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ARTIKEL/465: Recht auf Gesundheit - Umsetzungsstrategien aus menschenrechtlicher Sicht (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 111, 1/10

Das Recht auf Gesundheit
Umsetzungsstrategien aus menschenrechtlicher Sicht

Von Sabine Vogler


Die Arbeit für eine verbesserte Gesundheitsversorgung basiert meist auf humanitären oder sozialpolitischen Grundlagen. Der menschenrechtliche Ansatz bei der Umsetzung des Rechts auf Gesundheit ist hingegen nicht sehr verbreitet. Die Autorin führt in das Menschenrecht auf Gesundheit ein und skizziert anhand der Beispiele der essenziellen Arzneimittel und der Müttersterblichkeit, wie NGOs aus menschenrechtlicher Perspektive zu Gesundheitszielen arbeiten.


In der Verfassung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 1946 wurde das Recht auf Gesundheit erstmals festgeschrieben. Damit ging auch ein neues Verständnis von Gesundheit einher; Gesundheit wird als "Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur als Fehlen von Krankheit oder Gebrechen" definiert. Das "Recht einer/eines jeden auf das für sie/ihn erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit" findet sich auch im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ("Sozialpakt", Artikel 12) von 1966. Der Sozialpakt ist das erste internationale menschenrechtlich relevante Abkommen, da die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 zwar als Standardwerk von hoher moralischer Aussagekraft gilt, ihr aber kein rechtsverbindlicher Charakter zukommt.

Der Sozialpakt, der mittlerweile von über 150 Staaten der Erde ratifiziert wurde, sieht vor, dass die Unterzeichnerstaaten erforderliche Maßnahmen in den Bereichen Mütter-, Kinder- und reproduktive Gesundheit, Umwelt- und Arbeitshygiene, Prävention, Behandlung und Bekämpfung von Krankheiten sowie im Bereich der Gesundheitseinrichtungen, -güter und -dienstleistungen treffen. Dabei wird als Menschenrechtsverletzung interpretiert, wenn Staaten rückwirkend Änderungen vornehmen bzw. Schritte zurücknehmen oder aussetzen und falls sie nicht alle erforderlichen Maßnahmen zur Umsetzung des Rechts auf Gesundheit - z.B. keine nationale Gesundheitsstrategie entwickeln, nicht ausreichend öffentliche Mittel vorsehen - ergreifen (Allgemeine Kommentare Nr. 14 vom Mai 2000 zum Sozialpakt).


Einklagbarkeit gegeben?

Papier ist geduldig. Was bedeutet dieses Recht in der Praxis? Die Weltgesundheitsorganisation untersuchte in einer Studie(1), ob der Zugang zu essenziellen Arzneimitteln als Teil des Rechts auf Gesundheit vor Gericht eingefordert werden kann. 71 Fälle in zwölf Ländern wurden identifiziert; in 59 Fällen wurde das Verfahren vor Gericht gewonnen. Die Hälfte der Fälle betraf HIV/AIDS; die übrigen Erkrankungen vor allem Leukämie, Diabetes und Nierenversagen. Erfolgreich gingen insbesondere folgende Verfahren aus: jene, in denen auf verfassungsrechtliche Grundlagen der internationalen Verpflichtungen zum Recht auf Gesundheit zurückgegriffen werden konnte; jene, in denen ein argumentativer Zusammenhang zwischen dem Recht auf Gesundheit und dem Recht auf Leben hergestellt werden konnte (lebensrettende Medikamente) und/oder bei denen NGOs mit Rechtsberatung, finanzieller Hilfe und Lobbying unterstützten.


WHO-Modellliste essenzieller Arzneimittel

Was bedeutet das Recht auf essenzielle Arzneimittel? Wer entscheidet, welches Medikament essenziell ist? Müssen solche Medikamente kostenfrei angeboten werden? Als essenziell werden Medikamente definiert, welche die prioritären Bedürfnisse der Bevölkerung abdecken. Essenzielle Arzneimittel sollen jederzeit in ausreichender Menge und entsprechender Qualität zu einem Preis bereit gestellt werden, den die Gemeinschaft und die/der Einzelne sich leisten kann. Zur Orientierung hilft die von der WHO entwickelte Modellliste essenzieller Arzneimittel, die seit ihrer ersten Publikation im Jahr 1977 laufend aktualisiert wird. Die Staaten sollen allerdings nicht die Liste eins zu eins übernehmen, sondern als Anleitung verstehen und unter Berücksichtigung der spezifischen Bedürfnisse ihrer Bevölkerung eine eigene Liste essenzieller Arzneimittel entwickeln. Mit weniger als 350 Arzneimitteln könnten über 90 Prozent der Gesundheitsprobleme, die einer medikamentösen Versorgung bedürfen, weltweit bekämpft werden.

Laut Schätzung der WHO hat eine Milliarde Menschen keinen Zugang zu essenziellen Arzneimitteln: Die Medikamente sind nicht in dem Land verfügbar bzw. können sich die Menschen diese nicht leisten.

Die aus den Niederlanden stammende NGO Health Action International (HAI) arbeitet an der Umsetzung des Rechts auf Gesundheit, indem sie sich für einen verbesserten Zugang zu essenziellen Arzneimitteln einsetzt. In Kooperation mit der WHO hat HAI ein methodisches Konzept entwickelt, um die tatsächliche Verfügbarkeit und die Preise von Medikamenten zu erfassen. Dank dieses Instrumentariums können lokale NGOs Erhebungen vor Ort durchführen. Die Ergebnisse werden von HAI, oft in Kooperation mit der WHO, aufbereitet(2) und dienen als Basis für weitere Lobbying-Aktivitäten von HAI und anderer NGOs. Internationale Aufmerksamkeit erhalten etwa die Ergebnisse anlässlich des von HAI ausgerufenen "Global Pill Day" am 30. November. 2009 zeigte HAI beachtliche Preisunterschiede für Ciprofloxacin, ein weit verbreitetes patentfreies Antibiotikum (d. h. Generika sind verfügbar), zwischen, aber auch innerhalb von Ländern auf.


Von der Bekämpfung der Folter zur Beseitigung der Müttersterblichkeit

Die weltweit größte Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) arbeitet erst seit kurzem zum Recht auf Gesundheit. Die Senkung der Müttersterblichkeit ist ein zentrales Ziel einer aktuellen AI-Kampagne. Die Organisation kommt historisch aus dem Bereich der bürgerlich-politischen Menschenrechte - Einsatz für politische Gefangene, gegen Folter und Todesstrafe - und hat in den knapp 50 Jahren ihres Bestehens kontinuierlich ihr Mandat ausgeweitet. Als Wendepunkt wird gerne das Jahr 1991 gesehen, als sich die einstige Gefangenenhilfsorganisation als Menschenrechtsorganisation definierte(3). Allerdings wurden in den 1990er Jahren nur dann Aktionen zum Recht auf Gesundheit oder zu weiteren sozialen Rechten durchgeführt, sofern sie im Zusammenhang mit der klassischen AI-Arbeit standen - z. B. Recht auf medizinische Versorgung für Gefangene. Eine entscheidende Änderung erfolgte mit der im Jahr 2009 gestarteten "Demand Dignity"-Kampagne(4), in der die Senkung der Müttersterblichkeit weltweit neben dem Recht auf Wohnen und der Verantwortlichkeit der Unternehmen als AI-Schwerpunktthema definiert wurde.

In mehreren Länderberichten (z. B. Sierra Leone) zeigt Amnesty International die dramatische Situation von Frauen bzw. von bestimmten Gruppen (z. B. indigene Frauen in ländlichen Gegenden Perus) auf: Mehr als eine halbe Million Frauen stirbt weltweit pro Jahr in Folge von Komplikationen bei Schwangerschaft und Geburt; die überwiegende Mehrheit der Todesfälle wäre vermeidbar. In einem Bericht über Nicaragua zeigt AI die entsetzlichen Auswirkungen des Totalverbots des Schwangerschaftsabbruches auf das Leben und die Gesundheit von Frauen auf.

Mit dieser Arbeit erschließt die Menschenrechtsorganisation einen neuen Themenbereich, für die es auch neuer Ansätze und Kooperationspartner bedarf. So sind die Einbindung lokaler NGOs und die Information der Bevölkerung vor Ort äußerst wichtig. In Burkina Faso organisiert beispielsweise AI eine Karawane durch das Land, um Behörden und NGOs vor Ort zu treffen.

Ich sehe im Engagement von Amnesty International zu sozialen Rechten vor allem zwei Vorteile: Zum einen kann eine große Menschenrechtsorganisation wie AI die internationale Aufmerksamkeit eher erreichen und somit lokale NGOs unterstützen und deren Anliegen verstärken. Zum anderen bringt Amnesty die Menschenrechtsperspektive ein: Lokale und nationale Gesundheitsdienstleistungen können nicht als Goodwillaktionen von Behörden abgetan werden, die dann diskriminierende Leistungskürzungen mit knappen Budgets rechtfertigen. Die erschreckend hohe Müttersterblichkeit ist und bleibt - wie Amnesty International es auf den Punkt bringt - ein "Menschenrechtsskandal".

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Anmerkungen:

(1) Hogerzeil, Hans V. et al.: Is access to essential medicines as part of the fulfilment of the right to health enforceable through the courts? In: Lancet, Vol 268, July 22 (o.O. 2006)

(2) HAI/WHO: Medicine Prices, Availability, Affordability and Price Components: www.haiweb.org/medicineprices

(3) Vgl. Kandler, Th./Planer, I.: Mit kritischem Blick nach außen und innen. Rückschau auf 20 Jahre Arbeit des Amnesty-International-Netzwerks Frauenrechte. In: Frauensolidarität Nr. 110 (4/09) (Wien 2009)

(4) Amnesty International: Demand Dignity Campaign: www.demanddignity. amnesty.org


Zur Autorin:

Sabine Vogler ist Gesundheitsökonomin mit Schwerpunkt internationale vergleichende Gesundheits- und Arzneimittelsystemforschung und beschäftigt sich mit der Verbesserung des Zugangs zu und der Leistbarkeit von Arzneimitteln. In ihrer Freizeit engagiert sie sich ehrenamtlich bei Amnesty International. Sie lebt in Wien.

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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 111, 1/2010, S. 6-7
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
Sensengasse 3, 1090 Wien,
Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. April 2010

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