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INTERVIEW/027: Eine Burg und linke Lieder - Grenzenlos und weiter, Romina Tobar und Daniel Osorio im Gespräch (SB)


In der Tradition der sozialen Musik Lateinamerikas

Interview am 23. Juni 2013 auf Burg Waldeck



Die Gruppe Musikandes nimmt die Tradition der lateinamerikanischen sozialen Musik wieder auf, die von Violeta Parra, Atahualpa Yupanqui, Mercedes Sosa und Víctor Jara gefördert wurde. Diese Musik thematisiert die täglichen Überlebenskämpfe und Träume der lateinamerikanischen Gesellschaft. Die Lieder erzielen ihre Resonanz dadurch, daß sie die sozialen Probleme des Zuhörers aufgreifen, durch das Lied ästhetisch verdichten und ihn somit zu einer politischen Haltung auffordern.

Romina Tobar ist Mitbegründerin und Sprecherin des Projekts Musikandes. Sie kam 1998 nach Deutschland und erhielt Unterricht in Gitarre und Musiktheorie. 2011 schloß sie eine Ausbildung als Klavier- und Cembalobauerin ab. Seitdem arbeitet sie als Klavierbauerin in Dillingen/Saar.

Daniel Osorio ist Gründer und Leiter der Musikandes. Er hat in Chile klassische Gitarre, Komposition und elektronische Musik studiert. 2005 erhielt er ein Stipendium der chilenischen Regierung und ging nach Saarbrücken, wo er ein Aufbaustudium absolvierte. Im Jahr 2013 bekam er den Stipendiumpreis der deutschen Bundesregierung für das Deutsche Studienzentrum in Venedig. [1]

Im Rahmen des 5. Linken Liedersommers vom 21. bis 23. Juni auf Burg Waldeck gestalteten Romina Tobar und Daniel Osorio einen Workshop zum 40. Todestag Víctor Jaras. Zudem sorgten sie bei allen Veranstaltungen für die Tontechnik und trugen beim Liederabend einige Stücke aus ihrem Repertoire vor. Am Ende der Zusammenkunft an historischer Stätte im Hunsrück beantworteten die beiden dem Schattenblick einige Fragen.


Mit der Waffe der Gitarre auf der Bühne
Im Gespräch am Tisch - Foto: © 2013 by Schattenblick

Romina Tobar
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schattenblick: Ihr seid beide in Chile aufgewachsen. Wie ist es dazu gekommen, daß ihr heute in Deutschland lebt?

Romina Tobar: Ich bin 1998 nach Deutschland gegangen, weil ich in Chile den Sohn eines Exil-Chilenen geheiratet habe. Zusammen sind wir nach Deutschland ins Saarland gezogen. Das ist 15 Jahre her, und seitdem lebe ich hier.

SB: Und wie ist deine Lebensgeschichte in Chile verlaufen? In welchen Verhältnissen bist du dort aufgewachsen?

RT: Ich komme aus sehr armen Verhältnissen. Alle Bilder, die wir gestern im Workshop gezeigt haben, hätten auch bei mir zu Hause aufgenommen worden sein können. Das Elend, das Víctor Jara in seinen Liedern beschreibt, kenne ich aus meiner eigenen Kindheit. Ich kann aus meiner persönlichen Erfahrung berichten, wie zahllose Menschen in Lateinamerika leben, und dies um so mehr, als ich nun einen Vergleich habe.

SB: Hast du schon in jungen Jahren Musik gemacht?

RT: Nein, ich habe die Musik erst in Deutschland entdeckt. Damals in Chile wußte ich nicht, warum das so war, aber es hatte einen ganz einfachen Grund. Ich wurde während der Diktatur geboren, unter der Kunst und Kultur abgeschaltet waren. Wir nennen diese 17 Jahre die Auslöschung der Kultur in Chile. Damals spielte kaum jemand Gitarre, Charanga oder Panflöte, weil diese Instrumente sehr ungern gesehen wurden.

SB: Chile orientierte sich während der Diktatur an den USA, wurde stramm neoliberal umgeformt und übernahm viele nordamerikanische Werte. Erachtete man deiner Erfahrung nach die einheimische Kultur für minderwertig und rückständig, so daß sie verboten wurde?

RT: Die Gitarre wurde verboten, weil sie in den Augen der Diktatur eine gefährliche Waffe war. Das Symbol Víctor Jaras, der wegen seiner Lieder ermordet wurde, lebte weiter. Er war ein Volkssänger, hatte nur eine Gitarre und sonst nichts. Das wollten sie uns verbieten, damit wir bloß nicht auf die Idee kämen, lustige oder gefährliche Lieder mit der Gitarre zu spielen. Musikunterricht gab es bei mir im Dorf nicht, und soweit ich mich erinnern kann, sollten wir manchmal etwas vorsingen, so daß sie beobachten konnten, wer welches Lied vortrug.

Ich würde gern Daniel das Wort überlassen, weil sein Weg nach Deutschland ein ganz anderer war. Seine Geschichte der Musik und Kultur unterscheidet sich doch sehr von meiner.

Im Gespräch am Tisch - Foto: © 2013 by Schattenblick

Daniel Osorio
Foto: © 2013 by Schattenblick

Daniel Osorio: Ich kam wegen des Studiums hierher. Ich habe an der Universität in Chile Komposition studiert und wollte danach meine Ausbildung mit einem Aufbaustudium in Deutschland fortsetzen.

SB: Habt ihr euch in Deutschland kennengelernt?

DO: Wir haben uns in Deutschland über die Musik kennengelernt. Sie war meine Schülerin im Gitarrenunterricht, und nach einem Jahr haben wir gemerkt, daß wir noch viel mehr zusammen machen können.

RT: Er war mein Lehrer, mit ihm habe ich die Instrumente vor vier oder fünf Jahren zum ersten Mal kennengelernt.

SB: In den 70er Jahren wußte in Deutschland buchstäblich jeder, daß in Chile der Diktator Augusto Pinochet an der Macht war. Dieses Wissen trifft man in jüngerer Zeit immer seltener an, von genauer Kenntnis ganz zu schweigen. Merkt ihr in Chile und in Deutschland, daß den Menschen noch bewußt ist, was damals vor sich ging?

DO: In Deutschland hat sich meines Erachtens vor allem nach der Wende alles verändert. Hier brach sich ein aggressiver Neoliberalismus Bahn, dasselbe ist auch in Chile geschehen. Obwohl viele von uns wissen, wie schrecklich diese Zeit war, möchten sie viele lieber vergessen und nur noch Geld verdienen.

RT: Ich sehe, daß man hier in Deutschland mit dem Thema der Diktatur anders umgeht. Das ist wohl auf die schrecklichen Zeiten zurückzuführen, die in Deutschland vor und während des Zweiten Weltkriegs geherrscht haben. Offenbar hat man hier aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt, etwas Besseres zu machen oder sich zumindest mit diesem Thema auseinanderzusetzen. In Chile wird das Thema Diktatur nicht behandelt, zumindest nicht in der Öffentlichkeit. Dadurch entsteht eine Barriere, und man kann nicht offen darüber reden. Deswegen war es für mich persönlich schockierend, wie viel die Leute hier über die Zeit der Diktatur in Chile wußten. Denn als ich selbst noch dort lebte, wußte ich nicht, daß eine Diktatur herrschte. Das habe ich zum ersten Mal hier in Deutschland erfahren. Die Erkenntnis, wie sehr wir unterdrückt worden waren und daß wir das noch nicht einmal mitbekommen hatten, hat mich zutiefst getroffen.

SB: Die DDR unterhielt enge Beziehungen zur Regierung Salvador Allendes und nahm später viele Menschen auf, die vor der Diktatur flüchten mußten. Hingegen unterstützte die Bundesrepublik das Regime Pinochets, und westdeutsche Unternehmen pflegten engste Kontakte bis hinein in die Folterkeller. Nach offizieller Lesart lehnte man die Diktatur natürlich ab, doch blieb es der Linken vorbehalten, die tatsächliche Zusammenarbeit mit der Militärjunta anzuprangern. Vergleichbar dem Umgang mit der deutschen Geschichte erklärten hier viele Menschen, sie hätten nichts mit der Diktatur in Chile zu tun gehabt.

RT: Aber ich sehe auch, daß die deutsche 68er Generation von der Diktatur weiß. Die jüngere Generation hier in Deutschland weiß allerdings wenig darüber. Deswegen liegt uns daran, mit unserer Musik zu vermitteln, was damals geschehen ist. Natürlich wären wir froh, wenn das mehr junge Leute mitbekommen würden.

SB: Welche Erfahrung macht ihr bei euren Auftritten? Sind da viele jüngere Leute im Publikum oder eher ältere?

DO: Das ist sehr gemischt. Wir haben einmal ein Konzert unter dem Titel "Der andere 11. September" gegeben. Dabei waren sehr viele junge Leute unter den Zuhörern, und am Ende des Konzertes kam ein 16jähriges Mädchen auf uns zu.

RT: Sie kam zu uns und sagte, ob wir es ihr erlauben würden, den Titel "Der andere 11. September" zu benutzen. Wir hatten ihn gewählt, weil der 11. September 2001 in den USA den Tag des Putsches in Chile buchstäblich wegradiert hat. Sie hat uns also gefragt, ob sie das Thema in der Schule im Kurs kreatives Schreiben verwenden darf. Ursprünglich wollte sie über Vampire schreiben, aber jetzt ...

DO: Sie sagte, ich möchte nun über den 11. September schreiben.

RT: In unseren Konzerten benutzen wir auch Bildmaterial, weil das die Leute stärker berührt. Normalerweise stehen wir zu viert auf der Bühne mit den Bildern im Hintergrund. Wenn man nur Lieder, Lieder, Lieder spielt, sind nach 90 Minuten alle müde.

DO: Die Lieder sagen für sich genommen nur denen etwas, die bereits politisch engagiert sind. Was aber ist mit den anderen, die keine Ahnung von Politik und kein Interesse daran haben? Muß man das Interesse wachrufen, dafür sind wir als Künstler verantwortlich. Wir müssen ein größeres Publikum erreichen, aber nicht wegen der Auftritte und des Geldes, sondern weil wir eine Botschaft verbreiten wollen. Man muß sehr kreativ sein, um die Jugend zu erreichen. Die Jugend denkt im Gefolge der technologischen Entwicklung visuell und ganz kurz. Daher müssen wir unsere Präsentation verändern und die Musik mit Texten und Bildern verbinden.

RT: Wir verwenden neben Videos auch Fotos, die wir oftmals aus dem Videomaterial schneiden und dann ganz langsam kommen und gehen lassen. Ich brauche kein Maschinengewehr, um zu sagen, wie Präsident Allende umgebracht wurde. Ich zeige die Originalaufnahme einer weinenden Frau in der Diktatur; das reicht völlig aus, um das Publikum zu erreichen. Wie wir herausgefunden haben, erzielt man mit Musikuntermalung, Bildern und Untertiteln eine viel größere Wirkung. Die Untertitel sind sehr wichtig, damit die Leute verstehen, was wir singen.

DO: Wie in einer Oper.

RT: Genau, in der Oper versteht auch kein Mensch, was gesungen wird. Als wir das gemacht haben, war die Reaktion des Publikums erstaunlich groß. Seitdem verwenden wir immer Untertitel. Wir kämpfen mit der Technik, aber es klappt ganz gut.

SB: So daß eure Zuhörer nicht nur die Musik genießen, sondern auch verstehen, worüber ihr singt.

RT: Die Lieder sind für sich genommen eine musikalische Bereicherung der Gesellschaft, aber die Botschaft steckt in den Texten. Diese Texte muß man weitergeben. Ich würde sie am liebsten alle vortragen. Man muß eben kreativ sein und eine Art Simultanübersetzung möglich machen.

Romina Tobar im Halbprofil - Foto: © 2013 by Schattenblick

Man muß kreativ sein, um das Publikum zu erreichen
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Tragt ihr auch ganze Gedichte oder kurze Passagen daraus vor?

RT: Gestern im Workshop haben wir viele Lieder vorher vorgelesen. Das hat eine tiefere Wirkung, weil dann die Zuhörer verstehen, was wir singen und warum wir es auf eine bestimmte Art und Weise vortragen. Früher wunderten sich die Leute, warum ich ein bestimmtes Stück plötzlich so schnell spiele. Víctor Jara wollte damit ausdrücken, daß Che Guevara verfolgt wird und er schnell wegrennen soll, weil die CIA hinter ihm her ist. Deshalb sagt er in dem Lied: "Lauf los, lauf los, lauf weg, hier lang, da lang, dort lang, die werden dich erwischen und die werden dich töten." Deshalb kann ich dieses Lied nicht melodisch singen, und das hat Víctor Jara auch so gewollt. Deswegen enthält es diesen temporeichen Teil. Als ich zunächst das Gedicht vorgetragen habe, merkten die Leute, daß man schon beim Lesen schneller wird, weil man vor den Krallen der Geier, wie Víctor Jara sagt, wegrennen muß.

SB: Würde sonst keiner verstehen, warum ihr ein Lied auf eine ganz bestimmte Weise vortragt?

RT: Genau, wir vermitteln nicht nur die Poesie, sondern erzählen oft auch den Zusammenhang, in dem die Lieder entstanden sind.

SB: Ihr habt Stücke von Víctor Jara und anderen bekannten lateinamerikanischen Künstlerinnen und Künstlern im Repertoire. Spielt ihr auch Eigenkompositionen?

DO: Wir versuchen, auch neue Werke zu schaffen, wobei wir uns intensiv mit dem deutschen Liedgut beschäftigen. Wir bereiten gerade eine Arbeit über den Komponisten Hanns Eisler vor und wollen eine Brücke zu chilenischen Komponisten schlagen. Obwohl eine so große räumliche Entfernung dazwischenliegt, gibt es doch eine Verbindung. Namhafte klassische Komponisten des Neuen chilenischen Liedes wie Sergio Ortega oder Fernando García haben alle für Allende gearbeitet. Hanns Eislers Arbeit wies in eine entsprechende Richtung, obwohl sie sich nie kennengelernt haben. Es ist unglaublich, wie sich die Musik ähnelt! Deswegen bearbeiten wir neue Stücke, die mit Hanns Eisler zu tun haben. Natürlich machen wir auch eigene Kompositionen, da wir versuchen, eine neue Sprache in der Politik zu entwickeln.

RT: Wir versuchen, unsere Lieder auch mal auf andere Weise zu vermitteln. Wenn man ein Stück neu arrangiert, kommt es anders rüber. Zudem gibt es noch viele Themen, die wir anhand der Lieder bearbeiten können, die schon existieren. Daniel versucht dabei immer wieder, neue Passagen einzubauen, die er selber geschrieben hat. Um jedoch ein ganzes Konzert ausschließlich mit eigenen Stücken zu geben, bräuchten wir mehr Zeit, damit wir uns mit weiteren Künstlern beschäftigen können, die sehr wichtig in der Geschichte waren.

SB: Wie seht ihr das Verhältnis zwischen eurer Musik und den dahinterstehenden, emanzipatorischen Ideen? Geht das für euch zusammen und was wäre aus eurer Sicht die beste Verbindung?

DO: Diese Diskussion über Ästhetik und Politik wird schon sehr lange geführt. Wir sind der Auffassung, daß es eine enge Verbindung zwischen Politik und Kunst gibt. Kunst, die nichts zu sagen hat, ist für uns keine oder allenfalls eine elitäre Kunst, in der man sich nur in der Schönheit ergeht. Das kann man natürlich auch machen, doch sollte man nicht vergessen, daß die kapitalistische Gesellschaft auch die Kunst kontrolliert und eine Kunst favorisiert, die friedlich, schön und harmlos ist. Wenn Kunst hingegen über Probleme spricht, ist das ein Problem für diese kapitalistische Gesellschaft.

RT: Das haben wir schon entschieden, bevor wir auf der Bühne zusammen Musik gemacht haben. Schön und lustig musizieren kann man ja, aber ohne Konzept auf der Bühne zu stehen, ist wirkungslos. Die kapitalistische Gesellschaft wünscht, daß wir Unterhaltungsmusik über die Liebe und die Strände von Mallorca hören. Die Strände von Mallorca oder die Seidenstraße mögen ja schön sein, aber keiner weiß, was hinter der Seidenstraße steckt oder neben ihr passiert. Solche Dinge versuchen wir zu vermitteln. Als wir uns dazu entschlossen haben, mit Musik aufzutreten, haben wir zugleich entschieden, unserer Überzeugung treu zu bleiben und keine bloßen Musiker zu sein, sondern mit der Waffe der Gitarre auf der Bühne zu stehen. Wir sind schon einige Male gefragt worden, ob wir auch Unterhaltungsmusik spielen, was wir abgelehnt haben. Das heißt nicht, daß wir die Menschen mit unserer Musik nicht unterhalten, aber nicht auf diese populäre Weise mit harmlosen Liedern. Wir haben schon mal auf Hochzeiten gespielt, aber die Leute vorher gewarnt, daß es vielleicht einigen Gästen nicht gefällt, was wir dazu erzählen. Trotzdem wurden wir als Geschenk für das Brautpaar engagiert.

SB: Wie haben die Hochzeitsgäste reagiert?

RT: Sie waren begeistert, wobei ich freilich auch keine allzu drastischen Worte gewählt habe. Es ist die Geschichte unseres Lateinamerika, die ich vermitteln möchte, und die meisten Leute freuen sich, etwas darüber zu erfahren.

Daniel Osorio im Portrait - Foto: © 2013 by Schattenblick

Kunst muß etwas zu sagen haben
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Habt ihr ein Umfeld von Leuten, die so denken wie ihr, oder von Künstlern, die aus dem gleichen Interesse heraus auftreten?

RT: Da bin ich sehr kritisch, weil es viele südamerikanische Musiker gibt, die in gewisser Weise die Sichtweise auf Südamerika manipulieren. Seitdem wir hier musizieren, merken die Leute, daß es noch etwas anderes als Guantanamera gibt. Südamerika liegt nicht nur unter Palmen, und wir trinken nicht den ganzen Tag Caipirinha und spielen auch nicht ständig Bongos und Congas oder tanzen wie verrückt. Ich sage den Leuten, ganz ehrlich, wenn ihr Guantanamera hören wollt, dann spiele ich euch den wirklichen Guantanamera, der auf Kuba geschrieben worden ist und von der Revolution erzählt. Wenngleich also die südamerikanischen Künstler viel für die Verbreitung unserer Kultur tun, bleibt es doch eine Art Unterhaltungsmusik. Mir fällt tatsächlich kein südamerikanischer Künstler ein, der eine Arbeit macht wie wir, eher schon deutsche Künstler, wie hier auf Burg Waldeck. In Saarbrücken gibt es eine befreundete Gruppe, die das auch macht. Wir sind aber nicht so eng befreundet, sondern kennen einander eben. Man trifft sich immer mal wieder auf kleinen Festivals und empfiehlt einander weiter, damit nicht jedes Jahr das gleiche gespielt wird. Und wir tauschen auch Erfahrungen aus. Aber ja, einige gibt es schon.

SB: Habt ihr so etwas wie ein Stammpublikum, bei dem ihr bereits eingeführt seid, oder spielt ihr häufiger vor Leuten, die gar nicht wissen, was sie erwartet und wofür ihr eintretet?

RT: Im Saarland und in unserer Region bis hin nach Frankfurt kennen uns mittlerweile viele Leute, wobei wir jetzt von politisch engagierten Leuten sprechen. Daß wir wohl nie im Radio gespielt werden, wußten wir von Anfang an und haben uns ja auch dafür entschieden. Wir sind beispielsweise einmal an der Universität in Saarbrücken auf einem Víctor-Jara-Konzert aufgetreten, bei dem 99 Prozent der Zuhörer unter 30 Jahre alt und der kleine Rest Professoren waren. Ich habe es auf der Bühne schwer gehabt, weil ich sah, daß die Leute anfingen zu weinen. Sie waren überrascht, wieviel man in 90 Minuten vermitteln kann, und konnten es gar nicht fassen. Alle bis hin zu den Professoren waren tief ergriffen und beeindruckt, obgleich wir nur ganz einfache Mittel benutzt haben. Wir haben die Lieder übersetzt und zur Einführung die Geschichte Víctor Jaras aus der Sicht seiner Frau erzählt, die ihre privaten Briefe veröffentlicht hat. Anhand dessen hat Daniel das Konzept des Konzerts entworfen. Die Reaktion war absolut unglaublich.

DO: Einer von der Partei Die Linke kam hinterher auf uns zu und konnte zuerst gar nicht reden, weil er immer noch weinen mußte. Aber was er dann sagte, war sehr aufschlußreich.

RT: Er war ungefähr in Daniels Alter und erzählte, daß er das alles nicht gewußt hatte. Das überraschte uns sehr, weil wir davon ausgegangen waren, daß solche Dinge in einer linken Partei Thema sind oder zumindest erwähnt werden. Er bekräftigte jedoch, daß er davon noch nie etwas mitbekommen hätte, und dabei war das jemand, den wir auf jeder Demo in der ersten Reihe gesehen haben. Damals wurde uns klar, wieviel politische Arbeit noch gemacht werden muß.

SB: Ihr erzählt also im Grunde eine Geschichte, die verlorenzugehen droht, zumal die Menschen, die sie miterlebt haben, natürlich weniger werden.

RT: Ja, es sind Greueltaten geschehen, die man einfach nicht vergessen darf. Dennoch scheint sich nur 15 oder 20 Jahre später kaum noch jemand daran zu erinnern. Um dem entgegenzuwirken, haben wir auch das Konzert "Der andere 11. September" gegeben, denn durch das, was am 11. September 2001 in den USA geschah, ist unser 11. September in eurem Gedächtnis verlorengegangen oder in eine Ecke geschoben worden, von der keiner mehr etwas wissen will.

Romina Tobar lacht - Foto: © 2013 by Schattenblick

Der Mensch ist wichtiger als der Profit
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Es gab in Chile nach der Diktatur offenbar eine ausgeprägte, Tendenz, einen Schlußstrich zu ziehen und den Eindruck zu erwecken, man könne auf diese Weise die Vergangenheit begraben. Durch die Aufstände der Studierenden ist in jüngerer Zeit erstmals wieder eine Bewegung von unten entstanden, die weitreichende politische Zusammenhänge herstellt. Wird eures Erachtens eine Verbindung zwischen dem Widerstand in der Juntazeit und den heutigen Kämpfen gezogen?

DO: Der Aufstand in den letzten Jahren in Chile hat nicht viel mit der Diktaturzeit zu tun. Zwar sind Kommunisten und andere Linke, die diesen Bogen schlagen, Teil der neuen Bewegung. Ihr gehören jedoch auch sehr viele Leute an, die nicht in dieser Tradition stehen. Das hat damit zu tun, daß die Geschichte der Diktatur noch immer nicht annähernd aufgearbeitet ist und nur unvollständig oder unzutreffend in den Büchern steht. Wir müssen noch sehr viel darüber sprechen, zumal das Schicksal zahlreicher Verschwundener unaufgeklärt ist.

RT: Man hat unsere Generation dermaßen verblödet, daß wir nicht mehr wußten, was wirklich los war. Und da wir das Problem nicht kannten, hatten wir keine Ahnung, was es zu lösen galt. Mittlerweile ist dank der zahlreichen offenen Netzwerke die Berichterstattung und Kommunikation besser geworden. Wir haben nun andere Quellen als die Zeitungen des Präsidenten und die Fernsehsender, die den reichsten Familien des Landes gehören. Die Studierendenbewegung spielt eine große Rolle, weil sie unter Führung von Camila Vallejo, die der kommunistischen Partei angehört, weit über die Universitäten und Schulen hinaus dafür gesorgt hat, daß die Probleme vielen Menschen bewußt geworden sind. Sie hat gesagt, daß es unser Recht sei, fair und mit Würde behandelt zu werden und dazu gehöre unser Recht auf Bildung, Gesundheit und noch viele andere Dinge, die in den Jahren der Diktatur nicht selbstverständlich waren. In Chile wurde damals alles privatisiert und zu Produkten gemacht, für die man bezahlen muß. Wer Bildung möchte, muß dafür bezahlen, weil es jemanden gibt, der daraus seinen Profit zieht. Daß ich ein Mensch bin, interessiert keinen. Die Kommunisten sagen, daß der Mensch wichtiger als der Profit sein müsse. Würden wir alle nach diesem Motto handeln, wäre die Welt wohl tatsächlich einfacher.

SB: Als alle fortschrittlichen Ideen und Bewegungen schwanden, setzte die Linke in Europa große Hoffnungen in Hugo Chávez und den Sozialismus des 21. Jahrhunderts, in dem viele ein neues Leuchtfeuer sahen. Wie habt ihr die jüngere Entwicklung in Lateinamerika erlebt?

DO: Hugo Chávez - heute Nicolás Maduro -, Evo Morales in Bolivien und Rafael Correa in Ecuador spielen nach wie vor eine große Rolle. Uns ist bewußt, daß dies nur ein langsamer Prozeß der Umgestaltung sein kann. Aber diese Regierungen unterstützen das Selbstbewußtsein der Leute, die erkennen, daß sie viel mehr tun und erreichen können. Wenn die Presse behauptet, Chávez habe die Demokratie unterdrückt, muß man nur die Armen fragen, was Chávez ihnen bedeutet. Alle sagen, er habe ihr Leben verändert. Niemand habe sie beachtet, bis Hugo Chávez zu ihnen kam. Dasselbe geschieht in Bolivien, auch wenn es dort ein bißchen komplizierter ist. In Chile war die Diktatur erfolgreicher als irgendwo sonst, weil es ihr gelang, die Gesellschaft fast alles vergessen zu machen. Sie schuf eine Verfassung und ein Wirtschaftssystem ganz nach ihren Maßgaben, das zu ändern viel Zeit in Anspruch nehmen wird. Solange das Bildungssystem den Unternehmen zuarbeitet, werden wir nichts erreichen. So gesehen sind Venezuela, Bolivien und Ecuador weiter fortgeschritten, denn in Chile werden wir wohl noch 30 Jahre oder länger brauchen, um eine bessere Gesellschaft zu schaffen.

RT: Man darf nicht vergessen, daß auch die Gegenseite nicht schläft und ihre Propagandamaschine auf Hochtouren laufen läßt. In Chile fehlt noch eine reifere Generation, die dazu bereit ist, die herrschenden Verhältnisse wahrzunehmen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Dafür wäre Bildung das A und O, denn wir sind unwissend, weil uns die Diktatur so erzogen hat. Wenngleich wir nicht mehr unter der Diktatur leben, handelt es sich doch bis heute um eine Pseudodemokratie.

SB: Wenn nur die wohlhabenderen Familien die Ausbildung ihrer Kinder bezahlen können, während sich die ärmeren dafür lebenslang verschulden müssen, hat man es mit einem Bildungssystem der Eliten zu tun. Könnte es sich, von der neoliberalen Ökonomie einmal abgesehen, auch um eine Strategie dauerhafter sozialer Spaltung handeln?

DO: Das ist interessant, was du sagst. Wer in Chile studieren kann, steigt gewissermaßen auf eine andere Ebene auf und sagt: 'Ich mußte viel Geld für meine Ausbildung bezahlen, weshalb mir selbstverständlich mehr zusteht als anderen.'

RT: Das ist logisch, und man kann diesen Vorgang beispielsweise auch in Berlin sehr deutlich erkennen. Friedrichshain war vor einigen Jahren ein Viertel mit einer alternativen Szene, heute kann man die Wohnungsmieten dort nicht mehr bezahlen. Damals haben Studierende, ehemalige 68er und alle möglichen anderen Leute dort gelebt, doch inzwischen sind aus diesen Leuten teilweise Anwälte, Mediziner, Professoren geworden, die noch immer dort wohnen, aber sehr viel mehr Geld haben. Dasselbe passiert im Prinzip in Chile, wo teuer erkaufte Bildung fast zwangsläufig elitäres Denken hervorbringt. Man studiert ausschließlich zu dem Zweck, später in finanziell besseren Verhältnissen zu leben als andere. Uns ist vollkommen klar, daß uns diese Leute nicht in die Revolution begleiten werden.

SB: Deutschland galt früher als Wirtschaftswunderland und Sozialstaat. Wenngleich der Lebensstandard nach wie vor höher als in anderen Ländern ist, nehmen doch auch hierzulande Arbeitshetze, Niedriglöhne, Ausgrenzung und Verarmung dramatisch zu. Wie erlebt ihr diese Entwicklung in den letzten Jahren?

RT: Ich lebe seit 1998 in Deutschland und habe die Entwicklung in den letzten 15 Jahren aufmerksam verfolgt. Wenn das so weitergeht, werde ich wahrscheinlich später nicht einmal mehr Rente bekommen. Ich muß noch ungefähr 30 Jahre arbeiten, bis ich vielleicht einen Anspruch erworben habe. Aber ich bezweifle, daß es dann überhaupt noch Rente geben wird. Andererseits fühle ich mich hier sehr wohl, weil es einfach viel besser als das ist, was ich früher erlebt habe.

DO: Für mich hat Deutschland den Vorzug, daß das kulturelle Niveau immer noch sehr hoch ist. In Lateinamerika stehen sehr viel mehr Menschen vor dem Problem, alltäglich um ihr Überleben kämpfen zu müssen. Da gibt es natürlich keinen Platz mehr für Kultur.

RT: Die Leute kämpfen jeden Tag, weil sie nicht sicher sein können, morgen etwas zu essen zu bekommen. Das ist es, was sie unablässig beschäftigt und nie endet. Mit diesen Lebensverhältnissen hat die Staatsoper nicht das geringste zu tun. Sie steht für die anderen da, deren Töpfe jeden Tag voll sind und die dementsprechend genug Geld haben, sich diese Kultur leisten zu können.

SB: Romina, Daniel, ich bedanke mich für dieses ausführliche Gespräch.

Daniel Osorio und Romina Tobar nebeneinander - Foto: © 2013 by Schattenblick

Kein Platz für Kultur im Überlebenskampf
Foto: © 2013 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] http://musikandes.hol.es/biographie.html

Bisherige Beiträge zum Linken Liedersommer auf Burg Waldeck im Schattenblick unter INFOPOOL → MUSIK → REPORT:

BERICHT/013: Eine Burg und linke Lieder - wie alles kam (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/murb0013.html

BERICHT/014: Eine Burg und linke Lieder - Soziales nach Noten (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/murb0014.html

BERICHT/015: Eine Burg und linke Lieder - Die Kunst zu treffen (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/murb0015.html

INTERVIEW/019: Eine Burg und linke Lieder - Nieder und Lagen und Blicke voran, Kai Degenhardt im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/muri0019.html

INTERVIEW/020: Eine Burg und linke Lieder - Zeitenwenden, Brückenköpfe, Dr. Seltsam und Detlev K. im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/muri0020.html

INTERVIEW/021: Eine Burg und linke Lieder - Nicht weichen, sondern Analyse, Klaus Hartmann im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/muri0021.html

INTERVIEW/022: Eine Burg und linke Lieder - Liederparadies im Schatten, Gina und Frauke Pietsch im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/muri0022.html

INTERVIEW/023: Eine Burg und linke Lieder - Genius verkannt, Uli Holzhausen und Matthias Leßmeister im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/muri0023.html

INTERVIEW/024: Eine Burg und linke Lieder - ... leiser geworden, Rainer Johanterwage im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/muri0024.html

INTERVIEW/025: Eine Burg und linke Lieder - lautloses Ende, Jürgen Eger im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/muri0025.html

INTERVIEW/026: Eine Burg und linke Lieder - Der aufrechte Gang, Michael Wildmoser im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/muri0026.html


14. August 2013