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ARTIKEL/446: Gesundheit ist keine Ware - Soziale Determinanten von Gesundheit (medico)


medico international - rundschreiben 03/09

Der Streik des Sisyphus
Soziale Determinanten von Gesundheit

Von Andreas Wulf


"Erfolgreicher als es durch die Volksheilstätten geschieht, führt den Kampf gegen die Tuberkulose schon heute das Proletariat selbst, indem es sich bessere Arbeits- und Existenzbedingungen erkämpft." Ludwig Teleky
(1872-1957, österreichischer Sozialmediziner)


Dass Krankheiten tieferliegende Ursachen in spezifischen Lebens- und Arbeitsbedingungen in Gesellschaften haben, ist eine Erkenntnis, die so alt ist wie die systematische Beschäftigung von Gesundheitsprofessionellen mit Krankheit und Gesundheit. In einem der ersten bekannten medizinischen Berichte beschreiben römische Ärzte die dramatischen Gesundheitsschäden der Sklaven in den spanischen Bleigruben.

Mit der erfolgreichen Identifizierung von Krankheitserregern wie den Tuberkulosebazillen, Cholera-Vibrionen und Pockenviren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konzentrierte sich die Medizin immer mehr auf ein Erregerbekämpfungs-Modell, das mit beispielhaft wirkungsvollen Impfstoffen gegen Pocken und Diphterie und ersten Erfolgen der antibakteriellen Behandlung im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert auch substantielle Erfolge feiern konnte.

Zugleich wurde allerdings die Erkenntnis, dass nicht nur diese direkten Verursacher für vermeidbare Krankheit und vorzeitigen Tod verantwortlich sind, sondern wesentlich auch soziale, kulturelle und ökonomische Lebensbedingungen der Menschen, reduziert auf ein weitgehend technisches Verständnis von öffentlicher Gesundheitskontrolle: Kanalisation, Trinkwasserversorgung, Nahrungsmittelüberwachung.

Der Kontext zwischen einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung um gerechte Ressourcenverteilung, Kampf gegen unzumutbare Arbeitsbedingungen, sozialen Sicherungssystemen und ihren Auswirkungen auf Gesundheit und Krankheit, wie er für den österreichischen Sozialmediziner Ludwig Teleky dank seiner Studien der Soziologie und Nationalökonomie und seinen Verbindungen zu österreichischen Gewerkschaften und Austromarxisten selbstverständlich war, geriet mit einer sich weiter verwissenschaftlichenden Medizin aus dem Blick. Das zeigt sich nicht zuletzt mit dem geplanten "World Health Summit" im Oktober 2009 in Berlin, der von medizintechnischen Wunderleistungen wesentliche Impulse für eine bessere Gesundheit für alle Menschen in der Welt erwartet. s. Public Eye on Berlin.

Dagegen steht eine wesentliche Grunderfahrung von Gesundheitsprofessionellen. In ihrer Arbeit mit Armen und Marginalisierten in der Welt gelangen sie immer wieder zur selben Erkenntnis, dass die Behandlung armutsbedingter Krankheiten eine sich wiederholende, nicht enden wollende und frustrierende Beschäftigung ist, weil die Menschen immer wieder mit den gleichen Problemen in den Praxen auftauchen. Und bei der Suche nach den tieferliegenden Ursachen der Krankheit stießen diese PraktikerInnen und ForscherInnen auf die gleichen Bedingungen sozialer Ungleichheit, die schon im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert relevant waren. Eine solche "Archäologie der Ursachen" von ungleich verteilter Krankheit und vorzeitigem Tod, die immer tiefere Schichten struktureller Ursachen aufdeckt, kann am Beispiel der eingangs erwähnten Tuberkulose erklärt werden.

Die Krankheit kann mit einer direkten medizinischen Intervention (BCG-Impfung, Fallfindung, medikamentöse Behandlung) bekämpft werden. Die tiefer liegenden Ursachen, die zur Ausbreitung der Krankheit führen, sind nur mehr mit strukturellen und politischen Interventionen anzugehen. Zuerst und als schnelles Programm zur Stärkung der Abwehrkräfte beispielsweise durch subventionierte Nahrungsmittel oder Wohnungsbauprogramme für geringverdienende Haushalte. Tuberkulose als Armutskrankheit kann jedoch letztlich nur nachhaltig beseitigt werden, wenn es sozialen Bewegungen und Interessensvertretungen der Marginalisierten gelingt, grundlegende politische Veränderungen wie eine Landreform oder faire globale Beziehungen durchzusetzen. Nicht eben ein einfach umzusetzendes Programm, aber ein lohnendes für alle, die nicht mehr allein die Menschen, die sie behandelt haben, in die gleichen Umstände zurückschicken wollen, die für deren Krankheiten verantwortlich sind. Es bedeutet: Sisyphus verweigert sich der Aufgabe, in unendlicher Wiederholung den Stein hinaufzurollen, und beginnt stattdessen, den Berg abzutragen.

So lässt sich vielleicht die Aufgabe am besten charakterisieren, die uns die Analyse der sozialen Determinanten stellt: die Bekämpfung der sozialen Ungleichheit als zentrale Aufgabe von Gesundheitspolitik zu betrachten. Dass der Bericht der Kommission der Weltgesundheitsorganisation zu den sozialen Determinanten der Gesundheit ebendieses in unmissverständlichen Worten einfordert, hat die Gesundheitsaktivisten weltweit positiv überrascht. Ihr Beitrag, den sie sowohl in der Kommission als auch als Gesprächspartner der zivilgesellschaftlichen "Wissensnetzwerke" der Kommission auf allen 5 Kontinenten geleistet haben, ist zumindest teilweise angekommen. Es gilt, die Taten der Weltgesundheitsorganisation an diesen Worten zu messen und selbst weiter daran zu arbeiten, den Berg abzutragen. Gemeinsam mit den Partnern im People's Health Movement weltweit ebenso wie im deutschen Bündnis des Public Eye on Berlin.

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Gesundheit ist keine Ware

Was ein Weltgesundheitsgipfel ist - und was nicht


Vom 15. - 18. Oktober findet anlässlich des 300. Jubiläums der Berliner Charité und unter Schirmherrschaft von Angela Merkel und Nicolas Sarkozy eine Gesundheitskonferenz statt. Ihr Programm liest sich wie das vieler anderer Kongresse im Umfeld von Medizin und Pharmaindustrie. Dennoch soll in der Charité nichts Geringeres als ein "World Health Summit" stattfinden, der nach dem Vorbild der anachronistisch gewordenen G8 jährlich wiederholt werden soll; eine "M8" ist geplant, eine Allianz der international führenden Forschungseinrichtungen. So wird der Anspruch der "Macher" der Welt kopiert, globale Probleme jenseits der formal dazu legitimierten Strukturen, dafür in enger Verbindung mit dem Weltmarkt zu lösen. In ihrer Berufung ausgerechnet auf das World Economic Forum entgeht den Veranstaltern, dass die illustren Treffen von Davos Anlass für die Gründung des World Social Forum waren. Und genau das könnte nun auch in Sachen Weltgesundheit geschehen. Zumindest ist das die weiteste Option einer medico-Initiative, die schnell bundesweite Unterstützung fand.


Public Eye on Berlin

"Public Eye on Berlin" folgt einer einfachen Idee: diejenigen zu Wort kommen zu lassen, die in der Charité nicht dabei sind und das auch nicht wollen. Beteiligt sind andere Hilfsorganisationen, die BUKO-Pharmakampagne, die Studierendeninitiative GandHi, politische Medizinerverbände, Gewerkschaften, auch die "Medi-Büros", die von medizinischer Versorgung ausgeschlossene Migranten unterstützen. Doch geht es nicht nur um Kritik, sondern mehr noch um die Alternativen, die schon mit dieser Aufzählung benannt sind. Gemeinsamer symbolischer Nenner ist die Forderung eines "Krankenscheins für alle", mit der der freie und gleiche Zugang aller zu Gesundheit eingefordert wird.


Eine Initiative zur rechten Zeit

Gesundheit nicht wie viele Charité-Teilnehmer als Ware, sondern als öffentliches Gut zu verstehen, heißt zugleich, Gesundheit nicht als technisch anzugehendes, sondern als globales soziales Problem anzugehen. Public Eye on Berlin wird dies auf einer Gegenveranstaltung zum Kongress exemplarisch verdeutlichen: in einer Bestandsaufnahme der Weltgesundheit, in der Bestimmung der sozialen Determinanten von Gesundheit, in der Verknüpfung aller Gesundheitsfragen mit demokratischer Partizipation und der Verteidigung des ärztlichen Ethos gegen dessen Ökonomisierung. Sichtbar wird dies auch in zwei Live-Schaltungen: Der Kongress wird in seiner Eröffnungszeremonie in die Internationale Raumstation schalten, in der auch biomedizinische Forschungen durchgeführt werden. Public Eye on Berlin hingegen wird nach Bangalore schalten, ins Büro eines medico-Partners, der in den Slums der indischen Metropole arbeitet. Den Plan einer der G8 zu vergleichenden "M8" beantwortet medico mit der Praxis einer weltweiten Gesundheitsbewegung. In Folge in Berlin, aber auch woanders. "Public Eye on Berlin" wird am 16. Oktober in Berlin eröffnet, vis-a-vis dem "World Health Summit" der Charité. Weitere Informationen auf www.medico.de

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Quelle:
medico international - rundschreiben 03/09, Seite 10-12 + 38-39
Herausgeber: medico international, Burgstraße 106
60389 Frankfurt am Main
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Internet: www.medico.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Oktober 2009

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