Schattenblick →INFOPOOL →NATURWISSENSCHAFTEN → ASTRONOMIE

GALAXIS/172: Die Essgewohnheiten jugendlicher Galaxien (idw)


Max-Planck-Institut für Astronomie, ESO Science Outreach Network - 14.03.2012

Die Essgewohnheiten jugendlicher Galaxien


Pressemitteilung der Europäischen Südsternwarte (Garching) - Mithilfe der größten Galaxiendurchmusterung ihrer Art haben Astronomen herausgefunden, dass Galaxien ihre "Essgewohnheiten" während ihrer Jugendzeit - dem Zeitraum von etwa 3 bis 5 Milliarden Jahren nach dem Urknall - merklich ändern. Bevorzugten die Galaxien zu Beginn dieser Phase noch kleine Mahlzeiten aus einem stetigen Zustrom aus Gas, so begannen sie kurz darauf, sich ihre eigenen, kleineren Artgenossen einzuverleiben. Das Very Large Telescope der ESO hat mit den Beobachtungen zu dieser Studie einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des Wachstums junger Galaxien geleistet.

Seit langem wissen die Astronomen, dass Galaxien im frühen Universum viel kleiner waren als die eindrucksvollen Spiralnebel und elliptischen Galaxien, die heute das Weltall bevölkern. Seit der Entstehung des Universums haben die Galaxien enorm an Gewicht zugelegt, aber woraus ihre Mahlzeiten bestanden haben und wie ihr Wachstum abgelaufen ist, ist nach wie vor ein Rätsel. Eine neue Studie sorgfältig ausgewählter Galaxien hat sich nun besonders den Jugendjahren dieser Himmelsobjekte gewidmet, entsprechend dem Zeitraum von etwa 3 bis 5 Milliarden Jahren nach dem Urknall.

Mit den hochmodernen Instrumenten am Very Large Telescope der ESO ist es einem international besetzten Astronomenteam gelungen herauszufinden, was damals tatsächlich passiert ist. Die Wissenschaftler haben in über 100 Stunden Beobachtungszeit die größte Sammlung von Detailbeobachtungen gasreicher Galaxien in diesem Entwicklungsstadium überhaupt zusammengetragen [1].

Junge Galaxien im frühen Universum - Bild: ESO/CFHT

Junge Galaxien im frühen Universum
Bild: ESO/CFHT

"Galaxien wachsen vermittels zweier miteinander konkurrierender Prozesse: erstens durch Verschmelzung, wobei größere Galaxien kleinere regelrecht auffressen, und zweitens durch einen allmählichen, stetigen Zustrom von Gas auf die Galaxien. Beide Prozesse können zur Bildung vieler neuer Sterne führen", erklärt Thierry Contini vom IRAP in Toulouse (Frankreich), der Leiter des Teams.

Die neuen Ergebnisse legen nahe, dass sich die Art und Weise, wie Galaxien wachsen, zwischen 3 und 5 Milliarden Jahren nach dem Urknall fundamental gewandelt hat. Im sehr frühen Universum scheint der stetige Zustrom von Gas (eso1040) sehr wichtig für die Bildung der Galaxien gewesen zu sein, während später die Verschmelzungen mehr und mehr an Bedeutung gewannen.

"Um zu verstehen, wie die Galaxien gewachsen sind und sich weiterentwickelt haben, müssen wir sie so genau wie möglich untersuchen. Das SINFONI-Instrument am Very Large Telescope der ESO ist weltweit eines der leistungsfähigsten Geräte zur Untersuchung junger und weit entfernter Galaxien. Für uns spielt es die gleiche Rolle wie für eine Biologin ihr Mikroskop", ergänzt Contini.

Ferne Galaxien wie jene, die in der Studie untersucht wurden, erscheinen auf den Bildern der Astronomen lediglich als schwache Lichtflecken. Doch die Qualität der SINFONI-Daten [2] ist so hoch, dass die Astronomen dennoch detaillierte Karten der Bewegung und Zusammensetzung verschiedener Teile dieser Galaxien herstellen können. Die Ergebnisse waren dabei für einige Überraschungen gut.

"Für mich war die größte Überraschung, dass wir viele Galaxien entdeckt haben, deren Gaskomponente keine Rotation aufweist. Im nahen Universum beobachten wir so etwas überhaupt nicht, und keine der gängigen Theorien sagt die Existenz solcher Objekte voraus", erklärt Benoît Epinat, ein Mitglied des Teams.

"Wir hätten auch nicht erwartet, dass so viele der jungen Galaxien in unserer Durchmusterung eine hohe Konzentration von schweren Elementen in ihren Außenbereichen aufweisen - das ist das exakte Gegenteil von dem, was man in heutigen Galaxien beobachtet", ergänzt Contini.

Das Team beginnt derzeit gerade erst, seinen riesigen Datenschatz auszuwerten - und schmiedet bereits Pläne, die Galaxien mit zukünftigen Instrumenten am VLT nachzubeobachten und mit ALMA das kalte Gas zu untersuchen, das sie enthalten. In einigen Jahren wird mit dem European Extremely Large Telescope das ideale Instrument bereitstehen, um bei derartigen Untersuchungen noch tiefer ins frühe Universum zu blicken.


Endnoten

[1] Das Akronym MASSIV steht für Mass Assembly Survey with SINFONI in VVDS, wörtlich etwa "Massenverteilungs-Durchmusterung mit SINFONI im VVDS". VVDS wiederum steht für VIMOS-VLT Deep Survey. Mit dem VIsible imaging Multi-Object Spectrograph (wörtlich etwa "abbildender Multi-Okjekt-Spektrograf im sichtbaren Licht") VIMOS, einem leistungsstarkes Instrument mit Kamera und Spektrograf am VLT, wurden die bei MASSIV untersuchten Galaxien nachgewiesen und ihre Entfernungen zusammen mit weiteren Eigenschaften bestimmt.

[2] Für die MASSIV-Durchmusterung am VLT wurde das Instrument SINFONI (Spectrograph for INtegral Field Observations in the Near Infrared , wörtlich etwa "Räumlich aufgelöst arbeitender Spektrograf für das nahe Infrarot") eingesetzt. Mit SINFONI werden, unterstützt durch so genannte adaptive Optik, spektroskopische Untersuchungen ausgedehnter Objekte im Nahinfrarotbereich bei Wellenlängen von 1,1 bis 2,45µm durchgeführt. SINFONI besteht aus einem von der ESO entwickelten Modul für Adaptive Optik zum Ausgleich atmosphärischer Verzerrungen und dem Spektrografen SPIFFI (SPectrometer for Infrared Faint Field Imaging). SPIFFI wurde von der NOVA-Kollaboration niederländischer Universitäten und dem Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik in Garching konzipiert und gebaut.


Zusatzinformationen

Die hier vorgestellten Forschungsergebnisse erscheinen demnächst im Rahmen einer Serie von vier Fachartikeln über die MASSIV-Durchmusterung in der Zeitschrift Astronomy & Astrophysics.

Die beteiligten Wissenschaftler sind T. Contini (Institut de Recherche en Astrophysique et Planétologie [IRAP], CNRS und Université de Toulouse, Frankreich), B. Epinat (Laboratoire d'Astrophysique de Marseille, CNRS & Université d'Aix-Marseille, Frankreich [LAM]), D. Vergani (Istituto di Astrofisica Spaziale e Fisica Cosmica-INAF, Bologna, Italien [IASF BO-INAF]), J. Queyrel (IRAP), L. Tasca (LAM), B. Garilli (Istituto di Astrofisica Spaziale e Fisica Cosmica-INAF, Mailand, Italien [IASF MI-INAF]), O. Le Fevre (LAM), M. Kissler-Patig (ESO), P. Amram (LAM), J. Moultaka (IRAP), L. Paioro (IASF MI-INAF), L. Tresse (LAM), C. López-Sanjuan (LAM), E. Perez-Montero (Instituto de Astrofísica de Andalucía, Granada, Spanien), C. Divoy (IRAP) and V. Perret (LAM).

Im Jahr 2012 feiert die Europäische Südsternwarte ESO (European Southern Observatory) das 50-jährige Jubiläum ihrer Gründung. Die ESO ist die führende europäische Organisation für astronomische Forschung und das wissenschaftlich produktivste Observatorium der Welt. Getragen wird die Organisation durch ihre 15 Mitgliedsländer: Belgien, Brasilien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Italien, die Niederlande, Österreich, Portugal, Spanien, Schweden, die Schweiz, die Tschechische Republik und das Vereinigte Königreich. Die ESO ermöglicht astronomische Spitzenforschung, indem sie leistungsfähige bodengebundene Teleskope entwirft, konstruiert und betreibt. Auch bei der Förderung internationaler Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Astronomie spielt die Organisation eine maßgebliche Rolle. Die ESO betreibt drei weltweit einzigartige Beobachtungsstandorte in Nordchile: La Silla, Paranal und Chajnantor. Auf dem Paranal betreibt die ESO mit dem Very Large Telescope (VLT) das weltweit leistungsfähigste Observatorium für Beobachtungen im Bereich des sichtbaren Lichts und zwei Teleskope für Himmelsdurchmusterungen: VISTA, das größte Durchmusterungsteleskop der Welt, arbeitet im Infraroten, während das VLT Survey Telescope (VST) für Himmelsdurchmusterungen ausschließlich im sichtbaren Licht konzipiert ist. Die ESO ist der europäische Partner für den Aufbau des Antennenfelds ALMA, das größte astronomische Projekt überhaupt. Derzeit entwickelt die ESO ein Großteleskop der 40-Meter-Klasse für Beobachtungen im Bereich des sichtbaren und Infrarotlichts, das einmal das größte optische Teleskop der Welt werden wird, das European Extremely Large Telescope (E-ELT).

Die Übersetzungen von englischsprachigen ESO-Pressemitteilungen sind ein Service des ESO Science Outreach Network (ESON), eines internationalen Netzwerks für astronomische Öffentlichkeitsarbeit, in dem Wissenschaftler und Wissenschaftskommunikatoren aus allen ESO-Mitgliedsstaaten (und einigen weiteren Ländern) vertreten sind. Deutscher Knoten des Netzwerks ist das Haus der Astronomie in Heidelberg.

Weitere Informationen unter:
http://www.eso.org/public/germany/news/eso1212/
- Webversion der Pressemitteilung mit weiteren Bildern und Videos, auch in höher aufgelösten Versionen

http://www.ast.obs-mip.fr/users/contini/MASSIV/
- MASSIV-Webseiten

http://www.eso.org/public/images/archive/category/paranal/
- Fotos vom Very Large Telescope

http://www.eso.org/public/archives/releases/sciencepapers/eso1212/eso1212e.pdf
- Artikel über die MASSIV-Durchmusterung im ESO-Messenger

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution1413


*


Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Max-Planck-Institut für Astronomie, ESO Science Outreach Network
(Carolin Liefke), 14.03.2012
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. März 2012