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ARTIKEL/461: Verhütung zwischen Anspruch & Wirklichkeit (pro familia)


pro familia magazin 2/2009
Deutsche Gesellschaft für Familienplanung,
Sexualpädagogik + Sexualberatung e.V.

Verhütung zwischen Anspruch & Wirklichkeit
Oder: Verhütungsmittel für Hartz IV-Bezieherinnen weiter schwer zugänglich

Von Annelene Gäckle


Bereits im Jahr 2007 berichtete das pro familia magazin in seiner Herbstausgabe über die Einschränkungen beim Zugang zu Verhütungsmitteln durch die Regelungen der Hartz IV-Gesetzgebung. Der folgende Artikel beschreibt, welche Entwicklungen seitdem zu verzeichnen sind.


Seit der internationalen UN-Konferenz für Bevölkerung und Entwicklung in Kairo 1994 sind die sexuellen und reproduktiven Rechte als Menschenrechte verankert. Damit garantierte auch Deutschland jeder Bürgerin und jedem Bürger, die Familienplanung und das Sexualleben individuell bestimmen und gleichberechtigt gestalten zu können. Die Umsetzung dieser grundlegenden Ansprüche im Rahmen von Hartz IV beschäftigt pro familia seit Inkrafttreten des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes (GMG) im Jahr 2004.

Rechtliche Bedingungen

Vor Einführung von Hartz IV wurden die Kosten für ärztlich verordnete Kontrazeptiva für Frauen ab 21 Jahren auf Basis der 'Hilfe zur Familienplanung' und 'Hilfe zur Sterilisation' (§§ 37a, b BSHG) als Sonderleistung vom Sozialamt für Bedürftige übernommen. Damit wurden den Hilfebedürftigen ein selbstverantwortliches Leben bei der Familienplanung ermöglicht.

Mit dem GMG wurde die Regelung auf Kostenübernahme in den Sozialgesetzbüchern (SGB V und XII) neu gefasst, so dass eine unklare Situation entstanden ist:

Einerseits werden gemäß § 49 Satz 2 SGB XII die Kosten für empfängnisverhütende Mittel vom Sozialhilfeträger übernommen, wenn diese ärztlich verordnet sind und die Antrag stellende Person bedürftig im Sinne des SGB XII ist. (1)

Andererseits bestimmt § 52 Abs. 1 SGB XII, dass die Hilfen zur Gesundheit "den Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung" entsprechen: Hier beschränkt sich der Anspruch auf Versicherte "bis zum vollendeten 20. Lebensjahr" (§ 24a Abs. 2 SGB V). Ob die Einschränkung auf Versicherte ab 20 Jahren tatsächlich auch für Hartz IV-Empfängerinnen gilt, wird von vielen Sozial- und Familienplanungsverbänden angezweifelt.

Finanzielle Auswirkungen

Die Folge dieser Neuregelung ist, dass zunächst die Sozialämter und später vor allem die für die Zahlung des Arbeitslosengeldes II (ALG II) zuständigen Arbeitsgemeinschaften (ARGEn) die Kostenübernahme für ärztlich verordnete Verhütungsmittel für Frauen ab 21 Jahren ablehnen. Sie sehen die Kosten als Festbetrag in der Regelleistung abgegolten. (2)

Diese beträgt für eine allein stehende Person 351 Euro monatlich, wovon ca. 4 Prozent, das heißt derzeit 12,90 Euro (3) für 'Gesundheitspflege' (4), vorgesehen sind. Neben Medikamenten fallen auch Verhütungsmittel in den Bereich der Gesundheitspflege. Durch diese Regelung können Frauen zum Beispiel bei Krankheit vor die Entscheidung zwischen der Finanzierung notwendig werdender Zuzahlungen für Medikamente und gleichzeitig notwendigen Kontrazeptiva gestellt werden.

Will eine Frau eine Schwangerschaft mit der 'Pille' vermeiden, hat sie monatlich 10 bis 15 Euro als durchschnittliche Verhütungskosten inklusive Rezeptgebühr ihres ALG II aufzuwenden (5). Längerfristig wirksame Verhütungsmittel, wie beispielsweise die bis zu fünf Jahre wirkende Hormonspirale, die 3 bis 5 Jahre wirksame Kupferspirale oder das Verhütungsstäbchen (Implanon), verursachen sogar einmalige Kosten von 120 bis 350 Euro. Eine Sterilisation kostet bis zu 450 Euro. Auch die 'Pille danach' sprengt mit ca. 17 Euro zuzüglich 10 Euro Praxis- oder Notdienstgebühr das für 'Gesundheitspflege' veranschlagte monatliche Budget für ALG II-Bezieherinnen im Notfall deutlich. Insbesondere für Frauen, die nachweislich die Hauptlast der Verhütungsverantwortung in einer Beziehung tragen (6), ist damit die Wahlfreiheit in Bezug auf Kontrazeptiva deutlich eingeschränkt.

Soziale Auswirkungen

Beraterinnen und Berater aus der Sozial- und Schwangerschaftskonfliktberatung berichten, dass sie "in Beratungen zunehmend Frauen und Paaren begegnen, die aufgrund eines mangelnden finanziellen Spielraums auf Verhütung verzichtet oder sich für preiswertere, dafür weniger sichere, Kontrazeptiva entschieden haben und bei denen es so zu einer ungeplanten und nicht selten auch ungewollten Schwangerschaft" (7) kam. Für viele KlientInnen mit geringem Einkommen oder im Bezug von ALG II stellt sich also seither die Frage, wie sie eine für sich geeignete Verhütung finanzieren können.

Ergebnisse der Masterarbeit an der Hochschule Merseburg mit dem Titel "Familienplanung gibt es praktisch nur theoretisch" (8) bestätigen Auswirkungen der Hartz IV-Reform auf das aktuelle Kontrazeptionsverhalten und auf Veränderungen im Verhütungsverhalten von ALG II-Bezieherinnen:

• Verglichen mit den Ergebnissen der BZgA-Studien 'Frauen leben 2002' (9) und 'Verhütungsverhalten Erwachsener 2007' (10) (Tabelle 1) ist eine deutliche Verschiebung in der Wahl von Verhütungsmitteln im Bezug von ALG II zu erkennen: Verwendung finden mehr das billigere und gezielter einsetzbare Kondom und natürliche Verhütungsmethoden (Tabelle 2).

 Tabelle 1 
 Angewandte Verhütungsmittel bzw. -methoden, 
 nach Geschlecht (hier Frauen) in Prozent 
Pille
54
Kondom
28
Spirale
13
Temperaturmessen
2

Quelle: BZgA 2007


 Tabelle 2 
 Angewandte Verhütungsmittel bzw. -methoden, 
 ALG II-Bezieherinnen in Prozent 
Pille, Hormonpflaster,
Nueva Ring
  
23,5
Kondom
59,3
Hormonstäbchenspirale
2,5
natürliche Verhütung
8,6

Quelle: Gäckle 2006


Im Bezug von ALG II wird also die Wahl des Kontrazeptivums wesentlich von dessen Preis bestimmt, und es erfolgt vermehrt ein Rückgriff bzw. ein Ausweichen auf billigere und unsicherere Kontrazeptiva im Vergleich zu vorher. Hingegen ist für die große Mehrheit der Bevölkerung die Sicherheit und Zuverlässigkeit eines Verhütungsmittels ausschlaggebend, der Preis nebensächlich (11). Das Ausweichen hin zum Kondom verdeutlicht, dass für Frauen bzw. Paare die Verhütung nach wie vor einen hohen Stellenwert besitzt. Die hohe Nutzung spiegelt die große Verantwortlichkeit in Bezug auf sexuell übertragbare Krankheiten und die Familienplanung wieder.

Der Großteil aller befragten Frauen gibt an, dass das ALG II für die Finanzierung von Verhütungsmitteln nicht ausreicht und wünscht sich eine Kostenübernahme durch die ARGEn. Sie würden bei einer Kostenübernahme wieder vermehrt zu länger wirkenden, sichereren und kostenintensiveren Verhütungsmitteln und -methoden, wie hormonellen Kontrazeptiva und der Kupferspirale, greifen.

• Für keine der zum Erfassungszeitpunkt schwangeren Frauen war die Schwangerschaft gewollt oder geplant. Fast 80 Prozent der Frauen verbinden mit einer Schwangerschaft eine deutliche Verschlechterung ihrer Lebenssituation, ihrer finanziellen Situation, negative familiäre Reaktionen und andere Einschränkungen. Die von den Medien postulierte Inkaufnahme eines Schwangerschaftsabbruchs durch die betroffenen Frauen stellt in der Realität keine Alternative dar. Es wurde mehrfach spekuliert, ob Frauen nicht anstelle einer konsequenten, aber teuren Verhütung den vom jeweiligen Bundesland finanzierten Schwangerschaftsabbruch quasi 'strategisch-herzlos' bei Bedarf vorzögen. Klare 93 Prozent der Schwangeren verneinen, diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen!

Eine aktuelle niederländische Studie (12) und eine Befragung der pro familia Köln-Zentrum in Kooperation mit anderen Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen in Köln im Jahr 2008 bekräftigen diese Ergebnisse. Mit Einstellung der Kostenübernahme von oralen Verhütungsmitteln liegt in den Niederlanden die Rate von Einnahmeunterbrechungen oder -pausen bei ca. 24 Prozent und steigt mit zunehmendem Alter. Als weitere Auswirkung wurde ebenfalls ein Umsatteln auf billigere Verhütungsmittel festgestellt. In Köln gaben bei der Befragung 44 Prozent der Frauen aus der Gruppe der ALG II-Bezieherinnen in der Schwangerschaftskonfliktberatung an, dass sie bei besserer finanzieller Situation überhaupt oder sicherer verhütet hätten.

Möglichkeiten auf Landes- und kommunaler Ebene

Zur Finanzierung von teuren Verhütungsmitteln machen die ARGEn das bundesweit einheitliche Angebot eines einmaligen Darlehens. Dieses ist anschließend in kleineren Raten zu tilgen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob es für Frauen eine wirkliche Alternative darstellt, in Schulden zu geraten.

Grundsätzlich können Frauen auch einen Antrag auf Kostenübernahme von ärztlich verordneten, empfängnisverhütenden Mitteln bei den ARGEn stellen. Erfahrungen zeigen allerdings, dass eine mögliche ungewollte Schwangerschaft seitens der ARGEn nicht als akute Notsituation gewertet wird und entsprechende Anträge von den ARGEn weitestgehend negativ beschieden werden.

Auf Länderebene entscheiden die Sozialleistungsträger hinsichtlich der Kostenübernahme ausgesprochen unterschiedlich: Berlin und Baden-Württemberg erkannten beispielsweise die Auswirkungen der gesetzlichen Neuregelungen und erstatten aus Landesmitteln die Verhütungsmittelkosten.

Auf kommunaler Ebene konnten mittlerweile auf Initiative von Schwangerenberatungsstellen vereinzelt alternative Modelle für Bewilligungs- und Antragsverfahren von Verhütungsmitteln entwickelt werden. Diese bestehen meist aus einem Fonds, der den Betroffenen finanzielle Unterstützung auf Antrag über die Sozialverwaltung oder die Schwangerenberatungsstellen bietet. Damit schaffen Kommunen überbrückende Hilfen zu den gekürzten Leistungen des Bundes. Beispiele hierfür sind Bonn, Rhein-Sieg-Kreis, Paderborn, Bielefeld und Münster. Ob eine Frau Unterstützung bei der Finanzierung ihrer empfängnisverhütenden Mittel erhält, ist also abhängig von ihrem Wohnort, ihrem Mut die Kostenübernahme einzufordern und ihrer Kenntnis über die bestehenden Möglichkeiten. Es ist bundesweit ein Flickenteppich an Regelungen entstanden, bei dem letztendlich die Hilfesuchenden die Leidtragenden sind und das einhergehende Risiko tragen.

Fazit und Potenzial

Der gleichberechtigte Zugang zu sicheren Verhütungsmitteln ist für ALG II-Bezieherinnen weiter nicht gewährleistet. Frauen im reproduktionsfähigen Alter, die verantwortlich Familienplanung betreiben möchten, werden benachteiligt.

Da das Recht auf sexuelle und reproduktive Gesundheit in einem modernen Industrie- und Sozialstaat nicht zur Diskussion gestellt werden darf, fordert pro familia nachdrücklich eine einheitliche gesetzliche Regelung zur Übernahme der Kosten für Verhütungsmittel und Sterilisationen, insbesondere für über 20jährige ALG II-Beziehende (13).

Möglichkeiten der Einflussnahme bestehen derzeit einerseits in der Einrichtung von überbrückenden Hilfsfonds auf kommunaler Ebene, primär aber in der kritischen Beleuchtung der rechtlich nicht eindeutigen Regelung der Kostenübernahme von empfängnisverhütenden Mitteln nach SGB V und XII. Nach Ansicht eines wissenschaftlichen Mitarbeiters des Bundessozialgerichts (Böttinger) ist die Einschränkung der Kostenübernahme auf das vollendete 20. Lebensjahr nicht aus den bestehenden Regelungen abzuleiten und "die Kosten der Verhütungsmittel [...] vom Sozialhilfeträger zu übernehmen" (14) - ein nicht zu verkennendes Potenzial!

Dieses Potenzial erkannte auch die Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen (ASF) in NRW. Sie fordert aktuell in einem Antrag an den Landesparteitag der NRW-SPD, dass Frauen mir geringem Einkommen Verhütungsmittel oder eine Sterilisation auf Staatskosten bekommen sollen. Die Antragskommission hat die Annahme empfohlen. Der Bund soll regeln, dass die Kosten für Verhütung bei Empfängerinnen von Hartz IV und Sozialgeld "sowie bei Frauen mit entsprechend geringen Einkommen wie z. B. Studentinnen" übernommen werden können. Der NRW-CDU Generalsekretär reagierte darauf mit scharfer Kritik: "Wir müssen Kinderarmut bekämpfen, nicht das Kinderkriegen".

Es gilt hier demnach, weiter an kommunal- und landespolitischen Lösungen zu arbeiten, um längerfristig auch bundesweite Veränderungen zu erwirken.

Annelene Gäckle, M4 und Diplom Sozialpädagogin ist Projektmitarbeiterin bei der pro familia Beratungsstelle Köln-Zentrum und Koordinatorin der Landeskonferenz Nordrhein-Westfalen (NRW)


Anmerkungen:

(1) Vgl. Böttiger W. (2008): Ärztlich verordnete Verhütungsmittel als GKV-ergänzende Sozialhilfeleistungen?. In: SOZIALRECHTaktuell 6/2008, S. 203-209

(2) Ausnahmen bilden die nicht rechtswidrige Sterilisation mit medizinischer Indikation und Menschen mit 'wesentlicher' Behinderung, die stationäre Leistungen beziehen und dem SGB XII unterliegen - hier werden die Kosten weiterhin übernommen (vgl. Spindler, Helga (2004): Anmerkung zur Entscheidung VG Gelsenkirchen vom 16.3.2004 (Hilfe zur Familienplanung nach der Gesundheitsreform). info also (22) 5: 229-230)

(3) Becker, Irene (2006): Datenbasis EVS 2003: Abbildung: Ganz unten überleben - der Regelsatz für die soziale Grundversorgung, Hans-Böckler-Stiftung

(4) Verhütungsmittel haben darin keine gesonderte Berücksichtigung gefunden

(5) Vgl. Roth, K./Thomé, H. (2005): Leitfaden ALG II/Sozialhilfe von A-Z. AG Tu Was (Hrsg.), Frankfurt

(6) Vgl. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Hrsg. (2007): Verhütungsverhalten Erwachsener - Ergebnisse der repräsentativen Befragung 2007. Köln

(7) Pro familia Köln-Zentrum (2007). Verhütung - Grundbedürfnis oder Luxus?. In: Jahresbericht 2007, pro familia Köln-Zentrum, S. 5-10

(8) Gäckle, Annelene (2006): Familienplanung gibt es praktisch nur theoretisch - Auswirkungen von Hartz IV auf das Kontrazeptionsverhalten von Hartz IV-Empfängerinnen in Nordrhein-Westfalen im Kontext der Schwangerschafts(konflikt)beratung. Masterarbeit Hochschule Merseburg (FH).

(9) Helfferich, Cornelia (2002): Frauen leben. Eine Studie zu Lebensläufen und Familienplanung. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hrsg.'in), Köln, S. 119. Ergänzend sei auf statistische Angaben zum Verhütungsverhalten aus dem Jahr 2004 verwiesen: Th. Rabe, C. Brucker in: Journal für Reproduktionsmedizin und Endokrinologie 2004: 1(3) 2002-221.

(10) Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Hrsg. (2007): Verhütungsverhalten Erwachsener - Ergebnisse der repräsentativen Befragung 2007. Köln

(11) Vgl. ebd., S. 19

(12) Vgl. Stolk, P. et al (2008): Impacs analysis of the discontinuation of reimbursement: the case of oral contraceptives. In: Contraception Journal, Volume 78, Issue 5, S. 399-404

(13) pro familia (2007): Abschlusserklärung der Bundesmitgliederversammlung in Halle am 13. Mai 2007 - Sexuelle und reproduktive Rechte bedürfen sozialer Rahmenbedingungen, S. 3 und DPWV (2007): Hartz IV verletzt Menschenrecht auf selbstbestimmte Familienplanung, Wuppertal 20.11.2007

(14) Vgl. Böttiger. W. (2008), s.o., S. 209

*

Quelle:
pro familia magazin Nr. 02/2009, S. 6-9
Herausgeber und Redaktion:
pro familia Deutsche Gesellschaft für Familienplanung,
Sexualpädagogik und Sexualberatung e.V., Bundesverband
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. März 2010

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