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INTERVIEW/058: Bis in die Gegenwart - Lieder, Klassenkampf und rechte Aufmärsche ...    Kai Degenhardt im Gespräch (SB)


Streitbar, profiliert und unverbrüchlich

Interview am 17. September 2016 in Hamburg


Dem legendären amerikanischen Arbeitersänger Joe Hill wird die Aussage zugeschrieben: "Ein Flugblatt, und sei es auch noch so gut, wird niemals mehr als einmal gelesen. Ein Lied dagegen wird auswendig gelernt und wieder und wieder gesungen." [1] In diesem Lob des politischen Liedes brachte Hill dessen Funktion für die Weiterverbreitung fortschrittlichen Gedankenguts zum Ausdruck, die nicht nur im damaligen historischen Kontext, sondern auch in den neuen Gestalten der Gegenwart - vom klassischen Liedermachen bis zum politischen HipHop - von Bedeutung war und nach wie vor ist. Mehr denn je prägen heute Musikkultur und zunehmend auch visuelle Medien das Massenbewußtsein.

Ist der politische Liedermacher ein Chronist, ein Mahner und Warner oder gar ein Agitator? Und welche Wirkung vermag er in einem Prozeß der Gesellschaftsveränderung zu erzielen? Der Musiker Kai Degenhardt hat dazu eine in langjähriger Erfahrung gewachsene und dezidiert begründete Auffassung. Vor seinem Konzert "Lieder gegen den rechten Aufmarsch - von damals und von dieser Zeit" im Polittbüro in Hamburg-St. Georg [2] beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen zu seinem neuen Programm, dem Selbstverständnis als linker Künstler und den wiedererstarkten rassistischen und nationalistischen Bewegungen in Deutschland und Europa.


Im Gespräch - Foto: © 2016 by Schattenblick

Kai Degenhardt
Foto: © 2016 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Kai, du trittst heute abend mit dem Programm "Lieder gegen den rechten Aufmarsch - von damals und von dieser Zeit" auf. Was ist das Besondere an deinem neuen Programm und wie ist es entstanden?

Kai Degenhardt (KD): Das Besondere daran ist, daß ich in meinem Programm Lieder von meinem Vater singe, alte Franz-Josef-Degenhardt-Lieder also, und Songs aus meinem eigenen Repertoire und sie aneinanderreihe, vermische, verschneide. Ich habe gemeinsam mit Rolf Becker das Programm "Wölfe mitten im Mai" gemacht, wo wir ausschließlich Texte von Franz Josef Degenhardt, auch belletristische Texte, dargeboten haben. Dabei habe ich gemerkt, wie verblüffend aktuell es ist, diese "guten alten Degenhardt"-Sachen vor dem Hintergrund des europaweiten rechten Aufmarsches der Nazi-Parteien und -Bewegungen zu präsentieren, weil es weitreichende Parallelen zu jener Zeit und den Herrschaftsverhältnissen gibt, die sich bis heute im Grunde nicht geändert haben. Dieses alte Material mit meinen Liedern, die sich mit den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen befassen, zu vermischen, hat mir gefallen, und daraus wird meines Erachtens etwas geschaffen, das über einen nostalgischen Franz-Josef-Degenhardt-Abend hinausgeht und eine Korrelation zu den wirklich gefährlichen Zeiten herstellt, in denen wir leben.

SB: Was bedeutet dir die Zusammenschau von Liedern deines Vaters und deinen eigenen für den Kampf "gegen Rechts"?

KD: Diese Zusammenschau stellt dar, daß sich die Herrschaftsverhältnisse zwar oberflächlich anders in der Wahrnehmung manifestieren, aber von Grund auf nicht geändert haben. Es gibt eine lange Kontinuität zum einen der rechten Bewegung selber und zum anderen der Herrschaftsverhältnisse, die in der Krise auf autoritäre, auch faschistische Optionen setzen, um Gefahren für die bürgerliche Herrschaft abzuwenden - das war damals so und das ist heute so. In dieser Zeit der großen kapitalistischen Systemkrise mit ihren wahnsinnigen sozialen Verwerfungen weltweit und riesigen Flüchtlingsströmen ist das wieder eine ganz reale gefährliche Option geworden - ähnlich wie in den 30er Jahren. So schätze ich das zumindest ein.

SB: Man fühlt sich auf ganz eigentümliche Weise daran gemahnt, wie es kurz vor 1933 gewesen sein könnte, wie es sich angefühlt haben muß.

KD: Ja. Sie kommen heute nicht so daher, wie man sich im Nachklapp die Autoritären in Stiefeln und Leder vorstellt. Jetzt spricht man von berechtigten Ängsten der Bürger, so daß das häufig ganz akkurat und modern anmutet. Damals gab es noch eine Linke, mit der sich die Rechten auseinandersetzten mußten und die sie verfolgten. Das spielt heute kaum mehr eine Rolle, weil die Linke leider so gut wie gar nicht präsent ist. Um so leichteres Spiel hat die rechte autoritäre Variante derzeit.

SB: Welches Lied deines Vaters aus dem Programm von heute abend liegt dir besonders am Herzen und welches ist dein Favorit aus eigener Feder?

KD: Zu den Liedern aus eigener Feder kann ich schlecht etwas sagen, das mache ich nicht gern. Aber zentral für das Programm mit Rolf Becker war "Wölfe mitten im Mai", das ich auch heute spielen werde, weil es ein sehr schönes und intensives Lied mit treffenden Metaphern ist, das die Zeit damals wie heute gut einfängt und Wirkung entfaltet.

SB: Wenn es dir schwerfällt, deinen eigenen Favoriten zu benennen, kannst du denn sagen, bei welchem Thema es besonders schwierig war, die treffenden Worte zu finden?

KD: Schwer zu sagen, weil ich das Gefühl habe, dass es bei meinen eigenen Lieder immer so ist. Was sich in das alte Material gut einfügt und zugleich in der heutigen Zeit greift, ist zum Beispiel mein Lied "Die Tötung", das die fahrlässige bis vorsätzliche Tötung eines afrikanischen Flüchtlings in bundesdeutscher Abschiebehaft in vier Strophen zum Inhalt hat.

SB: Kannst du manchmal erfühlen, was dein Vater zu deinem Auftritt sagen würde?

KD: Ach, das ist gar keine Kategorie, in der ich denke. Wir sind so lange zusammen geritten, wie man im Wilden Westen sagen würde, daß wir uns über unsere gemeinsamen Auftritte immer viel ausgetauscht haben. Das fehlt mir natürlich, aber da unser letzter gemeinsamer Gig inzwischen schon zwölf Jahre zurückliegt, ist diese Situation natürlich längst nicht mehr neu für mich. Es würde mir jedoch sicher nicht schwerfallen, so eine Art inneren Dialog darüber zu führen, weil wir ja wirklich sehr lange zusammengearbeitet haben.

SB: Wird nach der Ankündigung zu der heutigen Veranstaltung im Polittbüro mit der Tradition des politischen Liedermachers eine textlich klare antifaschistische Haltung und eine Bezugnahme auf das konkret Gesellschaftliche und die darin wirkenden Herrschaftsverhältnisse assoziiert?

KD: Es ist mein Ansatz, der in der Tradition der Liedermacher seit den 60er Jahren steht, mit der ästhetischen Methode des Realismus an die Thematik heranzugehen, mit der ich mich auseinandersetze. Diese Gesellschaft ist meiner Auffassung nach durch die Klassenverhältnisse strukturiert und insofern sehe ich es als meine Aufgabe und meinen Beruf, dieser Zeit, in der wir leben, in der die rechten Bewegungen und Parteien wieder aufmarschieren und die Gefahr wächst, gerecht zu werden. Das ist mein Vorhaben, wobei natürlich der poetische oder musikalische Anspruch dazukommt, das auch gut rüberzubringen. Brecht hat unter den "fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit" das erforderliche Geschick genannt, die Wahrheit unter die Leute zu bringen und zu verbreiten. Das ist natürlich auch die Aufgabe, die ich mir stelle, aber das läßt sich ja ohnehin nicht voneinander trennen. Das gehört dazu, so beschreibe ich mein Herangehen vom Grundsatz her.

SB: Brecht hat die Debatte um den Realismusbegriff aufgegriffen und in der Weise weiterentwickelt, daß es sich bei der Auseinandersetzung mit Wirklichkeit nicht um eine bloße Abbildung handeln kann, die ja höchst unterschiedlich ausfallen könnte. Würdest du diese Auffassung teilen?

KD: Ja, denn es gibt keine einfache Abbildung der Wirklichkeit. Das ist gar nicht möglich, weil man immer irgendeinen Filter, einen Blickwinkel vorhält, und es insofern die verschiedensten Möglichkeiten gibt, die herrschenden Verhältnisse zu sehen. Ich verstehe den Brechtschen Ansatz so, daß es sich beim Realismus um eine ästhetische Methode und nicht ein stilistisches Herangehen handelt. Es gibt viele Möglichkeiten, dem gerecht zu werden, sei es in naturalistischer oder auch in völlig verfremdeter Form, was ja auch eine Methode Brechts im Theater war, die möglicherweise durch eine Brechung die reale Welt klarer erkennbar macht. Was reine Widerspiegelung genannt wird, ist auch eine Form, aber weiß Gott nicht die einzige und manchmal sogar die untauglichste. Das ist immer situations- und themenabhängig.

SB: Lieder transportieren und erwecken Gefühle, dazu sind sie gedacht und gemacht. Brauchen wir diesen besonderen Treibstoff in einer Zeit wie heute noch genauso wie in den Generationen zuvor?

KD: Ich denke, ja, wenn nicht sogar noch mehr, weil in der herrschenden Kultur unheimlich viel mit den sogenannten wahren Gefühlen, Big Emotions und Sehnsüchten gearbeitet wird, so daß Kunst und künstlerische Produktionen, sei es jetzt Theater, Film, Lieder oder was auch immer, da auch andocken müssen, um überhaupt Gehör zu finden. Ich finde das prinzipiell auch richtig, weil der spezielle Blick und das spezielle Herangehen von Kunst ja traditionell nicht ein rein rationales, empirisches, auf Experimenten und exakter Wissenschaft und Darstellung beruhendes, sondern eben ein persönliches, individuelles und von daher immer auch an den sentimentalen, gefühligen Innenraum appellierendes Ansprechen der Hörer ist. Dieses Grundaxiom ästhetischen Herangehens zeichnet Kunst aus und macht sie zu etwas Besonderem.


Kai Degenhardt vornübergebeugt im intensiven Gespräch - Foto: © 2016 by Schattenblick

Zwischen ästhetischem Realismus und dem Treibstoff großer Gefühle
Foto: © 2016 by Schattenblick

SB: Als August der Schäfer die "Wölfe mitten im Mai" hörte, saßen zahlreiche frühere NS-Parteigenossen in Ämtern und Institutionen, war die Rechte in den Parlamenten wieder auf dem Vormarsch. Gibt es zeitlose Gemeinsamkeiten zwischen damals und heute?

KD: Dieses Lied ist um 1965 entstanden, als die NPD bei der Bundestagswahl zwei Prozent bekam. 1967 war sie bereits in sieben westdeutschen Landtagen mit Abgeordneten vertreten. Das ist schon eine gewisse Parallele zu heute. Damals standen in den bürgerlichen Parteien mit Globke, Filbinger, Kiesinger und anderen noch richtige Originalfaschisten an vorderster Front, heute übernimmt eine CSU-Seehofer-Variante dieses Geschäft, rechte Parteien insofern entbehrlich zu machen, als deren Positionen in den Parteien der bürgerlichen Mitte präsent sind. Damals war natürlich auch die zeitliche Nähe zum realen historischen deutschen Faschismus noch so eng, daß Nazis im Parlament mit dem jungen Wiederaufbau Deutschlands und dessen Exportbemühungen unvereinbar waren. Daher war es Common Sense der Bürgerlichen, daß die da wieder raus mußten. Das ist heute nicht mehr so. Heute würden sie sich ja auch niemals als Nazis beschreiben, was sie meines Erachtens um so gefährlicher macht.

SB: Das heißt im Umkehrschluß, daß die Klassifizierung als Nazi nur einen Teil der Problematik erfaßt und die entscheidende Diskussion und eine differenzierte Auseinandersetzung außen vor läßt. Wie ließe sich diese um so größere Gefahr, vor der du warnst, thematisieren?

KD: Man könnte den Begriff "Faschismus" definieren und sich darüber streiten, wer was unter autoritärer Herrschaft, faschistoid oder faschistisch versteht, da gibt es bekanntlich recht unterschiedliche Auffassungen. Im Lied "Wölfe mitten im Mai", das ist ja eine Metapher, wird in den zwei Zeilen "Wer gab den Wölfen die Kreide, das Mehl, stäubte die Pfoten weiß?" der Zusammenhang gut eingefangen. Man benutzt nicht das Wort Faschismus oder Nazi, sondern nimmt eine archaische Märchenfigur wie den Wolf - und wenn's gut gemacht ist, trifft man damit auf assoziative Art den Wesenskern, und mein Vater hat das in diesem Lied ganz gut getroffen, finde ich.

SB: Man hat den Begriff des Faschismus in der frühen Bundesrepublik auf ein Phänomen der Zeit zwischen 1933 und 1945 reduziert und damit die noch immer virulenten Tendenzen mit Scheuklappen ausgeblendet. Hat nicht dieses Label "Faschismus" insofern eine fatale Funktion?

KD: Es kommt darauf an, ob man eine Einigung darüber erzielt, wie der Begriff anzuwenden ist. Man kann beispielsweise den Putsch in Chile als faschistische Machtergreifung beschreiben oder ihn anders einstufen. Mit dem deutschen Faschismus assoziiert man insbesondere den mörderischen Antisemitismus. Die alte marxistische These Dimitroffs, die noch vor Auschwitz geprägt wurde, begreift den Faschismus umfassender. Das ist eine sehr diffizile Frage, über die Linke wie Rechte diskutieren und sich streiten. Das ist zweifellos interessant und wichtig, aber an dieser Stelle meines Erachtens nicht entscheidend.

SB: Im Zusammenhang der Mordserie des NSU kam auch zur Sprache, daß seit dem Ende der DDR in Deutschland mindestens 170 Menschen aus rassistischen Gründen umgebracht worden waren. Wie war es deines Erachtens möglich, daß rechte Kreise in diesem Ausmaß wüten konnten, ohne daß dies als ein Kontext politisch motivierter Täterschaft erfaßt wurde?

KD: Ich habe mich nicht so intensiv mit der NSU-Mordserie befaßt und bin kein Experte, was das betrifft. Ich fand das Buch von Wolfgang Schorlau zu diesem Thema sehr erhellend, das aber nicht den Anspruch erhebt, den gesamten Komplex umfassend darzustellen. Eine fundierte Antwort auf die Frage, wie das alles kommen konnte, kann ich nicht geben. Nach allem, was ich davon weiß, teile ich jedoch die Auffassung, daß diese Entwicklung offensichtlich so gewollt war und auch unter der schützenden Hand des Staatsschutzes vor sich ging.

SB: Rechtes Gedankengut hat nicht erst seit der Sarrazin-Debatte in die Mitte der Gesellschaft Einzug gehalten. Das rechte Spektrum ist heute so breit und diffus, daß eine klare Abgrenzung bisweilen unmöglich erscheint. Wie würdest du "rechts" definieren und welche Kriterien der noch möglichen bzw. unmöglichen Bündnisfähigkeit (Stichwort Querfront) hältst du in besonders wichtigen gesellschaftlichen Fragen für geboten?

KD: Was die Friedenswintergeschichten und all die Fragen beispielsweise hinsichtlich der Elsässer-Leute angeht, ist meine Haltung: Nein, das sollte man nicht machen. Für Marxisten ist die Bündnisfrage ja im Grunde eine taktische. Es stellt sich die Frage, wozu das Bündnis dient. Bündnis ist nicht gleich Bündnis. Das alte, große Friedens- und Gegen-Rechts-Bündnis, bestehend aus bürgerlichen Kriegsgegnern und Antifaschisten, gewerkschaftlicher Arbeiterbewegung und studentischer Linken, ist ja längst entzwei. Wir sind im Moment ganz wenige, und die Rechten sind mehr. Schon aus diesem Grund halte ich ein Bündnis mit etwaigen rechten Kräften, um möglichst viele Leute etwa gegen den Krieg in der Ukraine auf die Straße zu bringen, aus linker Sicht für sehr gefährlich. Zu Zeiten des Bonner Hofgartens mit 500.000 Menschen im Jahr 1981 gegen den Nachrüstungsbeschluss hat keinen interessiert, ob da ein paar Rechte mitgelaufen sind, weil das eh nur wenige waren. Heute ist das ja beinahe umgekehrt, wenn auch in viel kleineren Dimensionen. Es ist keine moralische Frage, ob man mit Rechten zusammen auf die Straße gehen kann. Es ist vom Grundsatz her eher eine taktische Frage. Wozu soll so ein Aktionsbündnis da sein? Und was bringt es auf kurze und auf lange Sicht für linke Politik? Können wir möglicherweise Leute von denen zu uns rüberholen? Und da ist meine Einschätzung, man sollte da im Moment mal besser die Finger von lassen.

SB: Die Extremismusdebatte hat die Unterscheidung von links und rechts gezielt ausgehebelt und die beiden Enden des politischen Spektrums ideologisch gleichgesetzt. Daraus resultiert nicht zuletzt ein Streit unter Musikerinnen und Musikern wie auch deren Publikum, wo linke Lieder enden und die Querfront beginnt. Die Morgenpost brachte vor einiger Zeit eine Liste der besten Lieder gegen rechts: Die Hamburger Punkband Slime, Wolfgang Niedecken, Herbert Grönemeyer, Die goldenen Zitronen, Marcus Wiebusch, Brothers Keepers mit Sammy Deluxe und Xavier Naidoo, Rio Reiser, Tocotronic, Antilopen Gang und Die Ärzte.

Was sind deine Favoriten bei Liedern gegen rechts?

KD: Das mit dem Extremismus ist ja eher eine bürgerliche Kategorie, mein Kategoriensystem ist ein anderes. Da können von den Zitronen bis zur Antilopen Gang oder von Niedecken bis Wiebusch alle gegen Nazis und für Refugees Welcome sein, das ist gut und richtig, dagegen bin ich nicht, und ich sehe da auch keine Querfront-Problematik oder so was. Aber ich selbst habe einen Klassenstandpunkt, und weil ich mich als Marxist und Kommunist bezeichne, ist mein Herangehen gegen rechte und faschistoide Tendenzen oder den rechten Aufmarsch eines von einem Klassenstandpunkt aus. Wie es im Horkheimer-Zitat heißt: "Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen!" Das ist es, was mich vor allem interessiert. Das Rechts-Sein ist ein Problem der bürgerlichen Gesellschaft. Insofern ist diese aus der Totalitarismustheorie stammende Gleichsetzung von "rechtsextrem" und "linksextrem" aus meiner Sicht falsch. Was nun die Musikszene betrifft, kenne ich derzeit nicht viel bis gar nichts, was heute im populären Bereich der Musik diesen Klassenstandpunkt abdeckt. Ich kenne zumindest niemanden außer mich selbst und ganz wenige andere, aber wir sind weit entfernt davon, im populären Bereich zu schwimmen, sondern kleine Fische unterm Radar.

SB: In der Debatte um rechte Aufmärsche geht es allzu häufig nur um gegenseitige Beleidigungen und Diffamierungen von beiden Seiten. "Man muss auch einfach nur sagen, daß man gegen Nazis ist und dann kann man jede Scheiße von sich geben, oder sagen, xy ist Antisemit (ohne irgendeinen Beweis) und ihn beleidigen, wie man grad Lust hat" heißt es in einem Kommentar zu einem Musikvideo auf YouTube. Verschließen uns die unentwegten Dauerzuweisungen rechts oder links, Querfront oder noch fortschrittlich nicht gerade konsequente und möglicherweise auch radikaldemokratische Diskurse?

KD: Ja, das finde ich auch. Eine richtige und treffende Herangehensweise wäre ja, wieder von den zugrundeliegenden Klasseninteressen auszugehen: Wem gehört was? Wer beherrscht wen? Aus welchem Grund wird das gemacht? Hingegen sind diese Totschlagvorwürfe - hier Nazi, da Antisemit - Ausgeburten eines bürgerlichen und letztlich moralischen Herangehens. Insofern gebe ich dir völlig recht. Das verhindert eine sachgemäße Auseinandersetzung. Wir sind weit entfernt von einem angemessenen Diskurs, der aber am ehesten mit marxistischen Kategorien anfinge, an die Welt und die Verhältnisse heranzugehen. Ich bin mir darüber im klaren, daß das nicht auf der Tagesordnung steht, aber das ist nach wie vor meine Überzeugung.


Kai Degenhardt stützt nachdenklich den Kopf auf die Hand - Foto: © 2016 by Schattenblick

Wem gehört was? Wer beherrscht wen?
Foto: © 2016 by Schattenblick

SB: Das Problem ist ja auch, daß sich die Mainstream-Medien allzu oft mit diesen sehr oberflächlichen Zuweisungen begnügen und die Analyse nicht weitertreiben.

KD: Ja. Allein schon, wenn man Begrifflichkeiten wie "Klassenkampf" oder "bürgerliche Gesellschaft" benutzt, verdreht im Mainstream jeder die Augen und sagt, das ist doch vorbei, das ist doch irgendwie DDR, hör doch auf! So kommt das doch rüber in der öffentlichen Wahrnehmung. Unabhängig von diesen Begriffen oder von Nazi oder Nicht-Nazi, wenn man das nur als Flüchtlingsproblematik und nicht als ein Klassenproblem begreift, daß es in Folge der Krise weltweit 30 Millionen Arbeitslose und neue imperialistische Kriege als Fluchtursache gibt, ist das völlig absurd. Es wird der Problematik nicht nur nicht gerecht, sondern ist vollkommen hanebüchen, der zugrundeliegenden Ursachen nicht gewahr zu werden. Wenn dann bürgerliche Parteien davon sprechen, man müsse die Fluchtursachen bekämpfen, indem wir die Schlepperboote kaputtmachen - ich weiß nicht, wie idiotisch man sein muß, um das zu glauben oder für eine Lösung zu halten.

SB: Viele Leute argumentieren, sie hätten nichts gegen einige Flüchtlinge, doch müsse man dem Zustrom Einhalt gebieten, wenn es zu viele würden. Es gab das Beispiel des niedersächsischen Ortes Sumte, der mit 1.000 geplanten Flüchtlingen auf 102 Einwohner im letzten Herbst Schlagzeilen machte. Hat Politik nicht an dieser Stelle Unmögliches inszeniert?

KD: Ja selbstverständlich. Ich denke, es war natürlich gut, daß man Flüchtlinge ins Land gelassen hat, was aber ja nach einer kurzen Frist schon wieder eingestellt wurde. Daß dabei realpolitisch geflutet wurde und einige Gemeinden völlig überfordert waren und kein Geld zur Verfügung hatten, halte ich für katastrophal. Dabei wäre eine Finanzierung durchaus denkbar gewesen, da es angesichts von schwarzer Null, Niedrigzinsen und so weiter an Geld grundsätzlich nicht fehlt. Bei entsprechendem politischen Willen wäre das machbar gewesen.

Die reichste Ökonomie der Welt, die milliardenschwere Rüstungsexporte tätigt und sich für sämtliche Olympiaden bewirbt, hätte natürlich auch für eine Million Flüchtlinge Wohnungen bauen können. Das geht, davon bin ich überzeugt. Nur ist das eben nicht der politische Wille der hier Herrschenden.

SB: Rechte Gesinnung und Politik wird wieder mehrheitsfähig, war es allerdings im Grunde schon immer; sie wurde nur unter dem Deckel gehalten. Warum können sich deiner Auffassung nach die Rechtspopulisten und die Rechtsextremen zumeist lauter und erfolgreicher mit ihrem Anspruch auf Volkes Stimme ins Spiel bringen? Fehlen den Linken die Argumente gegen rechte Versprechen und simple Lösungen?

KD: Grundsätzlich nicht, aber man darf ja nicht vergessen, daß es inzwischen über 30 Jahre her ist, seit die Linke in den siebziger Jahren, vielleicht sogar bis in die Achtziger hinein noch Ansätze von so etwas wie einer kulturellen Gegenhegemonie aufbrachte. In der Zeit nach der Niederlage der sozialistischen Länder sind linke Diskurse fast komplett abgeräumt worden und inzwischen vollkommen marginalisiert. Dann kam nach der Wende noch die zweite Welle, als sich die Sozialdemokratie beinahe vollständig in das neoliberale Projekt der Bürgerlichen eingeschrieben hat, allen voran Schröder und Blair. Zusammen mit den Grünen haben sie das vorangetrieben und ja auch die ersten kriegerischen Auslandseinsätze der Bundeswehr durchgesetzt. Da ist unheimlich viel erodiert.

Im Verlauf der Krise fiel die Zustimmung immer breiter aus, unter dem Stichwort "Neue Verantwortung" imperialistische Politik zu betreiben, woran sich weite Teile der früheren Linken, der SPD und leider auch der Gewerkschaftslinken beteiligt haben, die schön zu Hause geblieben sind und nichts gemacht haben, während in anderen Teilen Europas Generalstreiks organisiert wurden. Als es beispielsweise in Griechenland darum ging, eine mögliche linke Politik durchzusetzen, wurde das lediglich mit ein paar Lippenbekenntnissen begleitet. Wenn sich in einer der reichsten Ökonomien der Welt die meisten Leute von ihrer Klasse an anderen Standorten entsolidarisieren, öffnet das natürlich den Rechten Tür und Tor für ihre Argumentation. Mit dieser Standortpolitik bist du mit einem kollektiven Wir dann schon wieder Teil der Nation. Das haben große Teile der Gewerkschaftslinken und der sozialdemokratischen Linken mitvollzogen.

SB: Würdest du den Linken eine Mitverantwortung an dieser Entwicklung zuweisen? Nach dem Niedergang des Sozialismus hätte man sich ja von bestimmten Betonköpfigkeiten befreien und eine andere linke Richtung einschlagen können.

KD: In vielen Teilen der Restlinken wurde zusammen mit dem, was du Betonköpfigkeit genannt hast, das ganze Kategoriensystem mit abgeräumt und nicht nur das Erstarrte, was ja dann auch mit dem staatstragend gewordenen marxistischen Wissenschafts- und Kulturbetrieb zu tun hatte. Das marxistische Koordinatensystem wurde in der öffentlichen Wahrnehmung komplett entsorgt und in den meisten Teilen der Linken durch die postmoderne Herangehensweise einer vielstimmigen Bewegungslinken, Political Correctness, Randgruppenpolitik, usw. ersetzt, was für sich genommen ja nicht falsch ist, aber die früheren Auffassungen komplett ersetzt hat.

SB: Könnte eine linke Kultur und Liedkunst dem Fehlen eines neuen linken Diskurses, der die Menschen erreicht, abhelfen?

KD: Sie kann daran mitwirken. Kunst löst für sich genommen nichts Gesellschaftsveränderndes aus, das machen Menschen durch ihr Handeln - das ist zumindest meine Überzeugung. Kunst kann das begleiten, manchmal auch verstärken, vielleicht auch mal etwas initiieren, aber sie ist immer nur ein Teil davon. Grundsätzlich müssen Menschen, die sich ihrer Situation bewußt sind, handeln, und dann gibt es auch Verschiebungen der Machtverhältnisse. Dazu gehören Lieder und sie spielen eine Rolle, aber ich habe mir da noch nie etwas vorgemacht, daß durch Lieder, Bilder, Theaterstücke oder Kinofilme die Herrschaftsverhältnisse in Bewegung kommen.

SB: Nach dem Motto "klein, aber links" - wen erwartest du heute abend in deinem Publikum?

KD: Oh, wenn ich das wüßte, müßte ich mir keine Sorgen mehr machen. Wir haben ja heute die TTIP-Demo in Hamburg, und ich hoffe, daß die alle kommen - aber das werden sie wohl nicht, ist so mein Verdacht. (lacht)

SB: Kai, vielen Dank für dieses ausführliche Gespräch.


Fußnoten:

[1] http://www.kominform.at/article.php/20111202200530539/print

[2] Siehe dazu im Schattenblick:
BERICHT/032: Bis in die Gegenwart - Ein altneuer Kampf (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/murb0032.html

25. September 2016


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