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NACHLESE/039: 50 Jahre später ... The Who - Tommy (SB)


We're not going to take it
Going to break it
Going to shake it
Let's forget it better still

The Who - We're Not Gonna Take It


Nichts könnte irreführender sein als die Kategorie "Rockoper", mit der das im Mai 1969 veröffentlichte Doppelalbum Tommy der britischen Rockband The Who beworben wurde. Zwar handelte es sich um ein Konzeptalbum mit der lose verknüpften Rahmenhandlung um einen Jungen, der sich, durch familiäre Gewalt traumatisiert, in sich selbst zurückzieht. Stumm, blind und taub geworden, ist er nur noch über seinen Tastsinn mit der Welt verbunden. Ganz auf seine Imagination zurückgeworfen, entwickelt er ein reichhaltiges geistiges Innenleben, hochsensibel für die auf ihn eindringenden Impulse wird er zu einem Meister am Flipperautomaten. Einmal von seinem mentalen Block befreit, schwingt er sich zu einem religiösen Führer auf, der aufgrund der seiner Gefolgschaft abverlangten Disziplin schlußendlich von dieser abgelehnt wird und sich wieder auf sein Innenleben besinnt.

Doch mit der klassischen Oper oder auch nur den zu dieser Zeit einsetzenden Experimenten zwischen Klassik und Rock hat Tommy nichts zu tun. Es handelt sich um ein solides, musikalisch vielfältiges Rockalbum, das 1969 nicht umsonst als künstlerischer Durchbruch der damals schon seit fünf Jahren existierenden Band gefeiert wurde. Sein Konzeptcharakter tritt vor allem dadurch hervor, daß der Refrain "See me, feel me, touch me, heal me" als wiederkehrender Chorus den zentralen Akzent des Werkes setzt. Die heilsame Wirkung der körperlichen Kontaktaufnahme kann geradezu als programmatisches Motiv des zeitgemäßen Wunsches verstanden werden, die Abgründe und Gräben zwischen Menschen zu überwinden und damit auch die zwischen ihnen herrschenden Kämpfe zu beenden. Tommy paßte ins Bild einer Zeit, die sich anschickte, sich nach dem politischen Aufbruch der 1960er Jahre und dem absehbaren Scheitern auch der zuletzt im bewaffneten Kampf gestellten Machtfrage subjektiven Entwürfen zuzuwenden, in denen persönliche Emanzipation und kollektive Organisation auf lebenspraktische Weise realisiert wurden.

Die neue Innerlichkeit war Fluchtbewegung und zweiter Aufbruch in einem, bot sie sich doch als sicherer Zufluchtsort einer revolutionären Jugendbewegung an, der es zusehends schwerer fiel, an ihren politischen Zielen unter der härter werdenden Repression in den westlichen Metropolengesellschaften festzuhalten. Die Perspektive vor Augen, langjährigen Knastaufenthalt oder gar Tod zu erleiden, fanden nicht wenige AktivistInnen die Vorstellung attraktiv, im Kleinen wirksam zu werden, ohne die politischen Positionen aufgeben zu müssen, für die man einmal angetreten war. Wie die Geschichte weiterging, ist den Annalen der radikalen, dann alternativen und schließlich grünen und parlamentarischen Linken zu entnehmen.

Die Konzeption des Albums Tommy ist vor allem Pete Townshend geschuldet. Als Gitarrist wurde er mit seinen spektakulären Auftritten, bei denen er das Instrument mit kreisendem Arm traktierte und zu guter Letzt auf der Bühne zerstörte, berühmt. Er gilt als einer der ersten Musiker, die das Feedback des Verstärkers mit dröhnenden Soundkaskaden ausreizten, und besetzt in den Ranglisten der besten Gitarristen der Rockgeschichte bis heute vordere Plätze. Townshend war zudem maßgeblich für die Texte und Kompositionen der Band zuständig, insbesondere Tommy entsprang fast ausschließlich seiner Feder. Die Hinwendung zum Erleben eines Menschen, der fast alle Sinne verloren hat und ganz auf sich selbst zurückgeworfen ist, hat ihren Hintergrund in dem spirituellen Meister Meher Baba, als dessen Schüler sich Townshend seit April 1968 verstand. Der Sohn einer im indischen Poona lebenden zoroastrischen Familie hatte sich 1925 zum Schweigen entschlossen und kommunizierte nur noch mit Handzeichen und einem Alphabetbrett. Dafür legte er seine Lehren in umfangreichen Schriftwerken nieder, die auch den britischen Rockmusiker überzeugten.

Im Januar 1969 verstarb Meher Baba, so daß Townshend die Gelegenheit versäumt hatte, seinem spirituellen Lehrer zu begegnen. Offensichtlich keinem bloßen Trend folgend wie diejenigen Musiker, die sich vorübergehend mit einem indischen Guru schmückten, bekennt sich der politisch linksstehende Townshend bis heute zu Meher Baba, dessen spirituelle Erkenntnis das inhaltliche Fundament für Tommy legte. Während das Album Sänger Roger Daltrey, Bassist John Entwistle und Schlagzeuger Keith Moon in neue musikalische Höhen katapultierte, war es doch das Spiel zwischen einsamer Individualität und der Begeisterung der Massen, das seine Relevanz als herausragendes Werk der Popgeschichte begründete. Bei aller Innerlichkeit waren das Moment der Kollektivität und die Frage, wie sich der andere überhaupt erreichen läßt, von zentraler Bedeutung, was in einer Zeit, in der viele nicht mehr wissen, warum sie überhaupt streitbar aufbegehren sollten, kaum noch nachzuvollziehen ist. Indem Tommy einer nach Erkenntnis und Emanzipation strebenden Subjektivität Ausdruck verlieh, hat das Album die letzte Ära vor dem Anbruch der neoliberalen Epoche Anfang der 1980er Jahre, als noch unbescheidenere Prioritäten als individueller Erfolg unter den Konkurrenzsubjekten der Marktgesellschaft gesetzt wurden, künstlerisch vorweggenommen.

In der ersten Hälfte der 1970er Jahre waren The Who, die zuvor mit Hits wie My Generation und Substitute der rebellischen Ungeduld insbesondere der proletarischen britischen Jugend Ausdruck verliehen hatten, auf dem Höhepunkt ihrer musikalischen und künstlerischen Kreativität angelangt. Nach dem Tod Keith Moons im September 1978 begann allmählich die Zeit des Nachruhms, in der The Who ihr Werk verwalteten und ihren erheblichen Einfluß auf die Popkultur konservierten. Sie gelten zu Recht als eine der größten Bands der Ära der 1960er und 1970er Jahre. Drummer Moon und Bassist Entwistle erfreuen sich bis heute eines erstklassigen Rufes als Meister ihres Instrumentes, und auch Sänger Daltrey gilt als Shouter mit erstaunlichem Volumen.

Die vier Musiker gehörten einer Generation an, die am Ende des Zweiten Weltkriegs geboren wurde und die britische Klassengesellschaft noch in ihrer kaum überwindbaren Zweiteilung zwischen Adel und Bourgeoisie auf der einen und dem kleinbürgerlichen und proletarischen Milieu auf der anderen Seite erlebt hatten. Viele ihrer Texte zeugen von der genauen Beobachtungsgabe, mit der sie die Temperatur der jeweiligen Klassenzugehörigkeit nahmen. Als Idole einer erstmalig kollektiv die Fesseln autoritärer Unterwerfung abschüttelnden Jugend waren sie ebenso legendär für die Wildheit ihrer Bühnenperformance und anschließenden Parties wie für die abgeklärte Coolness von Rebellen, die sich nichts mehr vorschreiben lassen wollten und es aufgrund ihres Erfolges auch nicht mehr mußten.

Insofern war Tommy weit mehr als ein gelungenes Konzeptalbum - es war Bestandteil einer ganzen Serie programmatischer Ansagen, mit denen The Who den popkulturellen Horizont bloßen Musikerdaseins überschritten und zu tonangebenden Herolden der damaligen Jugend wurden. Spätestens seit Ende des Grunge als einer der letzten spartenübergreifenden Rockkategorien in den 1990er Jahren verfügt die Popkultur nicht mehr über Bands, die überall gehört werden und damit die Möglichkeit haben, sich mit hegemonialer Wirkung zu positionieren. Schon aus diesem Grund lohnt es sich, den Wandlungen und Erregungen einer Epoche nachzuspüren, deren revolutionäre Energie die Agenturen herrschaftlicher Immunisierung bis heute beschäftigt hält.

29. September 2019


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