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POLITIK/106: Die Relevanz von Spiritualität und Glauben für die globale Gesundheitspolitik (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 152/Juni 2016
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Die Entdeckung der Religion
Spiritualität und Glauben werden relevant für die globale Gesundheitspolitik

Von Tine Hanrieder


Kurz gefasst: Seit den 1980er Jahren gab es mehrere Versuche, religiöse Werte auf der globalen Gesundheitsagenda zu verankern. Ein Vergleich zwischen der erfolglosen Kampagne für spirituelle Gesundheit in den 1980er Jahren und der neuerlichen Akzeptanz des sogenannten Glaubensfaktors in multilateralen Organisationen zeigt zweierlei. Erstens hat sich eine spezifische Bedeutung von Religiosität als gesundheitsförderliches "Mitgefühl" etabliert. Zweitens ist deren Akzeptanz an Praktiken der Evaluation und Sichtbarmachung und damit letztlich an die Bürokratisierung von Religion geknüpft.


Religion und Weltgesundheitspolitik, das schien lange ein unüberwindbarer Antagonismus zu sein. In der Hochzeit der Bevölkerungskontrollbewegung, in den 1960er und 1970er Jahren, leisteten katholisch dominierte Länder in der Weltgesundheitsorganisation (WHO) erbitterten Widerstand gegen jegliche Form der Geburtenkontrolle - die daher primär von nicht staatlichen Akteuren wie der Rockefeller-Stiftung propagiert und umgesetzt wurde. Auch die in den 1980er Jahren einsetzende AIDS-Krise ließ die Kluft zwischen kirchlichen und multilateralen Organisationen im Rahmen von Präventionsdebatten wieder aufbrechen. Die religiös motivierte Förderung von Abstinenz als Verhütung, etwa durch das von George W. Bush 2003 begründete US-Programm zur globalen AIDS-Bekämpfung, befeuerte erneut das Misstrauen multilateraler Organisationen wie der WHO, UNAIDS, des Kinderhilfswerks UNICEF oder der Weltbank gegenüber kirchlichen Akteuren. Zuletzt hat in der westafrikanischen Ebola-Krise von 2014 der Problemfaktor Religion in Zusammenhang mit gefährlichen ansteckenden Begräbnisritualen globale Gesundheitsorganisationen alarmiert.

Das säkular und modernistisch ausgerichtete System multilateraler Gesundheitsorganisationen hat also lange versucht, sich die Religion vom Leib zu halten. Jedoch findet in den letzten Jahren zunehmend eine Neubewertung des Religiösen für den Bereich global health statt, die das "Andere" der Religion als Ressource begreift. Diese Neubewertung des Religiösen habe ich kürzlich durch einen Vergleich von WHO-Debatten zu "spiritueller Gesundheit" Ende des 20. Jahrhunderts mit jüngeren, in der WHO und Weltbank entwickelten Ansätzen zur Kooperation mit kirchlichen Akteuren rekonstruiert. Ein wissenssoziologischer Blick auf die kulturellen Bewertungsmuster in den entsprechenden Debatten zeigt, dass Religion aus dem privaten und konfessionellen Bereich in einen öffentlichen und überkonfessionellen Bereich des Religiösen an sich überführt wurde - in einen Bereich, der potenziell für weltgesundheitspolitische Anliegen nutzbar ist.

Denn seit den 1980er Jahren gab es auch immer wieder Bestrebungen, die gesundheitsförderlichen Aspekte von Religion in internationale Foren einzubringen und deren politische Anerkennung zu fordern. Ein Vergleich zwischen Debatten um spirituelle Gesundheit in den 1980er und 1990er Jahren und Debatten über den Glaubensfaktor seit der Jahrtausendwende zeigt, dass der private Wert "des Religiösen" zunehmend in öffentliche und messbare Indikatoren umgedeutet wird. Hieran sind sowohl multilaterale Organisationen wie WHO und Weltbank als auch private Stiftungen wie die Tony Blair Faith Foundation maßgeblich beteiligt.

Ein erster Anlauf, Religion in der globalen Gesundheitsagenda zu verankern, scheiterte in den 1980er und 1990er Jahren noch deutlich in den Entscheidungsgremien der Weltgesundheitsorganisation. Angestoßen durch einen indischen Delegierten, brachte eine interkonfessionelle (mehrheitlich islamische) Koalition aus 22 Staaten eine Resolution zugunsten spiritueller Gesundheit in die Weltgesundheitsversammlung, die jährliche Mitgliedstaatenversammlung und das höchste Entscheidungsgremium der WHO, ein. So sollte zum einen "spirituelle Gesundheit" in der WHO-Definition von Gesundheit verankert werden. Diese Definition lautet seit der Verabschiedung der WHO-Verfassung im Jahr 1946, Gesundheit sei "ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen". Zum anderen forderten die Antragsteller, laufende WHO-Projekte, die damals unter dem Dachbegriff der Primary Health Care geführt wurden, sollten die Förderung spiritueller Gesundheit zu einem integralen Bestandteil machen. Der Antrag löste kontroverse Debatten in der Weltgesundheitsversammlung, dem Exekutivrat, dem Sekretariat und den Regionalorganisationen der WHO aus. Seinerzeit überwog das Misstrauen gegenüber dem, was Sponsoren der Resolution vage als "Faktor X" bezeichneten. Ein Kompromisspapier des Generaldirektors Halfdan Mahler stellte zwar heraus, dass auch immaterielle Faktoren und "erhebende Ideen" wichtig für die Gesundheit der Menschen seien. Doch die Förderung spiritueller Gesundheit wurde in den WHO-Entscheidungsgremien dezidiert an die Mitgliedstaaten zurückverwiesen und nicht zur Aufgabe der WHO gemacht. Einige Staaten und insbesondere die Regionalorganisationen der WHO für den östlichen Mittelmeerraum verfolgten das Thema Religion (hier besonders: Islam) und Gesundheit zwar noch eine Weile weiter und regten in den 1990er Jahren erneut eine Hinwendung der WHO zur spirituellen Gesundheit an. Doch auch diese Initiativen blieben erfolglos.

Nach der Jahrtausendwende tauchte das Religionsthema jedoch in neuem Gewand wieder in der internationalen Agenda auf. Hieran hatte die Ausweitung globaler Gesundheitsaktivitäten keinen geringen Anteil, denn seit den 1990er Jahren stieg die gesundheitsbezogene Entwicklungshilfe dramatisch an, finanziell und was die Anzahl der beteiligten Akteure angeht. Dabei wurde sichtbar, dass in vielen (insbesondere afrikanischen) Entwicklungsländern religiöse Organisationen die wichtigsten Leistungserbringer im Gesundheitssektor waren. Um deren Wert für die globale Gesundheitspolitik zu untermauern und sie dadurch als eigene Empfängerkategorie für globale Geldgeber zu etablieren, setzen sich religiöse Organisationen in der Folge für eine Anerkennung des "religiösen Gesundheitskapitals" (religious health assets) in Entwicklungsländern ein. Organisationen wie der World Faith Development Dialogue (gegründet 1998), das African Religious Health Assets Programme (gegründet 2002) und die Tony Blair Faith Foundation (gegründet 2008) begannen, den Wert kirchlicher Gesundheitsarbeit sichtbar zu machen und zu dokumentieren.

Es blieb jedoch keineswegs beim Zählen der Krankenstationen oder behandelten Patienten. Vielmehr hat in den letzten Jahren eine Neukonzipierung des Religiösen spezifisch für die Belange der Gesundheitspolitik begonnen. Allen voran haben Forscher der Weltbank, der wohl einflussreichsten Denkfabrik und Geldgeberin der globalen Entwicklungspolitik, Konzepte und Messinstrumente entwickelt, um den Effekt des Glaubensfaktors auf die Gesundheitsversorgung zu belegen. Dadurch bekam auch Religion eine neue und spezifische Bedeutung. Angelehnt auch an neuere Diskussionen in der WHO wird nunmehr der Faktor des "Mitgefühls" (compassion) als universal-religiöse und konfessionsübergreifende Tugend für die globale Gesundheit aufgefasst. Die Vertreter der Weltbank argumentieren, dass dieses Mitgefühl sich auf zweierlei Weise niederschlage: Erstens in einer höheren Aufopferungsbereitschaft des Gesundheitspersonals in religiösen Einrichtungen, welches auch Lohneinbußen und Mehrarbeit bereitwilliger in Kauf nehme als das Personal anderer Einrichtungen. Zweitens in einer besseren Versorgung armer Bevölkerungsschichten durch kirchliche Akteure, die also eher von Mitgefühl als von Profitmotiven geleitet seien.

Die Bemühungen, die gesundheitsförderlichen Effekte dieses Glaubensfaktors empirisch noch umfassender zu belegen, dauern noch an. Doch bereits jetzt lassen sich aus dieser Neubewertung des Religiösen in der Weltgesundheitspolitik einige Schlüsse ziehen.

Ein erster Schluss ist theoretischer Natur und bezieht sich auf Forschungen zum interreligiösen Dialog in sogenannten postsäkularen Gesellschaften. Angelehnt an Jürgen Habermas' Überlegungen zur Übersetzung religiöser Inhalte für säkulare Gesellschaften haben einige Forscher der Internationalen Beziehungen jüngst argumentiert, Religion lasse sich nur durch Abstraktion für multilaterale Institutionen anschlussfähig machen: Alle nicht verallgemeinerbaren und nicht liberalen Inhalte müssten aus religiösen Behauptungen entfernt werden, um sie weithin akzeptabel zu machen. Teils trifft dies natürlich auf das abstrakte Konzept des Mitgefühls zu. Doch zugleich zeigt gerade der Vergleich zwischen dem abstrakten, aber vagen Faktor X und den mittlerweile konkret messbaren Indikatoren von Mitgefühl, dass auch die Konkretion und damit die diesseitige Verankerung religiöser Begriffe für ihre soziale Akzeptanz vonnöten ist. Jede Übersetzung bedeutet auch eine Neuerschaffung und erfordert ein konkretes, praktisch einsetzbares Repertoire für intersubjektive Bewertungen.

Zweitens hat die Entdeckung des Glaubensfaktors auch politische Implikationen. Sie schafft, jenseits konfessioneller Unterschiede, eine universelle Kategorie der "guten" religiösen Gesundheitsorganisation, der sich kirchliche Akteure anzupassen haben, wenn sie internationale Fördergelder erhalten möchten. Das führt zum einen dazu, dass sich kirchliche Organisationen in Entwicklungsländern immer mehr ähneln und bürokratisieren, und es führt zu neuen Machtverhältnissen, etwa zwischen jenen, die Zugang zu globalen Förderern haben, und den lokalen Gesundheitsarbeitern. Zum anderen, und allgemeiner betrachtet, steht der Diskurs des karitativen Mitgefühls, für den der Wert der Religion gerade entdeckt wird, in der Tradition der Privatisierungspolitik der 1980er und 1990er Jahre, die staatliche Gesundheitsleistungen in Entwicklungsländern zurückdrängte. Er überdeckt damit die Idee eines Anspruchs auf Gesundheitsversorgung durch eine Ethik der Freiwilligkeit, die durch neue Formen der Messung und Bewertung gemeinsam mit der Religion moralisch aufgewertet wird.


Tine Hanrieder
ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Global Governance. Sie forscht zu internationalen Organisationen, Expertenmacht und normativem Wandel in der Weltgesundheitspolitik.
tine.hanrieder@wzb.eu


Literatur

Burchardt, Marian: "Faith-Based Humanitarianism: Organizational Change and Everyday Meanings in South Africa". In: Sociology of Religion, 2013, Vol. 74, No. 1, pp. 30-55.

Grills, Nathan: "The Paradox of Multilateral Organizations Engaging with Faith-based Organizations". In: Global Governance, 2009, Vol. 15, No. 4, pp. 505-520.

Hanrieder, Tine: "The Public Valuation of Religion in Global Health Governance: Spiritual Health and the Faith Factor". In: Contemporary Politics, 2016 (im Erscheinen).

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 152, Juni 2016, Seite 10 - 12
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Juli 2016

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