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HINTERGRUND/176: USA - Musik für Schwarzenrechte, vergessener Jazz-Trompeter Massey wiederentdeckt (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 2. März 2012

USA: Musik für Schwarzenrechte - Vergessener Jazz-Trompeter Massey wiederentdeckt

von Kanya D'Almeida


New York, 2. März (IPS) - In einem schummrigen Restaurant im New Yorker Viertel Harlem lauschen an einem ungewöhnlich warmen Februarabend rund 120 Gäste gebannt, wie ein altes musikalisches Juwel neu aufpoliert wird. Nach und nach legen die 15 Mitglieder der Big Band ihre Instrumente aus der Hand und singen gemeinsam mit dem Dirigenten Fred Ho "Hey God-damn-it". Ihre Stimmen hallen in dem Raum so stark wider, dass allen die Dringlichkeit des Songs bewusst wird. "Things have got to change."

Das Stück ist der zweite Satz aus der neunteiligen 'Black Liberation Movement Suite', eine Ode an den Kampf der Schwarzen um Gleichberechtigung und Dekolonisierung in den sechziger Jahren. Komponiert wurde die Suite von dem legendären afro-amerikanischen Trompeter Cal Massey, der 1972 starb. Massey ist in Vergessenheit geraten, obwohl sein Einfluss auf große Jazz-Musiker wie John Coltrane, Archie Shepp und Charlie Parker unverkennbar ist.

Bevor die Suite zum diesjährigen 'Black History Month' im Lokal 'Red Rooster' Einzug halten konnte, musste sie einen langen und steinigen Weg zurücklegen. Von den vierziger bis zu den sechziger Jahren hatte die Jazz-Industrie, in der vorwiegend Weiße das Sagen hatten, Massey jedes erdenkliche Hindernis entgegengestellt. Er landete auf dem Index und durfte nicht in den legendären Jazzsälen aufträten. So habe bis auf einen kleinen Kreis von Eingeweihten lange niemand etwas von dem Stück erfahren, sagt Ho, ein asiatisch-amerikanischer Komponist und Saxofonist, der die erste Plattenaufnahme mit der Big Band produzierte.

Dabei hatte das Panafrikanische Kunstfestival in Algier die Suite bereits 1969 in Auftrag gegeben. Eldrige Cleaver, ein im Exil lebendes Mitglied der US-Bürgerrechtsbewegung 'Black Panther', bat Massey damals, das Werk für eine Art Fundraising-Aktion zugunsten des Gefangenenhilfsfonds der Schwarzen Panther zu komponieren.


Viele Jazzmusiker ignoriert

"In der Jazzmusik gibt es keine Meritokratie", sagt der bekannte Musiker Salim Washington IPS. "Die meisten Jazzmusiker leben in absoluter Anonymität, selbst diejenigen, die erstaunlich versiert und kreativ sind. Das Starsystem gestattet es nur wenigen großen Spielern, nach oben zu kommen." Cal Massey war nicht daran gelegen, den weißen Liberalen zu gefallen, meint Washington. Und wenn jemand wie er auch noch für den Schwarzen Nationalismus eingetreten sei, habe er keinerlei Chance mehr auf eine Karriere als Jazzmusiker gehabt.

Erst im vergangenen Jahr brachte die kleine Gruppe 'Scientific Soul Sessions' aus Harlem genug Geld zusammen, um eine Aufnahme der Suite zu finanzieren. "Als Gruppe radikaler, revolutionärer Künstler und Kulturproduzenten, die Öko-Sozialismus, das Matriarchat und Autarkie vertreten, erachten wir Masseys Werk als notwendig für die Wiederbelebung der Linken des 21. Jahrhunderts, die nicht nur dem kapitalistischen westlichen Imperialismus die Stirn bietet, sondern auch einen neuen Weg nach vorn weist", erklärt der Saxofonist Ben Barson. Die Kenntnisse und Kunstrichtungen, die den Menschen durch die Konsumkultur fremd geworden seien, müssten wieder aufgewertet werden.

Nachdem ihm die Musikindustrie die kalte Schulter gezeigt hatte, musste Massey wohl oder übel allein zurechtkommen. Er produzierte die meisten Werke selbst und mischte das musikalische Establishment auf. Er spielte nicht in vollbesetzten Sälen vor bürgerlichen Jazzliebhabern, sondern in den Kirchen und Gemeindezentren der Schwarzen in Brooklyn, vor allem im Viertel Crown Heights, wo er aufgewachsen war.

Seine Gruppe habe Masseys Werk erst durch Ho kennengelernt, berichtet Barson. In dessen Buch 'Wicked Theory, Naked Practice' finde man die bisher ausführlichste Biografie des Musikers. Washington, der ebenfalls SSS angehört, habe die Aufführungen der Suite durch die Brooklyn Big Band im April und Mai 2010 geleitet. Wie Massey ist auch SSS davon überzeugt, dass Kunst nicht nur ein Spiegel des politischen Lebens ist, sondern auch ein Werkzeug, der die Welt verändern kann.


Systemwechsel nicht ohne kulturellen Wandel

"Wie viele revolutionäre Künstler der 'Black Arts'-Bewegung der sechziger Jahre glaubte auch Massey, dass ein Systemwechsel zugleich einen kulturellen Wandel erfordert, den Künstler aller Disziplinen herbeiführen sollten", erläutert Ho, der bereits den Guggenheim-Preis gewonnen hat. Masseys poly-tonale Musik basiere auf dem neo-afrikanischen Rhythmus im Sechs-Achtel-Takt. Die Orchestrierung weise komplexe kontrapunktische Strukturen sowie mehrfache rhythmische und melodische Schichtungen auf, erklärt er. Seine Musik und seine Botschaft seien gleichermaßen revolutionär.

"Jazz ist zwar eine von Männern dominierte Kunstform", sagte Bhinda Keidel, die einzige Musikerin der Band. "Dennoch hat mir Fred Ho die Chance gegeben, mit diesem Stück zu brillieren", so die Tenor-Saxofonistin, der nach einem gefühlvollen Solo das gesamte Publikum zu Füßen lag.

Die Suite bleibt das einzige Werk, in dem Massey einigen der einflussreichsten schwarzen Bürgerrechtlern seine Reverenz erweist - Malcom X, Huey P. Newton und Martin Luther King. "Diese Musik stammt aus einer anderen Welt", meint der Band-Pianist Art Hirahara. "Sie enthält Elemente von so gut wie jedem Jazzmeister des 20. Jahrhunderts. Und doch habe ich einen solchen Sound noch nie gehört." (Ende/IPS/ck/2012)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. März 2012