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PFLEGE/418: Pflegenden den Rücken frei halten (BAuA)


baua: Aktuell 4/09 - Amtliche Mitteilungen der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin

Workshop Ergonomie in der Pflege in Berlin

Pflegenden den Rücken frei halten


"Ergonomisches Patientenhandling aus europäischer Sicht" stand im Mittelpunkt des gleichnamigen Workshops, der am 16. und 17. November 2009 im Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie in Berlin stattfand. Der internationale Workshop, den die BAuA mit Unterstützung der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW), des Deutschen Netzes Gesundheitsfördernder Krankenhäuser (DNGfK) und der Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA) ausrichtete, beleuchtete den aktuellen Stand systematischer und ergonomischer Problemlösungen in der Pflege. Mit rund 170 Teilnehmern aus Forschung und Praxis stieß das Thema auf eine gute Resonanz.

Handlungsbedarf in einem der größten Wirtschaftsbereiche in Europa ist gegeben. Etwa zehn Prozent aller Beschäftigten der Europäischen Union arbeiten im Gesundheitsdienst und in der Wohlfahrtspflege. Insbesondere Beschäftigte in der Pflege und Betreuung leiden überdurchschnittlich häufig an Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE), vor allem an Erkrankungen der Lendenwirbelsäule. Die Health and Safety Executive (HSE) in Großbritannien berichtet, dass eine von vier Pflegekräften aufgrund von arbeitsbedingten Rückenbeschwerden schon einmal arbeitsunfähig war. Im britischen Gesundheitsdienst kommt es bei der manuellen Handhabung von Lasten jährlich zu mehr als 5000 Verletzungen. Ungefähr die Hälfte davon ereignet sich während des Bewegens von Patienten. Belastungen aufgrund von ungünstiger oder statischer Körperhaltung bei der Pflege von Patienten können ebenfalls zu Gesundheitsproblemen führen.

In Deutschland gehören Helferinnen in der Krankenpflege und Pflegekräfte über 45 Jahre zu den Berufsgruppen bei Frauen, die überdurchschnittlich häufig wegen Muskel-Skelett-Erkrankungen arbeitsunfähig sind. In der Erwerbstätigenbefragung 2005/2006 gaben zwei von drei Pflegenden an, häufig schwer tragen zu müssen - eine Belastungssituation, die sich künftig verschärfen wird, schließlich steigt der Anteil älterer, übergewichtiger und immobiler Patienten stetig an.

Dennoch sind weder Pflegekräfte noch andere betroffene Berufsgruppen bislang ausreichend vor zu hohen körperlichen Belastungen im Patientenhandling (PH) geschützt. Beim Patientenhandling handelt es sich um alle Formen des manuellen Bewegens von Patienten - nicht nur in der Pflege. Dazu gehören sowohl die Unterstützung bei der Bewegung, Transferaufgaben als auch bewegungstherapeutische Maßnahmen. Präventive Aktivitäten bezogen sich bisher mehrheitlich auf interessierte Pflegekräfte und werden nur in Ausnahmen innerhalb eines Hauses flächendeckend umgesetzt.

Durch die Entwicklung von Mindeststandards im Patientenhandling lassen sich jedoch die ergonomischen Grundlagen sichern, auf denen eine nachhaltige Prävention aufbauen kann. Noch ist strittig, ob sich in Deutschland solche Mindeststandards verankern lassen. Darum wollte der Workshop eine grundlegende Orientierung über den Handlungsbedarf im betrieblichen und überbetrieblichen Bereich geben. Dabei ging es vor allem darum, sich über konkrete Handlungsempfehlungen zu verständigen, Beispiele guter Praxis zur Entwicklung betrieblicher Mindeststandards kennenzulernen und Impulse aus Nachbarländern aufzunehmen.

In Deutschland mangelt es noch an "ergonomischer Kultur" im Gesundheitswesen. Zu Lasten der Beschäftigten in vielen Berufsgruppen, die keinen ausreichenden Schutz vor zu hohen körperlichen Belastungen genießen. Insbesondere im Patientenhandling fallen Gefährdungsbeurteilungen zu physischen Belastungen oft unter den Tisch. Es fehlt an Wissen und Kompetenzen zu ergonomischem Arbeiten. Flächendeckende Unterweisungen der Beschäftigten sind selten. Oft finden sie nur in der Pflege statt und auch dort nur an interessierte Beschäftigte im Rahmen der Fortbildung.

In der Praxis zeigt sich häufig, dass betrieblich veranlasste oder individuell organisierte Einzelmaßnahmen, wie Rückenschulen oder Tageskurse, ohne Wirkung bleiben. Durch wohlmeinende Führungskräfte oder engagierte Beschäftigte angeschaffte Hilfsmittel werden oft nicht eingesetzt, weil ihre Eignung für den speziellen Einsatzbereich nicht geprüft wurden oder sie von den Pflegekräften nicht sinnvoll angewendet werden können. Maßnahmen zur Sicherheit und zum Gesundheitsschutz mit dem Ziel der Prävention von MSE/Rückenbeschwerden können aber nur dann erfolgreich sein, wenn sie systemisch und ganzheitlich im Unternehmen implementiert werden und nicht als isolierte Maßnahmen auf einzelne Beschäftigte, Abteilungen oder Zeiträume beschränkt bleiben.

Beim Workshop stellte die Berufsgenossenschaft für Gesundheit und Wohlfahrtspflege (BGW) das TOPAS_R Konzept vor, das die Technik, Organisation, Personenbezogene Aspekte sowie die Arbeits-Sicherheit und Rücken einbezieht. Dabei eignen sich einzelne Aspekte des T-O-P Modells als Instrument, um Gefährdungen zu ermitteln und zu beurteilen. Zugleich liefern sie auch die Matrix für präventive Maßnahmen. Damit kann den Ursachen von MSE/Rückenbeschwerden bei Pflegekräften auf verschiedenen Ebenen entgegengewirkt werden. Zugleich machte die BGW deutlich, dass es keine pauschalisierte Lösung aller Probleme durch ein Verfahren oder eine Technik und damit kein standardisiertes Vorgehen im Sinne eines Patentrezeptes gibt. Die Möglichkeiten und Kenntnisse der Pflegekraft - adäquate Anwendung bereitgestellter Hilfsmittel und erlernter Methoden bei unterschiedlichen Patienten mit unterschiedlichen Krankheitsbildern und Ressourcen - entscheiden vor Ort über das angemessene Vorgehen. Jede Pflege-Aktivität erfordert eine individuelle Lösung angepasst an die jeweilige Situation und an die jeweiligen Bedingungen.

Derart systematische Ansätze zahlen sich jedoch aus. So berichtet das Universitätsklinikum, dass sich nach Einführung des Präventionsprogramms Rückengerechter Patiententransfer in der Alten- und Krankenpflege (RÜPT) der Anteil von MSE in der Pflege innerhalb von drei Jahren von 16,6 Prozent kontinuierlich bis auf 11,4 Prozent und damit um etwa 30 Prozent verringerte. Weitere Informationen wird der BAuA-Forschungsbericht "Evaluation des Pflegekonzepts Rückengerechter Patiententransfer in der Kranken- und Altenpflege. Langzeit-Follow up zur Ermittlung der Nachhaltigkeit präventiver Effekte" enthalten, der sich zurzeit im Druck befindet. Andere Beispiele aus der Praxis verdeutlichten, dass es eine Anzahl vielversprechender Ansätze gibt.

Im Gegensatz zu Deutschland sind jedoch andere europäische Staaten wesentlich weiter. So gibt es in Großbritannien beispielsweise den Back Care Advisor (BCA). Abhängig von der Größe des Unternehmens arbeitet er allein oder in einem spezialisierten Team, um Gefährdungen durch die manuelle Lastenhandhabung zu ermitteln und Maßnahmen einzuleiten. Neben der Auswahl und Einweisung in ergonomische Arbeitshilfen steht die Schulung des Personals im Mittelpunkt seiner Tätigkeiten.

Die Ausbildung der BCA ist landesweit geregelt und an verschiedenen Ausbildungsstätten möglich. Ähnlich arbeitet auch der niederländische Ergocoach. Er setzt die "Praxisrichtlinien" um, die im Rahmen einer nationalen Politik gemeinsam mit den Sozialpartnern entwickelt wurden. Obwohl sie auf ergonomischen Grundlagen beruhen, geben die Praxisrichtlinien in einfacher Sprache Anweisungen für die "Do's" und "Don'ts" in der täglichen Pflegepraxis. So stieg beispielsweise der Einsatz von Patientenliften in den Niederlanden zwischen 1999 und 2008 von 19 auf 83 Prozent. Im Zeitraum von 2001 bis 2008 sank die zwölf Monats Prävalenz für Rückenschmerzen bei Beschäftigten von 61,5 auf 42 Prozent. Auch Finnland und Italien haben gute Erfahrungen mit nationalen Programmen gemacht. Unter anderem machten die Erfahrungen insbesondere aus Großbritannien deutlich, dass letztlich die reale Beurteilung einer konkreten Gefährdung im Arbeitsalltag nur durch die betroffenen Berufsgruppen selbst vorgenommen werden können.

Insgesamt wurden auf dem Workshop Mindestanforderungen für Deutschland hervorgehoben. Dazu gehören der Aufbau eines methodenübergreifenden Expertenwesens in Pflege und Physiotherapie unter Einbeziehung ergonomischer Grundlagen ebenso wie die Definition von evidenzbasierten Mindestgrundlagen und prinzipienorientierten Problemlösungskompetenzen. Ergonomische Grundlagen müssen in die Berufsausbildung einfließen. Die Unterweisung ergonomischer Mindestgrundlagen muss flächendeckend erfolgen, Problemlösungskompetenzen allen Berufsgruppen vermittelt werden. Zugleich braucht die notwendige interdisziplinäre Grundlagenforschung eine Förderung.

Abschließend stellte der Workshop die Frage des Aufbaus einer nationalen Aktionsplattform zur Diskussion. Sie könnte einen Rahmen für die Diskussion der verschiedenen Perspektiven zur Problemlösung herstellen und weitere Weichenstellungen auf einer gemeinsamen Grundlage - begleitet von Pflege-, Gesundheits- sowie Arbeitswissenschaften - ermöglichen. Dort ließe sich auch weiter klären, ob und wenn ja welche Art von Mindestempfehlungen für den Bereich des Patientenhandling für hilfreich und notwendig gehalten werden. Auch für die Frage der Verankerung von verbindlichen Mindestregelungen in Deutschland würde die Aktionsplattform ein Forum schaffen. Die Klärung dieser Fragen wird insbesondere vor dem Hintergrund der demografischen Auswirkungen auf Pflege- und Gesundheitsberufe sowie der zunehmenden Übergewichtsproblematik für dringend erforderlich gehalten.

Eine Dokumentation des Workshops "Ergonomisches Patientenhandling aus europäischer Sicht" wird auf die BAuA-Homepage eingestellt.


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Quelle:
baua Aktuell Nr. 4/09, Seite 5-6
Herausgeber:
Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA)
Friedrich-Henkel-Weg 1-25, 44149 Dortmund
Telefon: 0231/90 71-22 55, Telefax: 0231/90 71-22 99
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"baua Aktuell" erscheint vierteljährlich.
Der Bezug ist kostenlos.


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Januar 2010