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NACHLESE/007: Holger Czukay und Can - ein Rückblick (SB)



Eine Improvisation vollzieht sich immer an einem roten Faden. Bei der Instant Composition, so wie wir das gemacht haben, war das mehr eine Strategie, die wir angelegt haben, ähnlich wie bei einem Fußballteam. Niemand weiß, wohin der Ball wirklich fällt, aber man hat eine Strategie, um den Ball ins gegnerische Tor zu befördern. Man liest die Gedanken des anderen und versteht etwas davon, daß man die harmonischen Gesetze einhält und, ehrlich gesagt, einfach auf den anderen reagiert und ihm Raum läßt, etwas zu sagen, und gleichzeitig aber auch viel zu hören. Eigentlich ist die Hauptarbeit, live aufzutreten, hören, nicht spielen.
Holger Czukay 1999 [1]

Nach Michel Karoli (17. November 2001) und Jaki Liebezeit (22. Januar 2017) ist am 5. September 2017 mit Holger Czukay das dritte der vier Gründungsmitglieder der Band Can verstorben. Zusammen mit Irmin Schmidt, dem ersten Sänger Malcolm Mooney und seinem Nachfolger Damo Suzuki bildeten sie ein Quintett, das bis heute unter avantgardistischen Musikerinnen und Musikern einen legendären Ruf genießt. Can war seiner Zeit weit voraus, wie sich anhand filmischer Zeugnisse der frühen 1970er Jahre wie dem unlängst wieder ausgestrahlten Endzeitwestern "Deadlock" des Regisseurs Roland Klick nachempfinden läßt. Die flirrende Hitze der mexikanischen Wüste, in deren Lebensfeindlichkeit verlorene Existenzen einander die letzten Reste an Überlebensmöglichkeit abjagen, war das natürliche Ambiente einer Musik, die die Undergroundszene der BRD maßgeblich prägte.

Der hypnotische Sound der Gruppe, der sich in stundenlangen Improvisationen organisch entwickelte und keine Form- und Strukturgrenzen akzeptierte, konnte einen Konzertsaal kollektiv in Trance versetzen. Dazu bedurfte es keiner weiteren Voraussetzungen als derjenigen, sich frei zu fühlen, den eigenen Körper mit denen der Musiker zu verbinden. Can war schon damals ein unterbewertetes musikalisches Phänomen, das typischerweise in der angloamerikanischen Welt mehr Anerkennung fand als im eigenen Land. Das lag nicht zuletzt daran, daß die Band sich aller kategorischen Einordnung in die sich gerade entfaltende Popkultur widersetzte.

Aufbruch aus den Trümmern etablierter Hochkultur

Ende 1968 machten sich Irmin Schmidt und Holger Czukay auf, in der damaligen Atmosphäre des Bruchs mit etablierten Traditionen etwas ganz anderes zu machen, als die Zwänge der Konvention und Tradition vorgaben. Der am 29. Mai 1937 in Berlin geborene Irmin Schmidt hatte am Dortmunder Konservatorium Waldhorn und Klavier gelernt und an der Folkwangschule in Essen eine Ausbildung in Komposition, Musiktheorie sowie als Pianist und Orchesterdirigent erhalten. Er setzte sein Studium in Köln beim Doyen der Neuen Musik, Karlheinz Stockhausen, fort, leitete an einem Opernhaus Kammer- und Symphonieorchester und erhielt den Deutschen Rundfunkpreis als bester Nachwuchsdirigent. Schmidt war der versierteste Musiker der Gruppe, deren Konzept alles konventionell Erlernte angriff und sein immenses theoretisches Wissen so vor neue Herausforderungen stellte.

Der am 24. März 1934 in Danzig geborene Holger Czukay studierte ebenfalls bei Stockhausen in Köln. Nach drei Jahren wandte er sich jedoch von der spröden Materie der Neuen Musik ab und machte sich mit Schmidt, den er dort kennengelernt hatte, auf die Suche nach weiteren Musikern.

Der am 29. April 1948 in Straubing geborene Michael Karoli hatte Holger Czukay als Musiklehrer an einem Schweizer Internat kennengelernt. Czukay soll sich dort auf der Suche nach einer reichen Frau befunden haben, stieß jedoch auf den künftigen Gitarristen der Can, dessen Begeisterung für Rockmusik sich ideal mit seinem weiten musikalischen Horizont ergänzte. Karoli hatte schon als Kind Geige sowie mit 14 Jahren Gitarre gelernt und bereits vor Can in diversen Bands gespielt.

Der am 26. Mai 1938 in Dresden geborene Jaki Liebezeit war als versierter Live-Musiker bereits längere Zeit in der Jazz-Szene zugange, wo er unter anderem für den Trompeter Chet Baker getrommelt hatte. Er war mit 18 Jahren Schlagzeuger geworden und längere Zeit in Spanien in Jazzklubs unterwegs gewesen, bevor er sich in Deutschland dem Free Jazz Quintett von Manfred Schoof anschloß. "Böse Zungen behaupten, Jaki spiele wie eine Maschine. Ich kann sagen, das stimmt nicht - eine Maschine klingt menschlicher" [2], meinte Czukay einmal über seinen kongenialen Partner an den Drums.

Der 19. Juli 1968 gilt als offizielles Geburtsdatum der Gruppe, die sich den englischen Namen für "Dose" gab, weil die Musiker alle Einnahmen in einen gemeinsamen Topf warfen. Man mietete sich in Schloß Nörvenich bei Köln ein, richtete dort ein Studio ein und begann damit, den spezifischen Stil des gemeinsamen Musizierens zu entwickeln, der den innovativen Charakter ihrer Musik prägte. Im gleichen Jahr stieß der US-amerikanische Bildhauer Malcolm Mooney zur Gruppe und gab ihr durch seinen rhythmischen und ausdrucksstarken Gesangsstil einen starken Impuls in Richtung Rockmusik. Er harmonierte besonders mit Jaki Liebezeit, der ihn als einen Schlagzeuger bezeichnete, der mit der Stimme arbeitete.

Auf dem Cover ihres ersten, im August 1969 erschienenen Albums "Monster Movie" prangte ein Riesenroboter, der japanischen Mangas entsprungen zu sein schien und das Selbstverständnis der Gruppe als einer Gegenbewegung zu vorherrschenden Kulturströmungen repräsentierte. Der Bruch mit allen Konventionen war Programm, wie auch das Konzept zeigte, sehr eng miteinander zu arbeiten und bisweilen auch zusammen zu leben. Can verstand sich als Gemeinschaft gleichberechtigter Menschen, die das Interesse eint, zusammen eine Musik zu produzieren, die dieses Verständnis auch repräsentierte. Sie benötigten weder Komponisten noch Texter, und soweit solche strukturellen Element erforderlich waren, wurden sie in wechselnden Rollen übernommen.

Eine Folge gezielter Regelverstöße war, daß kaum ein Stück live so gespielt wurde, wie man es von der Platte her kannte. Die Musiker begannen mit ganz neuen Klängen, zwischenzeitlich tauchten bekannte Motive auf, dann wurde wieder in neue Gefilde vorgestoßen. So verhielt sich Can auf der Bühne kaum anders als im Studio. Manchmal bestand ein Konzert von anderthalb bis zwei Stunden aus einem einzigen Stück. Das avancierte Rockpublikum war lange Improvisationen einzelner Instrumentalisten gewohnt, doch diese Musik war ein Kollektivereignis, das keine Stars im Vordergrund der Bühne benötigte, um auf eindrückliche Weise zu begeistern.

Beiträge zum Popkanon des westdeutschen Underground

Ein die Atmosphäre der späten Sechziger im westdeutschen Underground exemplarisch wiedergebendes Beispiel für Instant Composition war das über 20 Minuten lange "You Doo Right". Es entstand im Rahmen einer zwölfstündigen Improvisation. Der Text, von Malcolm Mooney im rhythmischem Stakkato eines Sprechblues vorgetragen, stammte aus einem Brief seiner Freundin in den USA. Mooney hatte so große psychische Probleme, daß er bereits nach diesem Album nach New York zurückkehrte. Im Mai 1970 lernten Czukay und Liebezeit, nachdem sie bereits diverse Sänger verworfen hatten, in München einen japanischen Straßensänger kennen, der sich dort gerade Geld für seine Heimreise verdiente. Kenji Damo Suzuki, der seit vier Jahren durch die Welt reiste und Gitarre, Saxophon und Klarinette spielte, erwies sich als idealer Nachfolger Mooneys, weil er nicht minder unorthodoxe Sprach- und Gesangfetzen produzierte.

Das zweite Album Cans, das im Herbst 1970 erschien, bestand seinem Titel "Soundtracks" gemäß ausschließlich aus musikalischen Beiträgen zu Kinofilmen. Einige Regisseure waren von der imaginativen Wirkung der Musik so begeistert, daß sie Can Kompositionsaufträge erteilten. Es waren allesamt ins Experimentelle und Unkonventionelle vorstoßende Produktionen, wie sie in dieser auch andere Bereiche der Kunst umwälzenden Epoche gefragt waren.

Mit dem 1971 erschienen Doppelalbum "Tago Mago" erklommen Can den künstlerischen Gipfel ihrer einerseits mit schweren Rhythmen durch Mark und Bein gehenden, andererseits mit entlegenen Klangexperimenten hohe Anforderungen an die Zuhörer stellenden Musik. Im Dezember 1971 landeten Can ihren einzigen kommerziellen Volltreffer, den Hit "Spoon". Als Titelmelodie des Durbridge-Krimis "Das Messer" ging er mehr als 200.000mal über die Ladentheke. Das eingängige und überschaubar konstruierte Stück änderte nichts an der Live-Qualität der Gruppe, die ihr Publikum regelmäßig in einen Flow versetzte, wie ihn HipHop in seinen besten Momenten erzeugt. Cans vertrackte Baß- und Schlagzeug-Muster bezogen ihre hypnotische Qualität gerade daraus, daß sie mit vertrauten Hörgewohnheiten brachen, während sie die physische Motorik sehr direkt ansprachen.

Auf ihrem vierten Album "Ege Bamyasi" unternahm die Gruppe den Versuch, ihre Musik einem größeren Publikum zugänglich zu machen. Sie verzichtete weitgehend auf schwerverdauliche Experimente und verdichtete die Instant Composition zu eingängigeren Titeln. Dieser Schritt bescherte Can 1972 zwar in allen relevanten internationalen Pop-Polls Spitzenplätze, doch das eher flache und substanzlose Album "Future Days" zeigte 1973, welchen Preis die Gruppe für diese Annäherung an den Mainstream zu entrichten hatte. 1973 verließ Sänger Damo Suzuki die Band, und Can machte ohne ihn weiter. Im Herbst 1974 erschien das Album "Soon Over Babaluma", 1975 folgte "Landed", und 1976 überraschte Can das Publikum mit "Flow Motion". Hier herrschten Walzer-, Tango- und Reggaerhythmen vor, und die selbstironische Attitüde war meilenweit entfernt von der aufregenden Intensität der Anfänge.

Auch die Verstärkung der Band durch zwei Mitglieder der englischen Formation Traffic, den Bassisten Rosko Gee und den Perkussionisten Reebop Kwaaku Bah, konnte den Niedergang nicht aufhalten. Die aus der Pop- und Rock-Szene der Bundesrepublik herausragende Band war am Ende und konnte auch durch spätere Neuanfänge nicht wiederbelebt werden. Die einzelnen Mitglieder der Band machten in anderen Projekten oder mit Soloarbeiten weiter. Ihre Namen prangen auf zahlreichen Eigen- und Koproduktionen insbesondere auch cineastischer Art.

Can hatte es im Unterschied zu Kraftwerk niemals nötig gehabt, mit Nationalklischees wie dem der Autobahn zu kokettieren. Holger Czukay verortete die Düsseldorfer Elektronikband, mit der Can oft verglichen wird, im Fach Design, in das Can seiner Aussage nach nie hineinpaßte, weil die Band dafür nicht stromlinienförmig genug gewesen sei. Nicht nur in seinen Ohren hatte Can mit Rhythmen, wie sie Liebezeit und er erzeugten, Neuland erschlossen. Ihrerseits innovative Bands wie Talking Heads und Sonic Youth oder Musiker wie David Bowie und Brian Eno entdeckten es später unter explizitem Verweis auf Can für sich.


Fußnoten:

[1] Transkript aus "Can By Numbers", ausgestrahlt auf NDR im Februar 1999

[2] a.a.O

7. September 2017


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