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INITIATIVE/061: Palästina - Auf der Suche nach der paradoxen Hoffnung (medico international)


medico international - medico Rundschreiben 04/2010

Mr. Smith in Ramallah
Auf der Suche nach der paradoxen Hoffnung

Von Tsafrir Cohen


Drei Jahre leitete Tsafrir Cohen das medico-Büro in Ramallah. Mit unseren israelischen und palästinensischen Partnerorganisationen versuchte er nicht allein Projekte einer besseren Zukunft in ihrem Land zu realisieren, sondern setzte sich in seinen Artikeln, Interviews und Blogbeiträgen für einen offenen Blick auf den Konflikt im Nahen Osten ein. Tsafrir Cohen wird sein Engagement für Israel und Palästina ab dem nächsten Jahr aus Frankfurt fortsetzen. Hier sein Rückblick, der kein Abschied ist.


Von Abu Sa'ids Dach schauen wir über das satte Grün des Tals auf die steinigen, kahlen Berge. Jiftlik, eine Oase im Jordantal. Seit ewigen Zeiten nutzen die Menschen das von den Bergen unterirdisch hinabströmende Wasser, um inmitten der Wüste den Gemüsegarten Palästinas zu bestellen. Tomaten, Gurken, Auberginen. Doch eine Saison ohne Wasser und die Wüste nimmt sich das Land zurück. Es gibt immer weniger Wasser in Jiftlik, und entsprechend nimmt die landwirtschaftlich nutzbare Fläche stetig ab. Abu Sa'id, der Vorsteher des örtlichen Bauernkomitees, arbeitet deshalb morgens zusätzlich in der nahegelegenen jüdischen Siedlung. Die breitet sich im Tal nicht nur aus, sondern verfügt im Gegensatz zum palästinensischen Jiftlik auch über einen scheinbar unbegrenzten Wasservorrat.

Die Siedler bauen Cherrytomaten oder Weintrauben für den Export an, ihre Rasen sind sattgrün, es gibt Gärten und ein Schwimmbad zur Entspannung. Die Knochenarbeit machen Palästinenser oder "Gastarbeiter", vornehmlich aus Thailand, für den Bruchteil eines Lohnes, den ein Israeli verdienen würde.


Im Tal der Vergessenen

Vor etwa drei Jahren kam ich zum ersten Mal an die Ufer des Jordan. Mit den Kollegen des medico-Partners Union of Agricultural Work Committees (UAWC) besuchte ich das Dorf. Lehmhütten, Wellblechdächer, Behausungen ohne fließendes Wasser oder Strom. Jiftlik ist Beleg einer gezielt verhinderten Entwicklung.

Seine 4.000 Bewohner leben im C-Gebiet. 60% der Westbank gehören dazu. C bedeutet: Besetztes palästinensisches Gebiet unter israelischer Planungsverwaltung. Jede Infrastrukturmaßnahme muss von den israelischen Behörden genehmigt werden. Doch erteilen die israelischen Behörden seit über 15 Jahren so gut wie keine Genehmigung mehr. Selbst minimale Infrastrukturverbesserungen, wie der Anschluss des Dorfes an das Wasser- oder Stromnetz, werden so verhindert. Das unausgesprochene Ziel: das Leben in den C-Gebieten unmöglich zu machen und die Bewohner zur Abwanderung in die palästinensischen Städte zu drängen. Dort darf wenigstens gebaut werden.

Seit meinem ersten Besuch in Jiftlik haben wir mehrere Projekte begonnen, die das Bleiben ermöglichen könnten. Projekte, die keiner Genehmigung durch die israelischen Behörden bedürfen, zum Beispiel weil die Baumaßnahmen ohne Zement oder Metall auskommen. Dazu gehören: Bienenzucht für Bäuerinnen, neue Wasserleitungen - vielmehr die Reparatur der alten, Treibhäuser, rechtlicher Beistand. Und der Bau von Kindergärten - zugegeben mit Beton. Aber wer reißt Kindergärten wieder ein? Ich fuhr regelmäßig in diese Gegend, die so abgelegen ist, dass auch viele Palästinenser nur wenig von ihr wissen.

Immer wieder schockierte mich die enorme ethnisch-religiöse Diskrepanz zwischen den Lebensverhältnissen - hier die Siedler mit ihren Schwimmbädern, nebenan die Lehmhütten von Menschen, die gezwungen sind, auf Land, das ihnen genommen wurde, für den Besatzer zu arbeiten. Hier sah ich Juden, dort Palästinenser. Das bereitete mir Unbehagen, wie würde mich die Dorfgemeinschaft akzeptieren? Ich wurde zwar aus Deutschland gesandt, doch mein Name lautet nun mal Cohen. Der jüdische Name schlechthin, häufig wie Smith in der englischsprachigen Welt. Ein Namensvetter war der vielleicht am meisten verhasste Spion der israelisch-arabischen Konfliktgeschichte, öffentlich hingerichtet in Damaskus; ein anderer das bekannteste rechtsradikale Knessetmitglied. Doch in Jiftlik hat Abu Sa'id, als Vorsteher des örtlichen UAWC-Bauernkomitees stellvertretend für das gesamte Dorf, mein Jüdisch-Sein nie als Problem wahrgenommen. Als er meinen Namen hörte, ging eine Augenbraue hoch. Als ich ihm erläuterte wofür medico und damit auch ich selbst stehen, glaubte ich zu spüren, dass er nicht nur eine Organisation als Partner gefunden hatte, sondern auch eine Chance entdeckte, die an diesem Ort manifesten Grenzen zu überwinden. Diese Erfahrung machte ich immer wieder.

Kollegen und Freunde sorgten sich am Beginn meiner Tätigkeit in der Westbank um meine Sicherheit. Auf keinen Fall sollte ich in Ramallah wohnen. Lieber im gemischten, sichereren Jerusalem. Das tat ich auch. Nach den Erfahrungen in Jiftlik und in vielen anderen palästinensischen Orten bin ich ein Jahr später doch nach Ramallah gezogen. Dort merkten die Menschen lediglich ironisch an, ich wäre der einzige Cohen in den besetzten Palästinensergebieten, der nicht auf geraubtem Land in einer Siedlung lebt. Dass ich nicht ein einziges Mal eine bittere Bemerkung oder gar Anfeindung zu hören bekam, sondern im Gegenteil eher Zuneigung erfuhr, war besonders kostbar in den vielen Stunden, in denen ich an den Verhältnissen verzweifelte.

Die Arbeit im Jordantal gleicht der eines Sisyphus und ließ in der Vergangenheit schon größere und erfahrene Organisationen verzweifeln: Wie kann das Recht auf Entwicklung, der Zugang zum eigenen Land, zu eigenen Ressourcen und einer angemessenen Gesundheitsversorgung unter den restriktiven Auflagen einer allmächtigen israelischen Militärbehörde ermöglicht werden? Wie können wir vermeiden, dass unsere Bemühungen durch Abrissbirnen und weitere Landkonfiskationen zunichte gemacht werden? Seit Beginn unseres Engagements in Jiftlik und anderen Dörfern im Jordantal haben wir mit unserem Partner UAWC einiges auf den Weg gebracht. Doch hat sich dadurch die Gesamtsituation verändert?


Auf Ausgrenzung folgt Ignoranz

Seit meiner Ankunft in der Region im Jahr 2007 hat sich in Palästina nur wenig zum Besseren gewendet. Die 1,5 Millionen Bewohner des Gazastreifens leben weiterhin unter einer völkerrechtswidrigen Blockade. Die Menschen haben sich an den Dauerzustand einer komplett abgeriegelten Enklave gewöhnt, der sie in eine Abhängigkeit von externer Hilfe zwingt und ihnen begonnen hat jede Selbstständigkeit und Würde zu rauben. Währenddessen tüfteln die israelischen Behörden an einem ähnlichen System von Aus- und Einschlüssen in der Westbank. Die C-Gebiete sind dafür beredtes Beispiel. Auch das befördert den Zerfall der letzten, ohnehin fragilen bürgerlichen Institutionen. In Gaza, aber auch in der Westbank, sind willkürliche Festnahmen und Folter von Palästinensern durch Palästinenser mittlerweile Ausdruck eines politischen Systems, das, da alle Wahlen ausgesetzt wurden, keinerlei Rücksicht mehr auf seine demokratische Legitimation nehmen muss.

Wir versuchten mit unseren Mitteln darauf zu reagieren und bauten im Zuge der medizinischen Nothilfe in der Gaza-Krise gezielt Partnerschaften zu Organisationen auf, die sich bemühten der innergesellschaftlichen Zerrüttung in Gaza, etwa der religiös begründeten Einschränkung bürgerlicher Rechte, etwas entgegen zu setzen. Die israelischen Behörden verweigerten mir jedoch die Einreise in den Gazastreifen, und so ersetzten stundenlange Telefonate mit der feministischen Aktivistin Majeda Al-Saqqa oder mit dem Menschenrechtler Mahmoud Aburahma die persönliche Begegnung. Im Rahmen eines von medico initiierten Besuchs von israelischen und palästinensischen Menschenrechtlern bei Bundestagsabgeordneten traf ich Mahmoud Aburahma zum ersten Mal persönlich, eine Begegnung, die auf dem verschneiten Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin-Mitte geradezu surreal anmutete. Zusammen mit unserer israelischen Kollegin Miri Weingarten von den Ärzten für Menschenrechte - Israel (PHR-IL) erlebten wir mit deutschen Politikern manch frustrierende Momente, bei denen unsere Gesprächspartner die Fakten des Unrechts vor Ort zugunsten einer angeblich realpolitischen Stabilisierung der Verhältnisse kleinredeten. Manchmal schien es mir, als ob einzig die persönlich gewordenen Beziehungen ein Weitermachen rechtfertigten.


Allgegenwärtige Sicherheit

Wie in einem Spiegel zu der Entwicklung in den palästinensischen Gebieten, erodiert die Zivilität und Demokratie auch in Israel. Ein allgegenwärtiger Sicherheitsdiskurs rechtfertigt die Bildung von Enklaven, Mauern und Zäune, um die verheerenden Selbstmordattentate zu verhindern. Auf das Argument, dass die unzähligen Demarkationslinien innerhalb der Westbank nicht nur einen zukunftsfähigen palästinensischen Staat, sondern selbst alltägliche Besuche bei Verwandten oder den Gang zum Arzt verhindern, wird mit dem Schutzbedürfnis der jüdisch-israelischen Bevölkerung geantwortet. Mir liegt sehr an der Sicherheit in Israel, schließlich leben meine Eltern dort. Doch auf der Suche nach einem sicheren Alltag geht jedes Interesse für all jene verloren, die auf der anderen, unsicheren Seite leben. Wann immer ich in die palästinensischen Enklaven fahren will, fragen mich Soldaten an den Checkpoints, ob ich verrückt sei, mich zu den Mördern zu wagen. Erwähne ich, dass dort normale Menschen leben, die in ein klassisches oder ein Hip-Hop-Konzert gehen, wird das Gespräch regelmäßig jäh beendet. Was nicht sein darf, gibt es auch nicht. Daher gab es auch keine Empathie für die 1.000 zivilen Opfer der Bombenangriffe auf Gaza. Die Jahreswende 2008/09 wurde so auch meine schwerste Zeit. Der tägliche Kontrast zwischen meiner Nothilfearbeit mit den Partnern in Gaza und den völlig unbeteiligten Alltagsgesprächen in den israelischen Cafés war nur schwer zu ertragen.

Aushalten konnte ich diese Ignoranz nur, weil es Kolleginnen wie Miri Weingarten und die Ärzte und Menschenrechtler der PHR-IL gab, die inmitten der Bombardierungen unaufhörlich mit der Palestinian Medical Relief Society, dem medico-Partner in Gaza, zusammenarbeiteten, Medikamente schickten und die israelische Gesellschaft mit detaillierten Berichten über die blutigen Handlungen ihrer eigenen Armee konfrontierten. Aber auch die PHR-IL verlieren immer mehr ihren ohnehin knappen politischen Spielraum. Was traditionell allein dem äußeren Feind, den Palästinensern im In- und Ausland vorbehalten war, gilt seit den Angriffen auf Gaza immer mehr für jüdische Israelis: Wer heute in Tel Aviv protestiert und die strukturelle Unterdrückung kritisiert, wird als Gefahr für die Sicherheit Israels gebrandmarkt. Die Knesset hat bereits die ersten Gesetze initiiert, die die Arbeit der kritischen Zivilgesellschaft einschränken und kriminalisieren sollen.


Licht auf den Hügeln

Die Frage, ob unsere sprichwörtliche Paradoxe Hoffnung auf eine bessere Zukunft noch realistisch ist, stellte sich mir immer wieder. Überraschenderweise finde ich sie dort wieder, wo man sie nicht vermuten würde: In den C-Gebieten, zu denen nicht nur Jiftlik, sondern auch die Hebronhügel der südlichen Westbank zählen. Wir unterstützen dort eine kleine Initiative namens Comet-ME. Es sind vor allem drei israelische Aktivisten, die dort der systematischen Verhinderung von Entwicklung trotzen. Die palästinensischen Dörfer dort erhalten von den israelischen Behörden keine Genehmigung zum Anschluss an das Stromnetz, obwohl die Leitungen teilweise direkt über ihre Häuser zu den nahen jüdischen Siedlungen führen. Zusammen mit der palästinensischen Bevölkerung, die bis dahin nur schlagende, schikanierende Siedler und Soldaten kannte, errichteten die israelischen Ingenieure von Comet-ME Solar- und Windenergieanlagen.

Seitdem müssen die Bauernfrauen die Butter nicht mehr stundenlang schlagen, sondern nutzen einen Butterstampfer, und die Kinder können auch abends Hausaufgaben machen. Ich war zugegen, als die Lichter in einem Dorf, das bis dahin nachts in völliger Dunkelheit lag, zum ersten Mal zaghaft aufgingen. Es mag sich kitschig anhören, aber in dem Moment glaubten wir doch alle an ein Wunder.



Projektstichwort

In Ramallah wird zukünftig unser neuer Kollege Luke McBain die medico-Arbeit in der Westbank, in Gaza und in Israel fortsetzen: Entwicklung der Dörfer in der Jordansenke, rebellische Theaterarbeit in Jenin, kritische Aufklärung über die blinden Flecken in der israelischen Gesellschaft, grenzüberschreitende Kooperationen für das Recht auf Gesundheit und elementare Bürgerrechte zwischen Mittelmeer und Jordantal. Das Stichwort lautet: Israel-Palästina.


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Quelle:
medico international - medico Rundschreiben 04/2010
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Januar 2011