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INITIATIVE/099: Ärzte helfen Transitflüchtlingen in Kiel ehrenamtlich. Sprechstunde im Schwedenkai (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 12/2015

Flüchtlinge
Kurze Hilfe mit großem Effekt

Von Dirk Schnack


Ärzte helfen Transitflüchtlingen in Kiel ehrenamtlich. Tägliche Sprechstunde im Schwedenkai.


Zwei Mal zwei Quadratmeter klein ist der Wickelraum im Schwedenkai in Kiel. Das ist vollkommen ausreichend für den eigentlichen Zweck. Seit einigen Wochen aber herrscht täglich zwei Stunden lang Hochbetrieb in dem kleinen Raum, den die ehrenamtlich tätigen Ärzte, die den Transitflüchtlingen in Kiel medizinisch helfen, zu einem provisorischen Untersuchungszimmer umfunktioniert haben.

Der Transit nach Skandinavien ist für viele Flüchtlinge in den vergangenen Monaten zum Ziel geworden. In den norddeutschen Fährhäfen war deshalb die Zahl an Menschen, die auf ein Ticket für die Fahrt nach Schweden, Norwegen oder Finnland warteten, stark angestiegen. Aus Rostock wurde zum Redaktionsschluss von mehreren tausend Menschen berichtet, die auf eine Weiterfahrt in den Norden warteten. Auch in Kiel kommen in unregelmäßigen Schüben viele Flüchtlinge an, die über das Wasser weiterreisen möchten. Die begrenzten Kontingente führten dazu, dass zunächst in den Terminals, später in von der Stadt zur Verfügung gestellten Notunterkünften Flüchtlinge übernachteten. Für jede Nacht erhalten die Flüchtlinge ein farbiges Armband, auf dem ihre Wartezeit abgelesen werden kann. Einige Flüchtlinge tragen bis zu sechs solcher Armbänder.

Die meisten wollen lieber heute als morgen an ihr Ziel, sind von einer wochenlangen Flucht unter schwierigen Bedingungen erschöpft.

Das Bündnis, das in Kiel die Flüchtlingshilfe organisiert, hatte Ärzte über das Kieler MediBüro angesprochen und um deren Hilfe gebeten. Einer von ihnen ist Dr. Peter Reibisch, der in Ellerbek als Hausarzt niedergelassen war. Seit einiger Zeit schon ist der mittlerweile 71-Jährige im MediBüro aktiv, inzwischen ist er einmal pro Woche immer zwischen 15 und 17 Uhr im Schwedenkai ehrenamtlich im Einsatz. Jeden Montag kommt Reibisch nun mit seiner über 40 Jahre alten Arzttasche zum Terminal, um zu helfen. "Ich dachte zunächst, nach vier oder fünf Einsätzen wäre Schluss", sagt Reibisch. Doch der Hilfebedarf wurde stärker. Deshalb sind Reibisch und seine Kollegen auch im November noch im Einsatz, und sollte sich nach Redaktionsschluss nicht unvorhergesehen etwas ändern, wird dies wohl auch noch zum Jahresende der Fall sein. Dass den Transitflüchtlingen, die ja schließlich in Kürze auf Dauer in einem Land mit guter Gesundheitsversorgung leben werden, noch vor Ort geholfen werden muss, steht für Reibisch außer Frage. Seine Einstellung: "Wer krank in Deutschland ist, gehört behandelt." Dass dies allerdings auch noch Monate nach Beginn der Einsätze ausschließlich ehrenamtlich erfolgt, hält er nicht für richtig. So wie Reibisch kommt täglich ein ehrenamtlich tätiger Arzt zum Schwedenkai. Sie organisieren ihre Einsätze selbst und sprechen sich ab, damit eine tägliche Sprechstunde gewährleistet ist. Nach Ansicht von Reibisch müsste sich der Staat besser um die Kranken unter den Transitflüchtlingen kümmern und eine Hilfe organisieren.

An diesem Montag trifft Reibisch wie jeder Arzt hier im Schwedenkai zunächst den 21-jährigen Mahmoud, der vor einem Jahr aus Syrien nach Deutschland gekommen ist. Mahmoud hilft täglich als Übersetzer. Neben seiner Muttersprache Arabisch kann er Türkisch und Deutsch. Türkisch hat er auf der Flucht gelernt. Seit er in Deutschland ist, lernt er jeden Tag die Sprache, die er mittlerweile so gut beherrscht, dass er zu einer wertvollen Stütze für die Transitflüchtlinge geworden ist. Sein Traum ist es, in Kiel Medizin zu studieren.

Reibisch und Mahmoud holen zunächst aus einem Vorratsraum gespendete Medikamente und schließen dann den Wickelraum auf, auf dessen Tür in verschiedenen Sprachen "Arzt" steht. Sofort versammeln sich eine Reihe von Patienten. Viele von ihnen sind von der langen Flucht erschöpft und erkältet. Halsschmerzen und Fieber sind weit verbreitet in diesen Tagen unter den Flüchtlingen. Es gibt aber auch andere Situationen. "Ich hatte hier eine Frau mit einem frisch entbundenen Säugling, noch mit Nabelschnur", berichtet Reibisch. Sein Angebot, sofort einen Klinikplatz zu organisieren, schlug die junge Mutter aus - dann hätte ihr Ticket nach Schweden seine Gültigkeit verloren.

"Wir machen sprechende Medizin, das war in der Praxis früher auch unser Schwerpunkt."

Nur ein paar hundert Meter weiter im Oslo-Kai warten noch mehr Menschen auf die Fähre nach Norwegen. "Wir wären froh, wenn wir hier auch eine ärztliche Betreuung hätten", sagt eine Helferin. So schickt sie kranke Transitflüchtlinge in den Schwedenkai, wo Reibisch und Mahmoud zwei Stunden lang ununterbrochen Patienten empfangen. Wo Mahmoud weder auf Türkisch und Arabisch und Reibisch nicht auf Deutsch und Englisch weiterkommen, wird ad hoc Übersetzungshilfe organisiert. Bei Kurden wird eine junge Frau hinzugeholt, die von Kurdisch auf Arabisch übersetzt, damit Mahmoud dann auf Deutsch übersetzen kann. In solchen Situationen wird es voll im Wickelraum und alle Beteiligten sind froh, meistens bei offener Tür behandeln zu können. Manchmal aber sind geschlossene Türen wichtig. Etwa bei der Familie, die mit vier Kindern nach vierwöchiger Flucht aus Aleppo angekommen ist. Die Eltern sind mit der erkrankten ältesten Tochter gekommen, die abgehorcht werden muss. Als die Tür geschlossen ist, ist die Mutter kurz vor einem Zusammenbruch. Unter Tränen berichtet sie, dass sie gar nicht nach Skandinavien wollen, sondern in Deutschland bleiben wollen. Weil die Kieler Erstaufnahmeeinrichtung überfüllt war, wurden sie zunächst in die Markthalle gebracht, die Transitflüchtlingen zur Übernachtung dient. Sie hat noch mehr kranke Kinder, die aber ohne die Aufnahme in der Erstunterkunft gar nicht in die medizinische Betreuung kommen. Reibisch untersucht zunächst das Mädchen und stellt der Familie dann eine Bescheinigung aus, dass sie aus ärztlicher Sicht dringend in die Erstaufnahme gehören. Mehr kann er nicht tun. Die Frau aus Aleppo klammert sich an seine Bescheinigung und bedankt sich ausführlich.

"Das war das erste Mal, dass Flüchtlinge hierher kommen, die gar nicht weiterreisen wollen", berichtet Reibisch anschließend. Es stimmt ihn nachdenklich, dass der Familie in der Erstunterkunft nicht geholfen werden konnte. Kurze Zeit später kommt ein weiterer Flüchtling, der in Deutschland bleiben möchte. Immer wieder kommen auch Patienten, die sich schon Helfer und Übersetzer mitbringen, gegenseitige Hilfe ist ausgeprägt. Ein junger Mann aus Afghanistan kommt in Begleitung eines Landsmannes, der schon länger in Kiel lebt. Der Flüchtling macht nicht den Eindruck, als wenn er ohne die Unterstützung in der Lage wäre, sich Hilfe für seine Beschwerden zu holen. Blut im Stuhl, Schmerzen im Bauchraum und Rückenschmerzen plagen den Mann, der ebenfalls wochenlang unterwegs war. Reibisch kann ihn über seinen Übersetzer beruhigen und macht ihm Mut, dass es ihm in einigen Tagen schon besser gehen wird. Die Darmspiegelung, die er empfiehlt, will der Landsmann des Patienten in einer Kieler Klinik organisieren.

Über die alles andere als optimalen Bedingungen in dem beengten Raum kommt von Reibisch keine Beschwerde - im Gegenteil. "Ich bin froh, dass wir diesen Raum zur Verfügung gestellt bekommen haben", sagt Reibisch. Auch das große Engagement des Dolmetschers weiß der Arzt zu schätzen. Ohne ihn, ist der Arzt sicher, wären viele Behandlungen für die Transitflüchtlinge kaum möglich. Dass ihm keine Geräte zur Verfügung stehen, ist für den Hausarzt kein Hindernis. "Wir machen sprechende Medizin, das war in der Praxis früher auch unser Schwerpunkt."

Eine Lösung für die kranken Transitflüchtlinge durch die öffentliche Hand, wie von Reibisch gefordert, war bis Redaktionsschluss nicht in Sicht. Stattdessen nahm die Zahl der Flüchtlinge und damit der Bedarf an ärztlicher Hilfe zu - und damit auch die Belastung für die ehrenamtlich tätigen Helfer.


MediBüro

Das MediBüro in Kiel leistet Medizinische Hilfe für Menschen ohne Papiere und war schon lange aktiv, bevor in diesem Jahr die Zahl der Flüchtlinge sprunghaft anstieg.

Das MediBüro ist auf Spenden angewiesen (MediBüro Kiel e.V.;
IBAN DE87 210602370000647292,BIC GENODEF1EDG)


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 12/2015 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2015/201512/h15124a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
68. Jahrgang, Dezember 2015, Seite 18 - 19
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dirk Schnack (Ltg.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Januar 2016

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