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BERICHT/024: Was Udo Jürgens sagen kann ... (SB)


Udo Jürgens wird 80
ARD und ARTE präsentieren seine Lebensgeschichte als TV-Dokumentation

Sahne für die Seele



"Udo Jürgens - das ging gar nicht zu meiner Zeit", sagt der Taxifahrer im besten Mannesalter auf dem Weg zum Passage-Kino in Hamburgs Innenstadt, wo am 2. September 2014 der Film "Der Mann, der Udo Jürgens ist" Pressepremiere hatte. Aber ein paar Titel kennt er dann doch, Griechischer Wein zum Beispiel, jenes Lied über die Sehnsucht griechischer 'Gastarbeiter' nach ihrer Heimat, das dem Sänger eine Einladung zu Griechenlands damaligem Ministerpräsidenten Kostas Karamanlis eintrug, oder Merci Chérie, jenen Song, mit dem Udo Jürgens 1966 den Grand Prix gewann und seinen musikalischen Durchbruch erzielte. Noch in derselben Nacht habe er Einladungen von allen europäischen Sendern bekommen und sogar welche aus Amerika, Brasilien und Japan erhalten, erzählt der Sänger, Komponist und Entertainer den mehr als 50 Journalisten im Pressegespräch. Und es war kein Strohfeuer, sondern zündete eine beispiellose internationale Karriere. Bis heute ist Udo Jürgens eine sichere Bank dafür, große Konzerthallen zu füllen, die Termine für seine neue Tournee Mitten im Leben, die am 31. Oktober beginnt, seien fast ausverkauft. Dabei wird der Mann am 30. September 80 Jahre alt.

Udo Jürgens beim Einsteigen ins Auto nach dem Pressetermin - Foto: © 2014 by Schattenblick

Den Film wollte er sich nicht ansehen - Udo Jürgens nach dem Pressetermin in Hamburg, links sein Manager Freddy Burger
Foto: © 2014 by Schattenblick

Aus diesem Anlaß haben der ZEIT-Redakteur Hanns-Bruno Kammertöns und der Filmemacher Michael Wech, die schon andere Größen wie Jörg Immendorf, Gerhard Schröder oder Gunter Sachs porträtiert haben, in Zusammenarbeit mit ARD, SRF, ORF, ARTE und 3SAT eine 90minütige Dokumentation über den Ausnahmekünstler gemacht, die am Vorabend des runden Geburtstages in der ARD und vorab am 21. September bei ARTE ausgestrahlt wird. Sie erzählt von der behüteten Kindheit auf einem Schloß in Österreich, von den Leiden eines eher kränklichen, ängstlichen und zudem unsportlichen Jungen, der oft gehänselt wird wegen seiner abstehenden Ohren, von der frühen Begeisterung für die Musik, vom gewonnenen Komponistenwettbewerb mit 17, dem Studium am Salzburger Konservatorium auch ohne Abitur, von ersten musikalischen Gehversuchen mit eigener Band und einer langen, mehr als zehn Jahre dauernden Durststrecke voller mäßiger und Mißerfolge, immer wieder begleitet von Selbstzweifeln, bis eben zu jenem Durchbruch beim Grand Prix; da ist er bereits über 30. "Mich hat am meisten seine Entwicklungsgeschichte interessiert", sagt Michael Wech im Gespräch mit dem Schattenblick, "bis seine Karriere in Gang kam, der Rest ist ja nur noch eine Anhäufung von Superlativen. Aber der Weg dahin, das ist natürlich spannend."

Neben Filmmaterial, das die Autoren aus mehr als 20 Archiven zusammengetragen und zu Zeitblenden zusammengeschnitten haben, die das Heute und das Damals nicht nur in chronologischer Abfolge präsentieren, sondern miteinander verweben und erzählerisch zusammenbringen (Schnitt Klaus Flemming, Sprecher Philipp Schepmann) gab es intensive Gespräche mit dem Altstar über sein Leben, über Siege und Niederlagen, Einsichten und Erkenntnisse, ungewöhnliche Erfahrungen und über die Liebe natürlich.

Jenny Jürgens vor dem Film-Plakat mit dem Konterfei ihres Vaters - Foto: © 2014 by Schattenblick

Für sie hat er 1984 'Ich wünsch dir Liebe ohne Leiden' gesungen - Tochter Jenny begleitete ihren Vater zum Fototermin
Foto: © 2014 by Schattenblick

Udo Jürgens ist Musiker aus Leidenschaft. Ein Gefühlsmensch, der das, was er da singt, auch meint und das, was er meint, am liebsten singt. Diese Übereinstimmung mit sich selbst ist sicherlich ein Teil seines jahrzehntelangen Erfolges. Mit der Musik werde ich auf- oder untergehen, sagt er dem Vater, der sich einen anderen Beruf für seinen Sohn vorgestellt hätte. Ein Sproß aus einer Familie der besseren Gesellschaft - die einen Großbankier in Moskau mit engem Kontakt zum russischen Zaren, ein Vorstandsmitglied von BP oder einen der Bürgermeister von Frankfurt aufzuweisen hat -, der sich der leichten Muse zuwendet, das war ein absolutes No go. Und Jürgens hat es zu spüren bekommen. In der Zurückweisung, sagt er heute, habe er aber auch gelernt, Schwierigkeiten hätten seine Ernsthaftigkeit befördert.

Seinen eigenen Stil muß er erst finden. Daß es nicht Weiße Chrysanthemen sind, zu deren Intonation er als junger Habenichts und Bin-Noch-Nichts genötigt wird, weiß er sehr schnell. Ein hingerissener Jazzfan ist er, wie er sagt, auch heute noch, aber auch das war langfristig nicht wirklich seins. Begegnungen mit Gilbert Bécaud und dem französischen Chanson bringen ihn auf die richtige Spur: mit Liedern Geschichten erzählen, von Dingen und Situationen, die die Menschen berühren und beschäftigen.

Bald wendet er sich, dem Zeitgeist folgend, auch gesellschaftlichen Problemen zu, singt gegen Intoleranz, Spießbürgerlichkeit und Doppelmoral, kritisiert kapitalistische Auswüchse und soziale Ungleichheiten. "Die Texte zwischen '67 und '71, das waren schon ganz starke Texte", findet Michael Wech, "sowas gibt es heute nicht mehr." "Diese Lieder haben mein Leben verändert", sagt Udo Jürgens, "weil ich plötzlich ganz anders wahrgenommen wurde." Ein 68er allerdings sei er nie gewesen, "die wollten nur unsere Gesellschaft kaputtschmeißen. Ich gehöre zu der Generation, die aufbauen wollte." Bereits 2004 bekannte er in einem Interview mit der FAZ: "Wir haben unsere geistige Heimat auf einer Senkrechten gesucht, in einem Unten und Oben. Man mußte oben dabeisein - nicht durch Charakterlosigkeit, aber durch Fleiß. Das war die Philosophie der fünfziger Jahre. ... Ich wollte unbedingt nach oben." [1]

Auf dem Weg dorthin hat Udo Jürgens viele professionelle Begleiter gehabt, von denen einige im Film zu Wort kommen: als Manager (1963 - 1977) allen voran Hans Rudolf Beierlein, der ihn zwingt, auch am 3. Grand Prix-Wettbewerb teilzunehmen, der ihm mit Anzug und Krawatte das Image des Gentleman auf der Bühne verpaßt und den Bademantel zu einem bleibenden Markenzeichen macht, seit 1977 in dieser Funktion Freddy Burger, der dem Vater das Versprechen geben muß, gut auf den Udo aufzupassen und mit dem er auch freundschaftlich verbunden ist, zahlreiche Liedertexter, die seine Gedanken und Gefühle zu Versen machen, darunter, um nur wenige zu nennen, Michael Kunze, Eckart Hachfeld, Wolfgang Spahr, James Krüss, Wolfgang Hofer, Oliver Spieker, Thomas Christen und, last but not least, der vor kurzem verstorbene Blacky Fuchsberger (Der große Abschied). Seit 30 Jahren begleitet ihn Pepe Lienhard mit seinem Orchester.

Interview vor dem Eingang des Hamburger Passage-Kinos - Foto: © 2014 by Schattenblick

Filmemacher Michael Wech im Gespräch mit dem Schattenblick
Foto: © 2014 by Schattenblick

Auf eine Szene im Film, sagt der inzwischen Erfolgsgewohnte und -verwöhnte, der sich die Dokumentation selbst nicht anschauen will, weil "Dinge wiederzusehen, die man erlebt hat, sehr emotional und sehr berührend und manchmal schwer sein kann", hätten die Macher aus seiner Sicht gern verzichten können. "Wenn ich ehrlich bin, ärgere ich mich darüber, daß das überhaupt gezeigt wird, weil es das einzige Mal ist in meinem Leben, daß ich so eine Situation erlebt habe." Als nämlich auf einer privaten Gala die geladenen Gäste so gar nicht mitgehen wollen. "Die Resonanz war einfach Null, das war ganz kalt", erzählt Michael Wech. "Wir hatten bei den Dreharbeiten keine Chance, ihn während eines aktuellen öffentlichen Konzertes zu sehen, die ja erst noch bevorstehen", so seine Begründung für den Dreh. "Es ist vielleicht nicht bestimmend für seine Karriere, aber es ist ein Stück Udo Jürgens 2014." Und am Ende des Tages sei es eine Heldengeschichte gewesen. Da hatte er sie dann doch alle. "Er geht ja als Gewinner daraus hervor", so Wech. Der Zwischenapplaus des Premierenpublikums bestätigt, warum die Szene unbedingt bleiben mußte.

Was man sich bei einem wie ihm unter einer Zeile "Ich will verdammt sein zur Revolte" (aus Bis an das Ende meiner Lieder, 2005) vorzustellen habe, wollte der Schattenblick von Udo Jürgens wissen. "Das ist eine sehr berechtigte Frage. Ich habe natürlich immer gehofft, daß es möglich ist, Revolte auch in Liedern zu leben, indem man Dinge klar formuliert. Wir alle spüren, daß wir etwas tun müssen, daß wir etwas ändern müssen an dieser Welt, und das ist bereits ein revolutionäres Gefühl."

Direkt einmischen will er sich nicht, er bevorzugt die Umschreibung, das Symbol, die Metapher. Trotzdem lösten manche seiner Lieder öffentliche Empörung aus. Gehet hin und vermehret euch (1988) trug ihm den Zorn der katholischen Kirche ein, Lieb Vaterland (1970) Medienschelte. Nur sein Publikum, das beschwerte sich nie. Bruder, warum bist du nicht mehr mein Bruder, das die Dokumentation wirkungsvoll mit Bildern aus der damaligen DDR in Szene setzt, gehört zu den Liedern, die weitgehend unbekannt geblieben sind. Manche seiner inzwischen mehr als 1000 Kompositionen sind in Vergessenheit geraten, andere bis heute bei ihm geblieben, Aber bitte mit Sahne zum Beispiel oder Ich war noch niemals in New York, das auch den Titel zu seinem Musical lieferte. Heute singt er neben den Evergreens Lieder gegen den Klimawandel, die Totalüberwachung via Internet, warnt vor einem neuen Faschismus von rechts oder links. Er bleibt an den Themen der Zeit, aber immer auf verträgliche Weise, möchte aufrütteln, nicht provozieren. 1996 hatte er dafür eine einfache Formel gefunden: "Wenn ich manchmal total frustriert bin und mich viele Dinge verzweifeln lassen, ... dann ist es das beste, ich versuche wenigstens zu spielen oder das wieder in einem Text rauszulassen aus mir, dann geht es mir hinterher besser." [2] Damit dürfte er nicht nur vielen Künstlerkollegen, sondern auch seinem Publikum aus dem Herzen gesprochen haben.

Udo Jürgens mit ernster Miene beim Foto-Termin - Foto: © 2014 by Schattenblick

Udo Jürgens - musikalischer Streiter für abendländische Kulturwerte
Foto: © 2014 by Schattenblick

Meine Lieder transportieren einfache Wahrheiten, sagt Udo Jürgens, wobei das Einfache, wie man weiß, eine schwierige Angelegenheit und hohe Kunst ist, und es an Wahrheiten bekanntlich viele gibt, ganz nach Bedürfnis und Bedarf. Bei Udo Jürgens sind es beruhigende: "Dunkelheit für immer gibt es nicht" (Immer wieder geht die Sonne auf, 1967) - hoffnungsvolle: "Aus Zuversicht wird Wirklichkeit!" (Auch kleine Steine ziehen große Kreise, 2006) - unmittelbar einleuchtende: "... und was wir denken, sollten wir auch sagen" (Ich bin dafür, 1982) - schwer nachzuvollziehende: "Gemeinsamkeit und Bescheidenheit sind der Weg zur Ewigkeit" (Die Krone der Schöpfung, 1999) - und bedenkliche, von denen man sich nicht wünschen würde, daß daraus die Zeilen eines Liedes werden. Im Pressegespräch erzählt Jürgens von einer Teestunde im Londoner Nobelhotel Dorchester [3], umgeben von lauter offensichtlich gut betuchten, arabischen Gästen. Da fallen dann auch Sätze wie diese: "Die lehnen uns 100prozentig ab. Da sitzen Sie zwischen Leuten, die nichts anderes im Kopf haben, als unsere Kultur zu vernichten."

Für seine Fans gibt der Sänger alles - bis zur Erschöpfung. Um Geld geht es ihm, dessen Vermögen auf 120 Millionen Euro geschätzt wird und der einmal zu den 300 reichsten Schweizern zählte, längst nicht mehr. "Ich habe den Menschen immer vermittelt, daß ich für sie kämpfe, daß ich bereit bin, das Beste zu geben." Unterhaltung, so sein Credo, habe auch etwas mit Haltung zu tun.

Beim Pressefototermin in Hamburg - Foto: © 2014 by Schattenblick

Udo Jürgens, Tochter Jenny, Bruder Manfred Bockelmann und Manager und Freund Freddy Burger, den der Vater wie einen Sohn in die Familie aufnahm (von rechts)
Foto: © 2014 by Schattenblick

Mindestens ebenso wichtig wie die Liebe des Publikums scheint ihm die Anerkennung seiner Familie. Die Entschuldigung seines Onkel am Ende eines erfolgreichen Konzertes wird für ihn zum Schlüsselerlebnis, das er "sein Leben lang nicht vergessen wird", und daß seine Eltern dabei sind, als er mit den Berliner Philharmonikern ein eigenes Stück einstudiert, "ein emotionales Ereignis der ganz besonderen Art".

Ein Wunsch allerdings, den er seit Jahren hegt, ist bis heute unerfüllt geblieben: Einmal bei einem großen Anlaß wie den Salzburger Festpielen mit einem A-Orchester, den Berliner oder den Wiener Philharmonikern oder dem Gewandhausorchester, vor großem Publikum seine sinfonische Dichtung in drei Sätzen, eine Mischung aus Klassik, Rockrythmen und Unterhaltungsmusik, live zu spielen. Dann wäre Udo Jürgens endgültig in seiner Klasse angekommen.


Anmerkungen


[1] http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/udo-juergens-die-liebe-ist-das-groesste-1196576.html

[2] Spiegel-TV-Interview aus dem Jahr 1996
http://www.youtube.com/watch?v=YwQZCWN_mcI

[3] Das Dorchester in Londons Nobelstadtteil Mayfair gilt als eines der renommiertesten Luxushotels der Welt und befindet sich im Besitz des Sultanats von Brunei (bis 1984 britisches Protektorat). Seit einer religionsgestützten Verschärfung der dortigen Rechtsprechung im April 2014 wird es von Prominenten aus aller Welt boykottiert.

18. September 2014