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NACHLESE/036: 50 Jahre später ... Pink Floyd - Music From the Film More (SB)


In a churchyard by a river
Lazing in the haze of midday
Laughing in the grasses and the graves

Pink Floyd - Cirrus Minor


Vogelzwitschern, aus der Ferne der Ruf eines Kuckucks, langsam steigen Gitarrentöne auf, eine Orgel fällt ein, ihr fragiles Tremolo und eine ungewöhnliche Tonfolge überstrahlen die mittägliche Hitze eines Friedhofes in der Nähe einer alten Kirche mit einer unwirklichen Aura. Mit allen Sinnen der idyllischen Szenerie gewärtig und ihr zugleich entrückt auf der Reise nach Cirrus Minor, vorbei an der Sonne, wo mit einem kurzen Blick das Bild eines Kraters im Feuersturm erhascht wird - die Synchronizität einer vielen Menschen vertrauten, sich unverzögert mitteilenden Präsenz und der Öffnung unauslotbarer, hinter der Beschleunigung imaginärer Entfaltung kollabierender Räume war ein häufiges Motiv der unter "psychedelischer Rock" firmierenden Klangkunst.

Das Eröffnungsstück dieses im Juni 1969 veröffentlichten Pink Floyd-Albums ist auf exemplarische Weise von der Empathie des Keyboarders Richard Wrights geprägt, der so viel für die halluzinogene Qualität vieler früher Stücke der englischen Avantgarde-Band getan hat. Der Soundtrack für den Film More des Schweizer Filmemachers Barbet Schroeder, der damit sein erfolgreiches Debüt als Regisseur vorlegte, war kein reguläres Album der 1969 schon über das Vereinigte Königreich hinaus bekannten Band. Die Gruppe um Bassist Roger Waters, Gitarrist David Gilmour, Drummer Nick Mason und den 2008 verstorbenen Richard Wright, die bei dieser nur acht Tage währenden Einspielung erstmals ohne den aufgrund seines LSD-Konsums zu unzuverlässig gewordenen Syd Barrett auskam, nutzte den Auftrag, den Soundtrack für einen Kinofilm abzuliefern, dafür, ihre ohnehin von experimentellen Elementen geprägte Musik mit bis dahin in ihrem Werk nicht anzutreffenden Einflüssen zu bereichern.

Das gab die in dem Film More erzählte Geschichte eines Liebespaares, das in Paris und auf Ibiza die damals angesagten Drogen ausprobierte und auf Heroin hängenblieb, allemal her. Die Höhen und Tiefen ihres Abenteuers, seine zusehends tragische Entwicklung und das tödliche Finale, euphorische Momente und existenzielle Ängste, eingebettet in die Aussteigerwelt der damals von Hippies bevölkerten Insel Ibiza, gingen mit der Musik von Pink Floyd eine geglückte Kombination von einfühlsamer Vorstellungs- und expressiver Ausdruckskraft ein. Die Mittelmeerinsel, heute inmitten des Massengrabes EU-europäischer Flüchtlingsabwehr gelegen, war noch in die scheinbare Unschuld landschaftlicher Schönheit und lichterfüllter Klarheit getaucht. Es war dem spezifischen Einfluß geschuldet, den die europäische Südküste von den griechischen Inseln über die Cote d'Azur bis zu den Inseln vor der östlichen Küste Spaniens auf mehrere Musiker der Band hatte, daß Pink Floyd in den Cafes und Clubs der Region in den 1970er Jahren zu den meistgespieltesten Bands gehörte.

Selten hatte man die damals noch mit zum Teil schwer verdaulichen Klangeskapaden aufwartende Band in einer so folkigen und lyrischen Stimmung gehört. Zwar befanden sich mit The Nile Song und Ibiza Bar zwei der rockigsten Stücke, die Pink Floyd jemals aufgenommen hatte, auf dem Album. Der Grundton aber war ein nachdenklich bis melancholisch die Unwägbarkeiten eines hedonistischen Lebens reflektierender Sound, der den Nerv vieler Menschen traf, die mit der Sicherheit bürgerlicher Lebensgarantien gebrochen hatten und sich auf diese oder jene Weise auf der Reise befanden.

Nur wenige der auf More vertretenen Stücke, so etwa Cymbaline, wurden von Pink Floyd auf der Bühne zur Aufführung gebracht. Als ob die Band sich eine irreguläre Pause von der musikindustriellen Anforderung, nach den überaus erfolgreichen Alben The Piper at the Gates of Dawn und A Saucerful of Secrets ein weiteres, von spektakulären Ideen und gewagten Innovationen überquellendes Werk vorzulegen, gegönnt hätte, verströmt More den Charme eines Ausfluges in die Hitze des mediterraneen Tages zwischen schroffen Felsen und weitem Meer, die einsame Landschaft lediglich belebt von Olivenbäumen und Windmühlen, zwischen denen zwei verlorene Kinder der Nachkriegsgeneration etwas suchen, was in der übersteigerten Erlebnisform biochemisch induzierter Erfahrungswelten so schnell abbrennt, daß es zur Erfüllung des Versprechens auf Wirklichkeit niemals reicht. More ist ein akustisches Zeitzeugnis besonderer Art, voll von Reminiszenzen an eine Zeit, in der Ibiza noch kein Ziel massentouristischer All Inclusive-Akkomodationen war, in dessen Bars und Clubs weltweit angesagte DJs vergeblich nach der Immanenz eines Traumes greifen, der, unter mehreren Epochenbrüchen verschütt gegangen, sich jeglicher Wiederholung entzieht.

19. Juni 2019


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