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REZENSION/007: Kai Degenhardt - Näher als sie scheinen (SB)


Ein politisches Liedermacheralbum - was sonst?


Wer sich dem emanzipatorischen Lied verpflichtet fühlt, gleicht heute einem einsamen Rufer in der Wüste sozialer Verwerfungen, verlorengegangener Erinnerungen und fragmentierter Existenzen. Ermutigend ist das nicht und sonderlich einträglich ebensowenig, weshalb es jede Menge handfeste Gründe gibt, von dem moribunden Genre die Finger zu lassen und den Erfolgreicheren nachzueifern. Kai Degenhardt, bekennender politischer Liedermacher, ist allen Vorteilserwägungen zum Trotz seinem Metier treu geblieben, was ihn für sich genommen schon vor einer Heerschar musikalischer Dienstleister am Mainstream auszeichnet, die ihre Fahnen in den wechselnden Wind opportuner Klänge und Parolen hängen.

CD-Cover - © plattenbau

© plattenbau

Auch seine fünfte Platte sei "selbstverständlich wieder ein politisches Liedermacher-Album - was sonst?", schreibt er einleitend im Begleittext seiner neuen CD "Näher als sie scheinen". So nüchtern und unprätentiös wie diese Feststellung ist sein Konzept, sich mit seinen Zuhörern in dem übergeordneten thematischen Bezugsrahmen für die 16 Stücke in Gestalt der sich verschärfenden globalen Systemkrise fortzubewegen. Kai Degenhardt stellt seine Position nicht voran, versteht sich nicht als Träger einer spezifischen Botschaft und erörtert keine tagespolitischen Themen. Agitprop ist seine Sache nicht, schreibt und singt er doch von sich, "Gott und der Welt und wie das alles zusammenhängt". Wen es vorzugsweise nach brandaktuellen Konflikten, Spektakeln, Affären drängt, mag ihn sogar als unpolitisch links liegen lassen. Er zieht es vor, die Verhältnisse "sozusagen en passant, poetisch zu erörtern" und "das ganze Spektrum der persönlichen Konnotationen" seiner Hörer wachzurufen, "auf dass diese sich mit Text und Musik irgendwie verzahnen".

Einer fremdbestimmten Welt isolierter Individuen, für überflüssig erachteter Verlierer und zynischer Karrieristen hält er weder einen moralischen Spiegel vor, noch flüchtet er sich in den trotzig beschworenen Marschtritt einer untergegangenen Arbeiterklasse. Als kritischer Beobachter entsolidarisierter Kämpfe um einen Platz an den schwindenden Fleischtöpfen und die Teilhabe an sinnentleerten Konsumräuschen konfrontiert er die Zuhörer anhand seiner persönlichen Erfahrungen und Erinnerungen mit ausgewählten Szenarien jener Alltagsrealität, die mit der von ihnen erlebten Zerrissenheit, Flüchtigkeit und Ausweglosigkeit korrespondieren. Schnelle Antworten, konsensheischende Aufwallungen oder euphorische Hymnen mit eingängigem Refrain darf man von ihm nicht erwarten, wohl aber die Einladung, ihn auf seinem Streifzug zu begleiten, seinen Blick auf die Nichtigkeit verbrennender Versprechen zu teilen und eigenständig den roten Faden der Unannehmbarkeit dieser Verhältnisse zu spinnen.

Kai Degenhardt ist kein Liedermacher, der sich der Begleitinstrumente als bloßer Transportmittel zur Akzentuierung seiner Texte bedient. Mag man beim ersten Hören auch seinen Worten bevorzugte Aufmerksamkeit schenken, so erschließt sich mit jedem tieferen Eindringen in die Komposition die Vielfalt und Fülle der Instrumentierung und eines gediegenen Arrangements. Zwei Jahre lang hat er Alltagsgeräusche aufgenommen und ausschließlich daraus die Beats für die Stücke seines neuen Albums zusammengefügt. Es spricht für die Qualität und Ergiebigkeit dieser Fleißarbeit, daß ihre Resultate dem Zuhörer niemals traktierend die Gehörgänge überfluten, sondern sich geradezu untergründig einschleichen und entfalten. Kann man gewisse Geräusche auf Anhieb identifizieren, so wird man der Herkunft vieler anderer erst beim zweiten und dritten Hören gewahr, wenn Rhythmen und Percussion, die man wie selbstverständlich einer gängigen Instrumentierung zugeordnet hatte, plötzlich als das erkannt werden, was sie sind: Allzu geläufige und gerade deswegen ausgeblendete Elemente der urbanen Kakophonie, vertraut und verfremdet zugleich in dieser überraschenden Wiederkehr.

Kein Stück ist wie das andere, wenn Lyrik mit treibendem Sprechgesang, Ballade mit epischer Textmalerei wechselt, computergenerierte Soundschleifen sich mit live eingespielten Instrumentalstimmen zu einem organischen Kontext verbinden. Nirgendwo trifft man auf Überfrachtung mit pompösen Klangelementen oder entufernden Kulissen, strebt Degenhardt doch eine unaufdringliche Synchronizität von Sprache und Musik an, die sich nicht gegenseitig den Rang ablaufen, sondern einander in einer sorgsam wie einfallsreich arrangierten und produzierten Luzidität befruchten. Dabei scheut er pulsierende Gitarrenriffs und wummernde Bässe ebenso wenig wie ein rohe Straßensprache oder einen Hamburger Milieujargon, doch stets nur dort und in einer Dosierung, die der Verdeutlichung dient. So meidet er klangliche Klischees und Schemata, was ihn um den von Musikern gemeinhin gehuldigten Akzeptanzwert des Schunkelns und Mitsingens bringen dürfte, doch gerade deswegen geeignet sein sollte, eine ernsthafte Auseinandersetzung mit seinem Werk zu befördern. Wollte man die kompositorische Vielgestaltigkeit dieses Albums auf einen konzeptionellen Nenner bringen, käme dem wohl gesprochene Literatur, musikalisch eingebettet, recht nahe.

Ein breites thematisches Spektrum, angefangen von der Wehmut verflossener Liebe, die Entfremdung gewichen ist, über kaum noch erinnerte Restbestände verloren geglaubter Wünsche, berechnende Gier und extreme Abstumpfung, Verlustängste und gescheiterte Höhenflüge bis hin zur Furcht der herrschenden Kräfte vor dem nahe Ende ihres Regimes unterstreicht das weitgespannte Repertoire des Künstlers. Dabei fehlt es auch nicht an klassischen Stoffen linker Geschichte, wenn etwa in "Herbst 1918" Matrosenaufstand und Arbeiterräte gestreift werden, "Zum Verbrechen" den untrennbaren Zusammenhang von Faschismus und Kapitalismus anreißt oder "Die Karawane" einen Zug historischer Heldengestalten der Linken aus Sicht eines Außerirdischen vorbeiziehen läßt. Besorgt fragt man sich an solcher Stelle allerdings, wie verständlich der doch gedrängt und schlaglichtartig dargebotene Stoff für jemanden sein kann, der mit dem Zusammenhang nicht vertraut ist. Hier droht die Crux der Linken, sich als kleine Insel im Meer weithin vergessener und umgedeuteter Geschichte zu behaupten, dem Versuch, über ihren Kreis hinaus aufzuklären, allzu rasch auf die Füße zu fallen.

Indem Kai Degenhardt von seiner eigenen lebensgeschichtlichen Erfahrung und Sichtweise ausgeht, verknüpft er zwangsläufig aufeinanderfolgende Epochen, die für jüngere Generationen wie mit undurchdringlichen Nebelwänden voneinander geschieden und nur heillos verfremdet rezipiert sein dürften. Impressionen, die einem Altersgenossen des Künstlers sofort etwas sagen, können für Jüngere möglicherweise absolutes Niemandsland bleiben. Da es einem politischen Liedermacher naturgemäß darum geht, einen wachsenden Kreis von Zuhörern zu erreichen, stellen sich ihm in seinem Metier zwangsläufig dieselben Probleme, an denen die bundesdeutsche Linke insgesamt hart zu beißen hat.

Im vorliegenden Album befleißigt sich Degenhardt des Versuchs, der fragmentierten Gesellschaft und ihrer entsprechend bruchstückhaft verkürzten Rezeption mit Momentaufnahmen, Streiflichtern, Bildausschnitten und Einzelszenarios zu entsprechen. In einem Tribut an die begrenzte Kapazität und Bereitschaft, komplexere Zusammenhänge und notwendigerweise Geduld und Hartnäckigkeit erfordernde Analysen zu erarbeiten, begegnet er der vorherrschenden Reduktion mit ihr verträglichen Eindrücken in der Hoffnung, auf dem Weg assoziativer Verknüpfung neue Verbindungen zu schaffen und Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen. Hier stellt sich freilich die Frage, ob nicht auf diese Weise gesammelte sprachklischierte Zeiterlebensfetzen dazu führen, für sich genommen einer Beliebigkeit ihrer Deutung Vorschub zu leisten.

Im verständlichen Wunsch, nicht belehrend daherzukommen und damit aller Ohren von vornherein zu verschließen, begnügt sich der Künstler mit der Außensicht des Beobachters, der die Verhältnisse aufmerksam registriert und seine Eindrücke dem Zuhörer mitzuteilen versucht. Was genau ihm der Liedermacher sagen will, bleibt mithin dem Rezipienten überlassen und schlimmstenfalls so beliebig, wie ein kurzgeschlossener Konsens nur sein kann. "Vom Machen und Überlegen" spricht dieses Dilemma mit dem Vorschlag an, sich nach verrauchter Wut am nächsten Morgen noch einmal alles gründlich zu überlegen. An solcher Stelle wünschte man sich denn doch ein deutliches Signal, daß die vernünftige Abkehr von Radikalität und Jugendsünden doch wohl nicht die implizite Botschaft sein kann, die man aus diesem Stück herauslesen sollte. Natürlich könnte man sich als Voyeur außerhalb des Geschehens wähnen. Doch wie der Titelsong des Albums zu bedenken gibt, sind die Dinge eben doch "näher als sie scheinen".

Sollten diese und andere Fragen oder Einwände den Zuhörer in Unruhe versetzen, hat der politische Liedermacher Kai Degenhardt, dessen musikalische Professionalität diese CD von Anfang bis Ende prägt, im Grunde ein wesentliches Ziel erreicht und die weiterführende Diskussion angeregt. Wenngleich seit seinem vierten eigenen Album "Weiter draußen", das 2008 erschien, mehr als drei Jahre ins Land gezogen sind, weiß man als Hörer seiner jüngsten Produktion zu schätzen, daß er diese Zeit auf so fruchtbare Weise genutzt hat.

Kai Degenhardt
Näher als sie scheinen
Label: plattenbau
Best.-Nr.: 12030
Erschienen: 14.03.2012

14. März 2012