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STUDIE/212: Zur medizinischen Benachteiligung gehörloser Menschen in Deutschland (idw)


Johannes Gutenberg-Universität Mainz - 11.02.2009

Gehörlose Menschen sind in Deutschland medizinisch benachteiligt
Studie will Status quo aufdecken

Umfrage wendet sich mit Gebärdenvideos im Internet an Betroffene
Bisher wenig Wissen über die Gesundheitsversorgung von Gehörlosen


(Mainz, 11. Februar 2009, lei) Ein medizinischer Notfall ist oftmals schon bedrohlich genug, aber für gehörlose Menschen kann er sich selbst in einem weniger schlimmen Fall zur Katastrophe auswachsen: Viele der Gehörlosen können sich verbal nicht detailliert ausdrücken, medizinischem Personal fehlt oft die Sensibilität im Umgang mit Gehörlosen und Dolmetscher sind in Notfällen kaum verfügbar. Aber auch in der normalen medizinischen Versorgung, vom Arztbesuch bis zur Teilnahme an Präventionskursen, sind Gehörlose in unserer Gesellschaft schlechter gestellt. "Wir haben in Deutschland eine Bevölkerungsgruppe, die besonderer sozialmedizinischer Aufmerksamkeit bedarf, da Benachteiligungen möglich sind", sagt Prof. Dr. Eva Münster vom Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin. "Es gibt nicht einmal quantitative sozialmedizinische Daten, wie es genau um die gesundheitliche und ärztliche Versorgung von Gehörlosen steht." Das Institut, das der neu eingerichteten Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz zugeordnet ist, hat deshalb eine Studie gestartet, um bei den Betroffenen den aktuellen Versorgungsstand zu ermitteln - mit dem Ziel, die Situation zu verbessern.

Zum Beispiel gibt es nur wenige Ärzte, die die Gebärdensprache beherrschen. Gehörlose haben daher die Möglichkeit, zu einem Arztbesuch einen Dolmetscher mitzunehmen, der ihre Handzeichen übersetzen kann. Dies wird auch von den Krankenkassen bezahlt. "Leider ist zu vermuten, dass zu wenige qualifizierte Gebärdensprachendolmetscher dafür zur Verfügung stehen, besonders in ländlichen Bereichen", so Münster. "Besonders problematisch ist es, wenn es sich um hoch sensible Gespräche zwischen Arzt und Patient handelt, zu denen eher ungern Dritte hinzugezogen werden." Ganz besonders schwierig ist die Situation in der Psychotherapie.

Dieser eingeschränkte Zugang zu den Leistungen der Gesundheitsversorgung betrifft in Deutschland eine erstaunlich große Bevölkerungsgruppe: Etwa 200.000 Menschen sind ertaubt, rund eine Million Menschen sind hochgradig schwerhörig. Etwa 50.000 Menschen sind ohne Hörvermögen geboren oder bereits vor dem Spracherwerb ertaubt. Bei diesen Gehörlosen im engeren Sinne können Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben vorliegen. Das Bildungsniveau der Betroffenen reicht daher von Akademikern bis hin zu Analphabeten. Allen gemeinsam ist die Gebärdensprache.

Daher schlägt das Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin bei seiner Umfrage neue Wege ein. "Es ist das eigentliche Novum an dieser Untersuchung, dass wir diesen Personenkreis, der sich durch Gebärdensprache ausdrückt, durch eine großangelegte Studie in seiner eigenen Sprache ansprechen", sagt Johannes Höcker, Doktorand des Instituts für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin, der die Studie durchführt. Die Fragen werden nämlich in Gehörlosensprache gestellt und in einem Gebärdenvideo im Internet gezeigt. "Wir wollten auf die Schriftsprache so weit es geht verzichten, damit alle Betroffenen an der Umfrage teilnehmen können, unabhängig von ihrer Lese- und Schreibkompetenz." Die Antworten können direkt am PC angeklickt werden.

Die Fragen, die es zu beantworten gilt, betreffen zum Beispiel die eigentliche Erkrankung, die Beschaffung von Informationen und Kenntnisse über die staatlichen Unterstützungen, die Zufriedenheit mir Arzt und Krankenhaus oder Hilfen beim Übersetzen. Auch das Thema Cochlea-Implantat (CI) wird angeschnitten: Viele Ärzte glauben, dass die Gebärdensprache in naher Zukunft aussterben wird, weil mehr und mehr Cochlea-Implantate eingesetzt würden - die Gehörlosen begleiten diese Entwicklung aber recht kritisch. Genaueres dazu und zu den anderen Themen will die Studie herausfinden, weshalb ein jeder Teilnehmer gebeten wird, von insgesamt 79 Fragen ein Minimum von 57 Fragen zu beantworten. Die einzige Voraussetzung ist, dass die Teilnehmer Gebärdensprache sprechen. Die Internetseite ist unter der Adresse www.gl-umfrage.de seit Anfang Februar freigeschaltet, ein Werbevideo ruft auf den einschlägigen Homepages und Portalen für Gehörlose zur Teilnahme auf. Dass auch die Betroffenen selbst sehr daran interessiert sind, mehr über die aktuelle Situation zu erfahren, zeigt die gute Resonanz: In der ersten Woche haben bereits über 800 Teilnehmer den Internet-Fragebogen ausgefüllt. Bis zum Sommer, so die Verantwortlichen, wissen wir dann mehr über die Situation von Gehörlosen in der Gesundheitsversorgung.


Kontakt und Informationen:
Prof. Dr. oec. troph. Eva Münster, MPH
Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin
Universitätsmedizin der
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Tel. 06131 39-30278, Fax 06131 39-36680
E-Mail: eva.muenster@uni-mainz.de

Weitere Informationen finden Sie unter:
http://www.uni-mainz.de/FB/Medizin/asu/
http://www.gl-umfrage.de

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung:
http://idw-online.de/pages/de/institution218


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung
Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Petra Giegerich, 11.02.2009
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Februar 2009