass davon etwa 240.000 Menschen in stationären Einrichtungen betroffen sind, in München ergab eine Erhebung der Heimaufsicht eine Quote von etwa 40 Prozent bei Heimbewohnern, bei denen die ärztliche Indikation für die Gabe von Psychopharmaka mit 'Ruhigstellung' und ähnlichem beschrieben wurde", erklärt Josef Wassermann, Mediator und Leiter der Betreuungsstelle am Landratsamt Garmisch-Partenkirchen, der gemeinsam mit Dr. Sebastian Kirsch den "Werdenfelser Weg" begründet. "Das gesellschaftliche Problem ist also gewaltig. Daher haben wir uns nun ein zweites Mal in Folge dazu entschieden, das Thema in unserem Fachtagung aufzugreifen und zu diskutieren. Die Themenwiederholung aber auch deswegen, weil wir im letzten Jahr leider aufgrund räumlicher Kapazitäten eine Teilnehmersperre verhängen mussten." Bereits im vergangenen Jahr fand an der KSFH am Campus München ein Fachtag zum gleichen Thema statt - mit der überwältigenden Resonanz von rund 400 Teilnehmern. Die beiden Initiatoren nahmen das rege Interesse als Anlass, sich erneut dem Thema der medikamentösen Fixierung zu widmen, diesmal mit der inhaltlichen Schwerpunktsetzung auf Projekte und Vorgehensweisen, die Erfolge aufweisen können, wie die Gabe von Psychopharmaka mit ruhigstellender Wirkung in stationärer Versorgung verhindert werden kann. Der Schwerpunkt liegt also auf Praxisprojekten.

Hochkarätiges Programm mit Grußwort der Staatsministerin Melanie Huml

Im Einstieg wird eine Forschungsarbeit der Katholischen Stiftungsfachhochschule München vorgestellt. Im Projektverlauf wurde untersucht, welchen expliziten Kenntnisstand Pflegefachkräfte in den Einrichtungen zu Menschenrechten haben. Interessant sind hier nicht nur der Kenntnisstand der befragten Pflegefachpersonen, sondern auch die Inhalte, die mit dem Thema Menschenrechte assoziiert werden so wie die Verbindlichkeit im Kontext der Versorgung pflegebedürftiger Menschen.

Im direkten Anschluss spricht Bayerns Gesundheitsministerin, selbst approbierte Ärztin, Melanie Huml, MdL ein Grußwort. "Als approbierte Ärztin messen wir diesem Programmteil besondere Bedeutung bei und erwarten einen interessanten Beitrag zu den derzeitigen Rahmenbedingungen in der Pflege. Viele Mitarbeiter der Pflege führen genau diese Rahmenbedingungen ihres Berufes - wie Wertschätzung, Bezahlung oder Anforderungen an die personelle Ausstattung der Einrichtung - als eine Ursache für medikamentöse Freiheitsentziehung auf. Hier sehen wir im Gesundheitsministerium die politische Verantwortung", betont Dr. Sebastian Kirsch.

Es folgt ein wissenschaftlicher Vortrag von Prof. Dr. phil. Gabriele Meyer (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Medizinische Fakultät Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft) zum Thema "Ein verantwortungsvoller Umgang mit psychotrop wirksamen Medikamenten in der Langzeitpflege älterer Menschen ist möglich! Problembeschreibung und wissenschaftsbasierte Lösungsansätze". Im Vortrag wird der Stellenwert der Psychopharmaka in der Langzeitpflege von älteren Menschen anhand von pharmakoepidemiologischen Daten aufgezeigt sowie das aktuelle Wissen zu den Wirkungen und Nebenwirkungen skizziert, um so zu einer Klärung der Problemstellung zu kommen. Darüber hinaus werden nationale und internationale Programme und Ansätze zur Reduktion der Überversorgung und Fehlversorgung mit psychotrop wirksamen Substanzen in der Langzeitpflege älterer Menschen skizziert und die Zuständigkeiten professioneller und informeller Akteure beleuchtet.

Danach folgen die Vorträge von Vertretern aus der Praxis, die diesen Fachtag ausmachen sollen: Erster Referent ist der Gerhard Ackermann, Leiter des Regenbogenhauses Magdeburg. Er berichtet aus dem Bereich der Versorgung geistig behinderter Menschen. In seiner Einrichtung werden derzeit 54 Erwachsene mit geistigen und mehrfachen Behinderungen betreut. Er hat über Jahre beobachtet, was Medikamente verursachen: "Die Bewohner sind apathisch, desinteressiert, können sich oft nicht richtig artikulieren", sagt Gerhard Ackermann, "die Konflikte, die ein Mensch mit geistiger Behinderung mit sich und seiner Umwelt hat, werden dadurch unterdrückt und nicht gelöst." Der Heimleiter wird das Modellprojekt "Ich will mich" vorstellen, das 2009 im Regenbogenhaus in Magdeburg startete und in dessen Rahmen bei insgesamt 19 Projektteilnehmern eine Reduzierung der Tablettengabe gelungen ist, in manchen Fällen sogar komplett.

Therapien in den Bereichen Sport, Kunst, Musik und Theater unterstützen die Bewohner auf ihrem Weg in ein gesünderes, selbstbestimmtes Leben. "Bereits nach den ersten zwei Monaten tat sich Erstaunliches. Obwohl zunächst nur geringe Dosen reduziert worden, blühten die Teilnehmer regelrecht auf, fühlten sich wohler, sahen gesünder aus und nehmen am täglichen Leben aktiver teil. Heute gilt das Projekt, das offiziell 2012 zu Ende ging, als ein Langzeiterfolg."

Christoph Maier, Amtsrichter am Amtsgericht Eggenfelden und Dr. Wilfried Wernitz, Gutachter und Facharzt für Neurologie, werden in ihrem gemeinsamen Vortrag "Freiheitsentzug durch Medikamente und gerichtliche Entscheidung - praktische Handhabung im Rottal-Inn" darstellen, wie Abläufe in der Zusammenarbeit zwischen Betreuungsrichter und medizinischen Sachverständigen gestaltet sind, welche Fragestellung und Problemstellungen sich ergeben und welche Entwicklungen seither im Amtsgerichtsbezirk Eggenfelden in dieser Frage entstanden sind. Das Amtsgericht Eggenfelden ist bekannt für die intensive Zusammenarbeit zwischen Amtsgericht und Sachverständigen, bei der die Medikamentierung stets hinterfragt wird.

Dr. Thomas Wellenhofer, Apotheker aus Freilassing, wird über die Zusammenarbeit zwischen Einrichtungen und Apotheken zur Vermeidung von Abgabe- und Einnahmefehlern bei Medikamenten referieren. Sein in diesem Themenbereich initiiertes Kooperationsprojekt mit Pflegeheimen findet mittlerweile bundesweite Beachtung. Apothekern, so der Grundtenor, kommt aufgrund ihrer besonderen Sachlichkeit und dem Überblick über die Medikation, die jeder einzelne Patient erhält, eine ganz besondere Verantwortung und Rolle zu. Dr. Wellenhofer wird aufzeigen, inwieweit ein engagierter Apotheker helfen kann, derartige Situationen zu vermeiden.

Zum Abschluss des Fachtages wird Claudia Stegmann-Schaffer aus dem Bereich der Altenpflege berichten. "Humanitude - Beziehung statt Sedierung - ein Projekt zur Vermeidung von Medikamenten mit freiheitsentziehender Wirkung", so lautet das Thema der Heimleiterin aus dem Ulmer Raum. Die Pflegemethode Humanitude zielt auf eine mitmenschliche Pflege, in der Pflegende zu ihrem Patienten eine intensive Beziehung aufbauen und ihn in den Mittelpunkt all ihres Tuns stellt. Anknüpfend an die frühkindlichen Inhalte des emotionalen Gedächtnisses, zielt das Projekt, das im Seniorenpflegeheim St. Maria Dietenheim-Regglisweiler durchgeführt wird, darauf, positive Eindrücke im Zusammenhang mit der Pflege zu verankern.


Weitere Informationen finden Sie unter
http://www.werdenfelser-weg-original.de
http://www.ksfh.de

Zu dieser Mitteilung finden Sie Anhänge unter:
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Flyer zum Fachtag

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung stehen unter:
http://idw-online.de/de/institution294

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung
Katholische Stiftungsfachhochschule München, Sibylle Thiede, 23.06.2016
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Juni 2016

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