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INTERVIEW/039: RAUREIF - Kaum zu glauben, aber doch ...    Achim Reichel im Gespräch (SB)


Dolles Ding

Interview mit der Musiklegende Achim Reichel am 8. Januar 2015 in Hamburg - 2. Teil



Am 23. Januar erscheint eine neue CD von Achim Reichel: RAUREIF, die 24. seiner Karriere und nach 15 Jahren wieder ein Album mit eigenen Texten. Kurz vor dem Erscheinen traf der Schattenblick den Künstler in Hamburg zum Gespräch. Im zweiten Teil geht es um einen Blick zurück in die Zeiten des Aufbruchs, um Glück und andere Zufälligkeiten, erfüllte und nicht erfüllte Träume, gesellschaftliche Veränderungen und gereifte Eigensichten.

Schattenblick (SB): "Sternschnuppen, Kurier geheimer Wünsche" heißt es in einem der neuen Songs. Was würde sich Achim Reichel am allermeisten wünschen, oder anders ausgedrückt, welcher Traum, mag er sich auch als Illusion erwiesen haben oder noch erweisen, wäre es nach wie vor wert, geträumt zu werden?

Achim Reichel (AR): Wir wollen ja nicht sagen, daß wir schon alles erlebt haben, dann hätte man ja gar keinen Grund mehr, optimistisch in die Welt zu schauen. Der Text gehört zu den Stücken, die ich sehr gern mag, weil es da recht phantastisch zugeht. Eins der wenigen Dinge, die sich, glaube ich, jeder und auch immer wieder wünscht, ist das Ding mit der Gesundheit und das mit dem Nicht-Allein-Sein-Wollen, gerade, wenn man älter wird. Als Jüngerer macht man sich keinen Kopf darüber, da geht ja alles von selber, denkt man, da fallen einem die Dinge zu und dann wird man ihnen gerecht oder nicht. "Sternschnuppen" ist jedenfalls ein Song, den ich sehr mag und "Kuriere geheimer Wünsche", na ja, so obergeheim sind die Wünsche gar nicht mehr.

Foto: © 2015 by Schattenblick

Musikerlegende Achim Reichel
Foto: © 2015 by Schattenblick

SB: Was bedeutet es Ihnen, in einer Zeit aufgewachsen zu sein, in der fast alles möglich zu sein schien, und die Welt aus den Angeln zu heben mehr als bloß ein Traum war?

AR: Es gibt Dinge, die möchte man nicht missen und es gibt andere Dinge, von denen denkt man, um die erleben zu können, bist du in der falschen Zeit geboren worden. Das gibt es im Positiven wie im Negativen. Ich hatte zum Beispiel irgendwann mal ein gesundheitliches Problem, nennen wir es mal so, und da wurde mir hinterher klar, vor hundert Jahren wärst du jetzt dran gewesen.

SB: Davor möchte man nicht, dahinter aber vielleicht auch nicht, denn das ist ja schon eine Zeit gewesen, die noch viele offene Räume hatte und zwar nicht nur im Kopf oder in der Phantasie.

AR: Ich glaube, das hängt damit zusammen, daß unsere Jugend noch so eine Art Nachkriegsgeneration war, das heißt, es fängt alles wieder von unten an. Da kommen plötzlich alle aus bescheidenen Verhältnissen, weil die Verhältnisse einfach bescheiden sind, während junge Menschen heute unsere ganze Zivilisiertheit und unseren Wohlstand oftmals gar nicht zu schätzen wissen, weil die denken, "da bin ich 'reingeboren worden, so war's und so soll es man auch bleiben und nun gib mal her, den Kram. Und da soll ich auch noch arbeiten dafür, muß das sein? - Das ist ja komisch." Heute ist alles so irre ausformuliert und zum Teil schon so überspitzt, auch diese verdammte Hintertriebenheit, die zu einer Marktwirtschaft gehört. Zu mir hat mal ein Banker gesagt: "Wir ziehen die Leute über'n Tisch und die denken, das ist Nestwärme." Menschen können einen erschrecken, was der eine einfach nur so dahersagt, bringt den anderen um.

Ich denke, es kommt auch ein anderer Lebensmut zustande, wenn man eben nicht gleich mit dem goldenen Löffel im Mund ins Leben geworfen wird. Wenn man in den 50er Jahren groß geworden ist, dann weiß man, daß die Welt völlig anders aussah. Ich wundere mich oft darüber, wenn man mit Jüngeren spricht, daß die, obwohl alles da ist, trotzdem irgendwie mürrisch drauf sind und unzufrieden. Die Leute sind heute viel schneller bereit aufzugeben als früher, da mußten sie einfach irgendwo weitermachen. Heute gibt es sozial tragfähige Systeme, da kannst du dich auch mit Hartz IV einrichten.

SB: Es gab aber vielleicht auch mehr Freiräume und mehr Perspektiven, etwas aufzubauen - nehmen wir mal Ihre Karriere - auch ein Klima, eine Umgebung, wo man viel experimentierfreudiger war. Wo nicht jemand sagte, entweder bringt das jetzt Erfolg oder du läßt es besser gleich, wo eine viel größere Bereitschaft da war, Dinge auszuprobieren, Lebensformen, Arbeitsformen, die auch scheitern konnten.

AR: Ich sehe das ganz genauso. Dadurch, daß sich dieses westliche Marktwirtschaftssystem so etabliert hat, hat man den Eindruck, die Karten sind verteilt und als junger Mensch da reinzukommen und akzeptiert zu werden, heißt von vornherein Anpassung, und zwar total. Wenn du aus der Reihe springst, warten 20 andere, mindestens, also reiß' dich mal zusammen. Das war früher in der Tat anders. Da hatte man mehrere Möglichkeiten, zu denen man sagen konnte, "ich mache das oder doch lieber das oder na gut, fangen wir erstmal an". Früher war man in vielen Dingen unverkrampfter. Heute heißt es eher: "Weißt du eigentlich, worum es hier geht? Das geht um die dicke Kohle und wenn wir Scheiße bauen, dann rollt nicht nur mein Kopf, sondern deiner gleich mit." Das ist alles sehr gnadenlos geworden und läßt wenig echte Räume, wo man Leuten, die anders ticken, eine Chance gibt. Jedes Ding hat so seine zwei Seiten - auch das.

Achim Reichel engagiert im Gespräch - Foto: © 2015 by Schattenblick

Foto: © 2015 by Schattenblick

SB: Anfang der 70er haben Sie mit "Grüne Reise" und "Echo" experimentelle Ausflüge in die psychedelische Sphäre unternommen, für viele Ihrer Fans mehr als gewöhnungsbedürftig. [1] Bis heute haben diese Platten allerdings in den Kreisen, die diese Richtung wertschätzen, einen guten Ruf. Wie würden Sie Ihre Musik von damals beurteilen, eher als eine Art Jugendsünde oder ist es etwas, dessen künstlerische Bedeutung über diese Zeit hinausreicht? Manche Leute sehen das ja so.

AR: Das sehe ich durchaus auch so. Es war ja der erste Versuch, etwas unvergleichbar Eigenes auf die Beine zu stellen. Wo es eben nicht hieß: "Ja, nicht so schlecht. Wenn man nicht wüßte, daß ihr aus Deutschland kommt, könnte man glatt denken ..." Es war ein musikalisches Projekt, wo ich dachte, wow, sowas gibt's ja noch gar nicht, das ist ja was ganz anderes. Da geht die Musik über die ganze Plattenseite, eine Mischung aus indischen Ragas und sinfonischer Dichtung - und natürlich psychedelisch. Das war die Zeit, wo das Hippietum galoppierte und man es irgendwie leid war, Popliedchen in die Welt zu setzen und dann immer zu hören: "Nicht so schlecht, fast so gut wie die echten." Was ich dann zufällig entdeckte, ist ja was Schrittmachendes gewesen, eine Musik, die auf Technologie basierte. Später nannte man das - da klang es dann ein bißchen anders - Techno. War noch Lichtjahre davon entfernt, aber der Impulsgeber war ein Echogerät. Da spielte man irgendwas rein, düdeldüdelüt, und das kam wieder zurück. Dann konnte man eine zweite Stimme spielen und noch 'ne Baßlinie dazu. Das vermischte sich alles miteinander, war am Ende wie zwanzig Gitarren und floß endlos daher. Ich nannte das auch 'meditative Rockimprovisationen', weil es noch keinen Namen dafür gab. Und das Ding war, alle fanden's toll, nur hierzulande nicht. "Achim, du bist doch hier für was anderes bekannt. Was soll das denn jetzt?"

Vor allem die Kritiker waren ganz vernagelt. Die sind ja nur mit Schubladen unterwegs und Vergleichen: Das gehört hierhin und das gehört dahin, so ähnlich wie hier, so ähnlich wie da. Und die sind plötzlich total in Not gewesen: "Billiger Abklatsch von Pierre Henry (das ist so ein französischer Avantgarde-Typ gewesen), Jazz ist es ja nicht, Klassik ist es auch nicht, aber auch kein Stockhausen. Ja, was ist denn das nun eigentlich?" Die haben sich einen abgebrochen und schließlich beschlossen, das lieber irgendwie zusammenzutreten. Da gab's denn böse Kritiken. Nur in England, Japan, Australien, Amerika, da hatte man Sinn dafür, da war mein Blatt unbeschrieben. Da war ich nicht der Blonde, der mal mit den Rattles, mit den Beatles, mit den Rolling Stones ..., der kann doch jetzt nicht sowas machen. Ist der jetzt ausgeflippt oder was nimmt denn der? Da war es nur die Musik. Es war ja auch die Aufbruchzeit des Krautrock, wenn man so will, da fingen Tangerine Dream an und Kraftwerk. Und diese Anfangszeit, die war ja zum Teil auch sehr rauchgeschwängert. Bis ich dann merkte, die wollen das hierzulande von dir nicht hören. Das war hier mehr so eine Liebhabersache, ihrer Zeit voraus, da gab es nur wenige, die dafür einen Sinn hatten.

SB: Und da reichte der Erfolg im Ausland nicht?

AR: Nicht wirklich. Da hätte ich meine Sachen packen und hingehen müssen, wie es ja viele Filmkomponisten gemacht haben, die nach Hollywood gegangen sind. Unser Produzent zu Rattle-Zeiten, Siggi Loch, der spätere Warner-Chef für Europa, der richtig Weltkarriere gemacht hat, hat immer zu mir gesagt: "Achim, in Amerika Erfolg zu haben, ist gar nicht so unmöglich, wie du dir das vorstellst. Nur eines mögen die überhaupt nicht: Du hockst in Deutschland und rufst da rüber 'Hallo, verkauft mal meine Platten!' Da mußt du hingehen, dann wirst du spielen können, bis du aufgibst, das Land ist so riesengroß. Aber wenn du nicht da bist, dann wollen die dich nicht." Ich hatte zu der Zeit aber schon Familie, ein kleines Kind und all diese Dinge. Da ist man ja mit seiner Freiheit doch mit der Vernunft unterwegs und versucht, das abzugleichen. Ich habe es aber nicht bereut.

Achim Reichel mit Schattenblick-Redakteurinnen - Foto: © 2015 by Schattenblick

Gutes Gespräch
Foto: © 2015 by Schattenblick

SB: Die heutige Sicht gibt der Sache ja durchaus recht, daraus ist ein richtiger Kult geworden.

AR: Das stimmt. Ich wollte das erst gar nicht glauben. Da treffe ich einen alten Journalisten von früher aus der Stones-Zeit: "Du, von dir hab ich gerade was in einem englischen Magazin gelesen." Ich sage: "Echt? Was war denn das?" - "Eine Platte von dir, aus den 70ern, Nummer zwölf bei den 50 great lost albums, und hier, AR & Machines." [2] Da haben sie meinen ganzen Namen hingeschrieben: Achim Reichel, Echo - der einzige Deutsche unter diesen internationalen Größen. Da hab' ich natürlich gedacht, Junge, jetzt weißt du's wieder.

Dann rief mich irgendwann ein Hochschulprofessor von so einer Medien-Uni in Lippe/Höxter an und fragte: "Herr Reichel, hätten Sie was dagegen, wenn ich mit meinen Studenten Ihre Grüne Reise verfilme?" Und ich sagte: "Wie wollen Sie das denn machen?" Und er: "Das überlasse ich meinen Studenten, die finden das gut." Ich sag: "Ehrlich? Wie alt sind die denn?" - "Ja, so um die zwanzig." Das finde ich lustig, weil damals, als ich das machte, da war ich nämlich auch so alt. Und dann bin ich irgendwann mal dahin, um mir das anzugucken, aber wie das so ist, wenn ein anderer sich Bilder dazu einfallen läßt, dann sitzt man davor und denkt, grundsätzlich erstmal ganz toll, aber so manches hat man dann doch irgendwie anders gesehen. Und daß Brian Eno, der U2 produziert hat und bei Roxy Music spielte, also wirklich ein Mann mit Weltgeltung, daß der in einem Interview mit einer Musikzeitschrift sagt: "Bei euch hier in Deutschland, da gab's doch mal AR & Machines", das ist doch wirklich ein Ding.

SB: Auch wenn manche Ihrer Lieder ernst sind, kommen sie mit einem Augenzwinkern rüber. Es hört sich so an, also würden Sie dafür plädieren, sich selber nicht so wichtig zu nehmen. Stimmt der Eindruck?

AR: Ja, durchaus.

SB: Was befördert bei Ihnen diese gewisse Unaufgeregheit des Seins?

AR: Ich finde, man darf sich nicht zu wichtig nehmen. Das mag ich nicht, das paßt nicht zu mir, so bin ich nicht. Ich bin zwar in vielen Dingen so'n komischer Eigenbrötler, aber ich bin weit davon entfernt, den Leuten zu sagen: Es gibt eine Sichtweise und das ist meine und das ist die einzig richtige. Ist doch Quatsch.

SB: In dem Lied "Das Herz der Dinge" heißt es: "Wer weiß, wie lange wir noch haben." Sie schreiben, es hätte sich lange Zeit etwas in Ihnen gegen diese Zeile gesperrt. Warum ist das jetzt anders?

AR: Naja, weil ich das alles allmählich ziemlich phantastisch finde. Es wird einem ja immer klarer, wieviel Glück man hatte. Und ich will das auch so sehen und nicht: Mir wird immer klarer, was für ein Super-Typ ich bin. Das macht einen ja für andere Menschen unerträglich. Als mir das dann so aufging: Mensch, Junge, dein Kinderzimmer hatte noch nicht einmal ein Fenster und jetzt hast du sowas (zeigt aus einer breiten Fensterfront auf den Garten), da frag' ich mich, wer hat mich da geküsst? Wie hab' ich soviel Glück verdient? Okay, ich weiß, ich war fleißig, ich kann sicherlich auch irgendwie was, ich stehe dem Leben nicht nur ablehnend gegenüber. Aber es hat sich doch so eine Art von Dankbarkeit entwickelt, wo ich gar nicht so richtig weiß, wo ich die Kerze hinstellen soll. Insofern habe ich Hemmungen, das einzig und allein nur mir zuzuschreiben. Es gibt eben Fragen, die kann man sich dann doch nicht wirklich oder nur unzulänglich beantworten. Und da such' ich natürlich eine Antwort, mit der ich am liebsten leben würde.

Achim Reichel im Gespräch - Foto: © 2015 by Schattenblick

Foto: © 2015 by Schattenblick

SB: Als die Rattles damals zu den Konzerten mit den Beatles und den Stones kamen, welche Zufälle waren da am Start?

AR: Das ist auch einer von diesen seltenen Glücksfällen. Erstmal waren wir zur richtigen Zeit am richtigen Ort, so geht es los. Hamburg, frühe 60er Jahre, die Aufbruchzeit, der Rock'n'Roll schwappte 'rüber aus Ami-Land. Die Eltern sagten: Uhh, irgendwann wird hier alles amerikanisiert, das wird ganz furchtbar. Und wir haben gedacht, sag' mal, seid ihr nicht ganz dicht, so 'ne geile Musik haben wir hier gar nicht. Wir spielten damals in Bramfeld in einem Hinterzimmer von irgendeiner Kneipe und jetzt kommt das Schicksal oder wer das auch immer angerührt hat ins Spiel: Da tauchte tatsächlich irgendwann so'n Typ auf, der gehörte zur Starclub-Mannschaft in der Großen Freiheit. Und der hat gesagt: Bei uns dürfen ja nur englische und amerikanische Künstler spielen, aber euch finde ich ganz toll. Wir haben uns gefreut, wir waren kleine Jungs. Ich meine, in den 60er Jahren 18 gewesen zu sein, das ist was anderes als heute. Irgendwann kam der dann und sagte: "Wir machen einen Band-Wettstreit - nur für deutsche Bands. Wollt Ihr da nicht mitmachen?" Und wir: "Jau, klar, logo. Machen wir." So fing das eigentlich an. Dann waren wir die erste deutsche Band, die im Starclub spielen durfte.

Jetzt hatte man plötzlich Kontakt zu internationalen Größen oder solchen, die es später wurden. Das ist auch so ein Punkt, daß man mit den Beatles Umgang hatte und dabei überhaupt nicht das Gefühl, das kann ja wohl nicht wahr sein. Das waren einfach vier nette Typen. Und dann, nachdem wir den Wettbewerb gewonnen hatten, hat der Starclub-Betreiber seinen englischen Band-Beschaffern gesagt: Ich nehme eure Bands hier für meinen Club, jetzt müßt ihr mal eine von mir nehmen und zwar die Herren Rattles, die sollen mal auf eine England-Tournee. Laßt Euch was einfallen. Ja, da fanden wir uns wieder auf einer Tournee mit Little Richard, den Everly Brothers, den Rolling Stones. Die hatten gerade ihre allererste Single draußen, das waren noch Nobodies. Während der Tournee ging deren Single dann in die Charts und - das war so witzig - plötzlich wurden die mit einer Limousine abgeholt. Alle fuhren in einem Riesenbus und die Stones mit der Limousine. Da haben wir uns natürlich gedacht: Boah, so schnell kann's gehen. Wie gesagt, die Beatles waren einfach zufällig da, und die Rolling Stones zufällig da drüben und wir so dazwischen. Ich glaube, das war alles Glück.

SB: Wenn Achim Reichel nochmal das Fernweh packen würde - ich nehme mal die Seefahrt als Metapher, also im übertragenen und sehr weiten Sinne: Wohin würde die Reise gehen?

AR: Um das beantworten zu können, müßte ich ja wissen, wie es dort aussieht, wo ich noch nicht war (lacht). Nein, sich einfach treiben lassen, das finde ich toll. Weil dazu ja eben auch gehört: Hey, du vermißt nichts, du versäumst nichts und es wartet auch keiner drauf; dein Zustand stimmt. Guck', wo die Sonne aufgeht, von wo der Wind kommt, welche Menschen dir begegnen. Gefällt‹s dir hier - und wenn nicht, wo ist der Bahnhof, oder haben wir noch Sprit im Tank? Aber auch da bin ich weit davon entfernt, von Honolulu zu reden oder 'einmal noch in die Antarktis, weil da ist das Licht so schön'. Okay, die Welt ist ein Wunder, da bin ich mir ziemlich sicher. Und wir werden sie nie erklären können trotz aller Bemühungen. Dieses 'wir suchen mal einen anderen Planeten, mal gucken, wie es da ist', das finde ich völlig bescheuert. Deswegen habe ich auch in diesem Begleittext geschrieben - der Mensch, wenn er ins All fliegen will, ist wie ein Fisch, der aus dem Aquarium springt und dann am Boden liegt und hechelt und denkt, hier will ich auch nicht her.

SB: Als wir uns 2012 in Husum trafen, haben Sie davon gesprochen, Ihr Leben vielleicht mal aufzuschreiben - nicht als Chronologie, sondern nach dem Motto, was es Ihnen beigebracht hat. [3] Was ist daraus geworden?

AR: Es war zu einer Situation gelangt, wo ich dachte: Ach, jetzt hast du fast 300 Seiten, jetzt kannst du schon mal jemanden ransetzen, der soll bei den Verlagen anklopfen. Das habe ich dann auch gemacht mit dem Resultat: Ja, die sind alle ganz interessiert. Es gab eigentlich nur zwei Sachen, die gefragt wurden: Wann wird er 70, weil dann muß das Buch auf dem Markt sein, am besten sogar schon zu der Buchmesse davor, und: Kann er zwei Monate vorher das Manuskript abliefern? Und plötzlich war ich unter Druck. Ich bin kein routinierter Schreiber, was solche Dinge anbelangt, aber ich hab' schon die Erfahrung gemacht, was das mit einem macht, wenn man anfängt, tief in die Vergangenheit des eigenen Lebens einzutauchen. Da geschehen Dinge, die habe ich nicht für möglich gehalten. Da fallen einem Namen wieder ein, die hat man seit Jahrzehnten gar nicht mehr im Kopf gehabt, und Situationen und Zusammenhänge... Das ist so eine Art Selbstversenkung, und dafür dann die richtigen Worte zu finden, das ist eben nicht immer einfach. Es gibt Dinge, die lassen sich leichter erzählen, andere, da ist es schwieriger, obwohl ich Spaß daran habe, Sätze zu bauen und denke, oh, das fließt schön oder das staffelt sich gut, das bringt's gut auf den Punkt, was auch immer. Das möchte ich dann aber auch in Ruhe zu Ende machen.

Auch weil ich weiß, das ist ein Thema, da kannst du nicht sagen: Naja, die nächste CD wird wieder besser. Eine Autobiographie schreibt man nur einmal. Daß man da tage- und wochenlang rundherum alles vergißt und manchmal gar nicht merkt, wie sonderbar man dabei wird. Wenn man dann mal rauskommt aus seinem Kämmerlein und da steht einer und fragt, was schreibst du denn gerade, erzähl' doch mal, dann kommt man irgendwie aus der Tiefe des Zurückliegenden. Muß man das genießen? Oder muß man einfach nur mit Muße und Zeit darangehen? Auf keinen Fall soll man sich antreiben lassen und es muß ja auch gar nicht wirklich sein. Da sind wir wieder bei dem Ding, wie wichtig will man sich denn nehmen? Man darf ja auch eines nicht vergessen: Das, was man da erlebt hat, das war eben auch nur in dieser Zeit möglich. Und insofern wird einem denn ja auch so klar: Es ist nicht nur der tolle Hecht, sondern der hatte auch verdammt viel Glück. Und da sind wir dann wieder bei der angeborenen Bescheidenheit (lacht).

Der Musiker in seinem Tonstudio vorm Mischpult - Foto: © 2015 by Schattenblick

Foto: © 2015 by Schattenblick

SB: Ich möchte noch einmal zurück zur Musik. Gibt es irgendeinen zeitgenössischen deutschsprachigen Musiker, wo Sie sagen würden, der hat noch was an Eigenständigkeit oder Originalität, die ich schätzen würde?

AR: Das ist gar nicht so aussichtslos, wie man denkt, da gibt es eine ganz Menge. Die Frage ist eine ganz andere: Woher erfahren wir das? Und da ist das Problem, wo wir vorhin schon mal waren. Der Rundfunk denkt nur an seine Quote und an seine gesicherten Erkenntnisse, was Erfolgsfähigkeit anbelangt. Die Printmedien denken nur an ihre Auflage und das ist ja alles bis zu einem bestimmten Punkt auch nicht zu kritisieren. Es gibt unter den jungen Musikern einige interessante Leute, z.B. Clueso aus Erfurt. Das ist ein unmöglicher Name, aber der macht Texte und seine Musik hat ein Erscheinungsbild, wo ich denke: Guck' mal, der ist nicht völlig korrumpiert und muß allen Formaten gerecht werden und der Masse irgendwie nach dem Mund reden. Da wächst was. Für mich geht das natürlich alles viel zu langsam und ich finde, es findet zu wenig Unterstützung, weil alle nur ans Geldverdienen denken. Dabei ist, was über's Geld hinausgeht, möglicherweise das, was uns am glaubhaftesten aus der Misere helfen kann. Für mich fehlt da die Balance, das wirkliche kulturelle Miteinander. Ich glaube, wir tun uns keinen Gefallen, wenn wir in Musik einfach nur ein Produkt sehen und sonst gar nichts.

SB: Achim Reichel, ganz herzlichen Dank für das Gespräch.

Den ersten Teil des Interviews finden Sie unter:
Schattenblick → INFOPOOL → MUSIK → REPORT
INTERVIEW/038: RAUREIF - Stimme frei und Lieder neu ...    Achim Reichel im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/muri0038.html

Mehr zu Achim Reichel unter:
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/murn0002.html
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/murb0009.html
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/muri0001.html
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/murb0001.html


Anmerkungen:


[1] 1971 trat Achim Reichel mit "Die grüne Reise" erstmals als Solokünstler mit einer ganz neuen Art technikgestützter Musik an die Öffentlichkeit. Von diesem Album verkauften sich gerade einmal 3000 Exemplare. Größer war die Resonanz im Ausland. 2007 erlebte "Die grüne Reise" ein Revival und wurde neu aufgelegt.
[2] In einem 2010 unter den Lesern des britischen Musikmagazins UNCUT ermittelten Ranking "verlorener", d.h. vergriffener und offiziell nicht wiederveröffentlichter Alben gelangte das 1972 erschienene Doppelalbum "Echo" von A.R. & Machines auf Platz 12. Der dazu verfaßte Text hier in deutscher Übersetzung:
Nick Watts zitiert Julian Cope zur Würdigung dieses mißachteten Edelsteins dahingehend: "Auf vier Seiten Vinyl hat Achim Reichel eine ganz und gar andersartige Parallelwelt geschaffen, die den Zuhörern ermöglichte, so tief in sich hineinzusinken, daß die Rückkehr in die wirkliche Welt am Ende von Seite vier immer wie ein richtiger Schock über einen kam." Nick fügt hinzu: "Das ist einfach das feinste Stück Krautrock, das nicht die Wiederveröffentlichungs-Behandlung erhält."
http://de.scribd.com/doc/69733864/50-More-Great-Lost-Albums-Uncut-Mag-Aug-2010

21. Januar 2015


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