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BERICHT/009: Achim Reichel - Immer anders, immer mehr (SB)


Das Leben leben



Es gibt in Deutschland wohl kaum einen Musiker, der sich so oft und auf so verschiedenartige Weise neu erfunden hat wie Achim Reichel. Als "Schiffsjunge" sollte er in die Fußstapfen seines Vaters und Großvaters treten. "Er war noch sehr jung, doch er war schon ein Mann, ein Kerl wie ein Baum und stark wie ein Bär - und so fuhr er das erste Mal..." - aber es kam anders, als geplant.

Achim Reichel - Foto: © 2012 by Hinrich Franck

Achim Reichel
Foto: © 2012 by Hinrich Franck

Mit 17 nämlich fuhr Achim Reichel nicht zur See, sondern begründete mit den Rattles eine der erfolgreichsten deutschen Rockbands, tourte später zusammen mit Little Richard, den Everly-Brothers, Bo Diddley, Joe Cocker, Eric Burdon und den damals noch unbekannten Rolling Stones durch England, begleitete die Beatles auf ihrer Deutschlandtournee. Der Erwähnung einer Weggefährtenschaft mit diesen legendären Rockgrößen bedarf es allerdings längst nicht mehr, um die Bedeutung dieses Ausnahmekünstlers zu charakterisieren.

Nach einer musikalischen Zwangspause beim Bund sammelt Reichel 1968 seine Lieblings-Musiker zu einer neuen Band Wonderland zusammen. Die Gruppe hat mit "Moscow" einen Riesenhit, zerbricht aber, weil die Chemie nicht stimmt. Auf der Suche nach einem "vernünftigen Beruf" übernimmt er 1969 den heruntergewirtschafteten Star-Club - und erleidet Schiffbruch. "Zum Gastwirt taugte man dann doch nicht." Als Solokünstler produziert er als A.R. & Machines progressiv-psychedelische Improvisationen. Nicht ohne Einfluß sogenannter zeitgemäßer "Stimulanzien" entsteht das Album "Die grüne Reise", das, wenn auch nicht in Deutschland, so doch im Ausland Beachtung findet. "Das erste Mal ein eigenes Ding", sagt Achim Reichel rückblickend, "wenn auch schwer verdaulich. Es war eine Musik eher für Minderheiten - da hatte nicht jeder einen Sinn für."

Achim Reichel in jungen Jahren - Foto: © 2012 by Schattenblick

Achim im Wunderland
Foto: © 2012 by Schattenblick

Ab Mitte der 70er entdeckt er seine eigenen Hamburger Wurzeln, bringt Alben mit Shanties und deutschen Seemannsliedern heraus, darunter so bekannte wie "Dat Shanty Alb'm" und "Klabautermann". Zunehmend verschreibt er sich der Wiederentdeckung der deutschen Sprache - "Alles andere wäre Urkundenfälschung!" -, befaßt sich mit alten deutschen Balladen und Gedichten, mit Heine, Fontane und Goethe, Eichendorff und Liliencron, Storm und Mörike. Mit seiner musikalischen Interpretation verpaßt er ihnen eine Zeitreise ins Heute, vertont ab 1980 dann auch zeitgenössische deutsche Lyrik (Jörg Fauser, Kiev Stingl), schreibt und singt aber auch eigene Texte.

Achim Reichel ist einer, von dem man behaupten darf, er habe nie aufgehört, danach zu forschen, was ihm im Innern am nächsten lag - volles Risiko und mit zunehmend weniger Rücksicht auf kommerzielle Erfolge. Viele Fans straften ihn dafür ab, wenn er wieder mal die Richtung wechselte, indem sie ihm den Rücken kehrten. Aber es sind immer wieder neue dazugekommen - bis heute. Sie schätzen ihn als jemanden, "der weiß, was er im Leben will". Und: "Er ist ein Mensch geblieben wie du und ich, bodenständig, nicht größenwahnsinnig, eigentlich ein großer Junge." [1]

So einer wie er hat nach gut 50 Jahren Musikgeschichte eine Menge zu erzählen, und Achim Reichel tut das gern - und gut. Sein aktuelles Programm "Solo mit Euch - mein Leben - meine Musik", ein dreistündiger Mix aus Stories und Liedern einer langen Künstlerkarriere, erfreut sich auch 2012 großer Erfolge und ausverkaufter Häuser in 60 deutschen Städten. Und obwohl Achim Reichel seine 'Schoten' nun schon im vierten Jahr erzählt - er tut es immer wieder neu. "Jedes Konzert ist anders, ganz speziell", freut sich eine treue Besucherin in Heide, wo er am 16.12.2012 gastierte. "Phantasievoll, voll engagiert und präsent", urteilt das Publikum in Dithmarschen, "bemerkenswert, wie er altem Kulturgut ein neues Gesicht gibt". Manchem ist es "ein bißchen zu viel Text", aber es allen recht machen zu wollen, war noch nie Reichels Ding.

Von der ersten Minute an hat der Erzähler Achim Reichel die gut gefüllte Halle des Heider Stadttheaters am Band. "Ich bin mein eigenes Vorprogramm", sagt der inzwischen 68jährige, der seine Geschichten mit eingespielten Fotos und Filmen aus den vergangenen Tagen untermalt. Auch Mutters altes Radio, noch eins mit dem magischen Auge, das ihm mangels bezahlbarer Alternativen als Verstärker seiner ersten E-Gitarre diente, darf als Requisit auf der Bühne nicht fehlen.

Gitarren und Requisiten aus alten Tagen - Foto: © 2012 by Schattenblick

Stille Zeugen einer wilden Zeit
Foto: © 2012 by Schattenblick

Wie viele Jugendliche seiner Zeit auch war Achim Reichel Rockfan, traf sich mit seiner Clique regelmäßig zum Austausch von nächtens bei Radio Luxemburg aufgenommenen englischsprachigen Songs. Zustimmendes Raunen im Publikum zeigt an, daß der Sender damals bei vielen Kult war. Die erste Gitarre ertauscht er sich gegen einen Plattenspieler - da konnte er noch gar nicht spielen. Aber ein paar Bewegungen vor dem Spiegel, die sahen schon ganz gut aus.

Ab 1960 treten Die Rattles zunächst in Hamburger Kneipen auf, gewinnen 1962 einen Bandwettbewerb des Star-Club und spielen als erste deutschsprachige Band in diesem deutschen Mekka internationaler Rockmusik. Die erste Platte ist ein heimlicher Live-Mitschnitt von "Mashed Potatoes", einem Song, so Reichel selbstironisch, "der war ungeheuer anspruchsvoll, wenn man es ganz genau nimmt, nämlich mashed potatoes yeah - und das drei Minuten lang, ohne daß es langweilig wird, das muß man erstmal hinkriegen." Bald gibt es für die Rattles den ersten richtigen Plattenvertrag, es folgen Fernsehauftritte im Beat-Club und bei der ZDF-Hitparade.

Das Publikum - die meisten nicht sehr viel jünger als der Künstler - erlebt eine Zeitreise mit Wiedererkennungswert. Achim Reichels musikuntermalte Erzählungen im norddeutschen Zungenschlag, ohne Blatt vorm Maul, aber mit typischem Understatement, sind keine Heldengeschichten, sie handeln eher von Fehleinschätzungen, Mißgeschicken, geraubten Illusionen und modischen Entgleisungen, aber auch von vielen glücklichen Zufällen und einer Prise intuitiver Sondierung. Sie sind ein Stück Zeitgeschichte vor dem Hintergrund eines gesellschaftlichen Umbruchs, der bahnbrechende Veränderungen zu verheißen schien und dessen neue Ideen nicht zuletzt in der Kunst ihren Ausdruck fanden. Musik spielte eine große Rolle als Wort- und Emotionsträger für eine Lebensweise, in der Frieden keine Utopie bleiben, sondern als machbare Option gegen Krieg und Unterdrückung eine Chance bekommen sollte.

So sehr sich die Musik als Katalysator für eine Mobilisierung anbot, so sehr wurde sie von Veranstaltern, Verträgen und Verwertungsrechten vereinnahmt und ließ einen neuen kommerziellen Titan entstehen: die Musikindustrie.

Auf der Bühne: Larry Mathews, Berry Sarlouis, Achim Reichel - Foto: © 2012 by Hinrich Franck

v. lks.: Larry Mathews, Berry Sarlouis, Achim Reichel
Foto: © 2012 by Hinrich Franck

Über eine Stunde geht das Soloprogramm, bevor bei "Herrn von Ribbeck zu Ribbeck im Havelland" zwei weitere hochkarätige Musiker die Bühne betreten: Berry Sarluis, Pianist und Akkordeonist aus den Niederlanden und Larry Mathews aus Irland, mit Geige, Gitarre und Bodhrán. [2]

Und dann geht es noch einmal richtig ab.

Mit Shanties und Seemannsliedern, einem Ausflug mit dem Deutschen Seenotrettungsdienst per Videoeinspieler in die wilde See und der Entdeckung alter Verse und toller Typen in einem ausgedienten deutschen Schulbuch. Hier hört und spürt man besonders deutlich, wie die traditionellen Texte zu neuen Tonfolgen und Rhythmen zu inspirieren vermögen und eine Eindringlichkeit der Musik befördern. Und umgekehrt öffnet die Musik den Zugang zu den alten Strophen, läßt zeitloses Lebensgefühl und nachgeradezu moderne Befindlichkeiten heraus wie bei Joseph von Eichendorffs "Mondnacht":

Es war, als hätt der Himmel
Die Erde still geküßt,
Daß sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müßt.
Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis die Wälder,
So sternklar war die Nacht.
Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.

"Darf man unseren alten Dichtern und Denkern so eine Musik antun?", wurde in den Medien angesichts der rockigen und bluesigen Vertonungen oft gefragt. Reichel: "Man muß sogar - wenn man seine Kultur am Leben halten will!" Allerdings gelingt der Transfer nicht bei allen Stücken gleich gut. Ein Höhepunkt des Programms ist zweifellos Goethes Gedicht und Volkslied vom "Heidenröslein", das von Reichel vom 3/4 in einen 4/4 Takt gebracht wurde und einen gospelmäßigen Anstrich erhielt.

Achim Reichel und seine Musiker auf der Bühne in Aktion - Foto: © 2012 by Hinrich Franck

Ein musikgewaltiges Team
Foto: © 2012 by Schattenblick

Gegen Ende des Programms dürfen auch Ohrwürmer wie "Kuddel Daddel Du" und natürlich "Aloha Heja He" aus dem Album "Melancholie & Sturmflut" von 1991 nicht fehlen. Und dabei wird - ganz klar und ohne Zutun, aus dem 'Solo mit Euch' ein raumfüllendes Publikumssolo.

Auf die Frage der DLZ, ob es ihn nicht nerve, immer wieder diesen alten Song zu singen, antwortet Reichel: "Es hat eine Zeit gegeben, da habe ich gedacht, daß es langsam mal genug sein müßte mit dieser Mitsing-Nummer. Das Lied ist nun 20 Jahre alt, doch bis heute läßt man mich nicht von der Bühne, ohne es gesungen zu haben. Und wenn es dann kommt, dann brauche ich gar nicht mehr zu spielen, die Leute singen einfach immer weiter. Das Gemeinschaftsgefühl bedeutet ihnen was." [3]

Sich berühren lassen, neugierig sein und bleiben auf andere Musiken, Menschen und Kulturen - auf das Leben - könnte als Klammer über dem Werk von Achim Reichel stehen. Er ist einer der wenigen seines Berufsstandes, dem Professionalität und Erfolg noch nicht seine Glaubwürdigkeit zerrieben haben.

Achim Reichel - Foto: © 2012 by Hinrich Franck

Zuhören und Erzählen
Foto: © 2012 by Hinrich Franck

Fußnoten
[1] Zuschauerstimmen aus SB-Kurzinterviews am 16.11.2012 in Heide
[2] Bodhrán = irische Rahmentrommel
[3] Interview mit Stefan Carl, Dithmarscher Landeszeitung vom 13.11.2012

20. November 2012