Schattenblick →INFOPOOL →NATURWISSENSCHAFTEN → ASTRONOMIE

GESCHICHTE/074: Das Gesetz der Expansion wird 80 (Sterne und Weltraum)


Sterne und Weltraum 11/09 - November 2009
Zeitschrift für Astronomie

Welt der Wissenschaft: Kippenhahns Kosmos
Das Gesetz der Expansion wird 80

Von Rudolf Kippenhahn


Das vor nicht einmal hundert Jahren gefundene Gesetz der Expansion des Weltalls stellt uns zusammen mit der 1965 entdeckten kosmischen Hintergrundstrahlung vor große Fragen: Woher kommt die Welt, und woher kommen die Naturgesetze, die sie regieren?


Als der Königsberger Philosoph Immanuel Kant (1724 - 1804) von der Idee des englischen Gelehrten Thomas Wright (1711 - 1786) erfuhr, die Sonne stünde im Raum in einer flachen, mit Sternen ausgefüllten Scheibe, dem Milchstraßensystem, gingen seine Gedanken weiter: Vielleicht ist unser Milchstraßensystem nur eines von vielen, die wie Inseln so weit draußen im sonst leeren Raum stehen, dass sie uns nur als schwach leuchtende Nebelchen zwischen den im Vordergrund stehenden Sternen des Milchstraßensystems erscheinen? Kreisrund oder elliptisch, je nach Blickwinkel. Oft war in ihnen eine spiralige Struktur zu erkennen. Deshalb nannte man sie Spiralnebel.

Oder sind die Spiralnebel nur Gasschwaden im Milchstraßensystem, das allein im sonst leeren Raum schwebt? Welche der beiden Vorstellungen die richtige ist, wussten die Astronomen selbst vor hundert Jahren noch nicht.

Die Entscheidung fiel erst am 5. Oktober 1923. Da machte der Astronom Edwin P. Hubble (1889 - 1953) am Mount Wilson Observatory eine einstündig belichtete Aufnahme des hellsten Spiralnebels, des Andromedanebels.


Vom Rechtsanwalt zum Astronomen

Da Hubble in der Erforschung der Spiralnebel eine große Rolle spielt, hier mehr über ihn: Er kam auf Umwegen zur Astronomie. Zuerst studierte er Jura, doch dann Mathematik. Danach eröffnete er eine Anwaltskanzlei, schloss sie aber nach einem Jahr wieder und ging nach Chicago, um dort auch noch Astronomie zu studieren. Im Jahre 1917 promovierte er. Nach einer kurzen Militärzeit bekam er eine Stelle an der Sternwarte auf dem Mount Wilson, nördlich von Los Angeles.

Dort war gerade das Hooker-Teleskop, mit 2,5 Meter Spiegeldurchmesser damals das größte Teleskop der Welt, in Betrieb genommen worden. Mit ihm konnte Hubble vor allem die lichtschwachen Spiralnebel untersuchen. Hubbles Aufnahme vom 5. Oktober 1923 zeigte im Andromedanebel mehrere Sterne, darunter einen, der seine Helligkeit im Laufe der Zeit ändert, wie weitere Aufnahmen belegten. Es war ein veränderlicher Stern, dessen Helligkeit im Rhythmus von etwa 31 Tagen schwankt. Die Lichtkurve zeigte, dass er zu einem Veränderlichentyp gehörte, der seit langer Zeit bekannt ist, den Delta-Cephei-Sternen oder kurz Cepheiden.

Das war ein Glücksfall für Hubble, denn bei diesen Sternen, benannt nach dem Stern Delta im Sternbild Kepheus, hängen Strahlungskraft (Leuchtkraft) und Periode ihrer Helligkeitsschwankungen eng zusammen. Wer die Periode eines Cepheiden bestimmt, kennt damit auch seine Strahlungskraft. Aus der Helligkeit, mit der er uns am Himmel erscheint, folgt dann seine Entfernung. Mit diesem Stern konnte Hubble die Entfernung des Andromedanebels zu 929 000 Lichtjahren bestimmen. Auch in anderen Spiralnebeln fand er Cepheiden, und auch sie lieferten ihm die Entfernungen. Alle Spiralnebel lagen weit draußen im Raum, weit entfernt vom Milchstraßensystem. Erst 28 Jahre später sollte sich zeigen, dass die Beziehung zwischen Strahlungskraft und Periode eines Cepheiden zu korrigieren ist und die Entfernungen der Spiralnebel verdoppelt werden müssen.


Spiralnebel auf der Flucht

Alle Spiralnebel bis auf einige uns nahe stehende bewegen sich von uns weg, einige sehr schnell, andere vergleichsweise langsam. Das beobachtbare Weltall scheint sich auszudehnen. Sollte es in Wahrheit nicht in sich zusammenstürzen? Die anziehende Schwerkraft der einzelnen Sternsysteme sollte sie doch einander immer näher bringen. Der Lösung dieser Frage näherte man sich von zwei Richtungen her, von der Theorie und von der Beobachtung.

Als Einstein im Jahre 1917 in seiner Allgemeinen Relativitätstheorie unsere Vorstellungen von der Gravitation auf eine völlig neue Basis stellte, versuchte er auch, sie auf das Weltall als Ganzes anzuwenden. Das war acht Jahre vor der Entdeckung, dass die Spiralnebel Sternsysteme wie unseres sind. Um ein Weltmodell zu bekommen, das nicht der Schwerkraft wegen in sich zusammen stürzt, musste er seiner Theorie noch eine kleine Ergänzung anfügen, eine Kraft, die der Schwerkraft entgegenwirkt und so das Weltall vor einem Kollaps bewahrt.

Mehrere Gelehrte untersuchten Einsteins Weltmodell genauer, so der Astronom Willem de Sitter in Holland, der Jesuit George Lemaître in Belgien und der Meteorologe Alexander Friedmann in der Sowjetunion. Bald wusste man, dass Einsteins Weltmodell instabil ist. Zieht es sich durch eine geringfügige Störung etwas zusammen, gewinnt die Schwerkraft und es kollabiert; dehnt es sich geringfügig aus, fliegt es auseinander. Einstein musste zudem erfahren, dass seine Theorie auch Weltmodelle zulässt, die expandieren.

Lange Zeit konnte er sich mit diesen Gedanken nicht anfreunden. Harry Nussbaumer hat in dieser Zeitschrift die damaligen Diskussionen darüber beschrieben (siehe SuW 6/2007, S. 36).


Hubble findet das Gesetz

Die Beobachter hingegen suchten nach Gesetzmäßigkeiten in den gemessenen Fluchtgeschwindigkeiten der Spiralnebel, auch in Deutschland (vergleiche hierzu den Artikel von Immo Appenzeller auf S. 44 in SuW 11/2009). Fast alle Sternsysteme bewegen sich von uns weg, und es schien, als seien die Geschwindigkeiten der entfernteren Spiralnebel größer als diejenigen der nahen. Doch um Entfernungen von Sternsystemen zu bestimmen und ihre Geschwindigkeit aus den Linien ihrer Spektren zu erkennen, sind lichtstarke Teleskope nötig. Dafür boten die Instrumente auf dem Mount Wilson die besten Voraussetzungen. Hubble und sein Mitarbeiter Milton Humason versuchten in langen Nächten, Spektren lichtschwacher Spiralnebel zu erhalten. Oft waren dazu 50 oder gar 100 Stunden Belichtungszeit nötig. Während mehrerer Nächte musste das Teleskop auf denselben lichtschwachen Spiralnebel gerichtet werden, um nach einigen Tagen ein brauchbares Spektrum auf der Fotoplatte zu haben.

Während der Aufnahme musste der Beobachter Fehler in der Bewegung des Fernrohrs, das der täglichen Bewegung der Sterne folgte, von Hand korrigieren und die Nachführung durch elektrische Impulse beschleunigen oder verlangsamen, wenn das Objekt aus dem Fadenkreuz im Leitfernrohr lief. Humason gelang es, aus dem Teleskop auch noch das Letzte herauszuholen. Oft waren die Objekte so lichtschwach, dass sie im Leitfernrohr gar nicht zu sehen waren. Dann nahm er die betreffende Himmelsgegend vorher auf und bestimmte den Ort des Nebels relativ zu seinen helleren Nachbarsternen. Für die Aufnahme des Spektrums wurde dann das Fernrohr anhand der Nachbarsterne ausgerichtet und nachgeführt.

Mit den Instrumenten auf dem Mount Wilson konnte Hubble Fluchtgeschwindigkeiten lichtschwacher Spiralnebel bestimmen und - falls in diesen Cepheiden gefunden wurden - auch ihre Entfernungen. So konnte er in einer im Jahre 1929 erschienenen Arbeit zeigen, dass eine einfache Beziehung besteht: Fluchtgeschwindigkeit und Entfernung sind zueinander proportional: doppelte Entfernung - doppelte Geschwindigkeit, dreifache Entfernung - dreifache Geschwindigkeit. Das ist das hubblesche Gesetz.

Auch vor Hubble zeigten die aus der Relativitätstheorie gewonnenen expandierenden und implodierenden Weltmodelle, dass Entfernung und Geschwindigkeit zueinander proportional sind. Das kam daher, dass die Theoretiker nur die einfachsten Lösungen von Einsteins Gleichungen benutzten. Diese sagen nur, wie sich das Weltall im einfachsten Fall nach dem später nach Hubble benannten Gesetz bewegen könnte.

Aber Hubble, der die meisten theoretischen Arbeiten damals gar nicht kannte, fand, dass das Weltall wirklich so expandiert. Sein Ergebnis zeigte, dass das Weltall sich so bewegt, wie es das (unbewiesene) kosmologische Prinzip verlangt (vergleiche SuW 4/2008, S. 50). Aus dem hubbleschen Gesetz folgt auch das Alter des Weltalls, also wann die Expansion begonnen hat. Heute schätzt man das Weltalter auf 13,7 Milliarden Jahre.

Hubble wird von Kollegen, die ihn kannten, als nicht besonders zugänglich beschrieben. Er stammte aus Missouri, legte aber auf ein gepflegtes Oxford-Englisch Wert, fragte seine Kollegen selten um Rat und sträubte sich lange, Milton Humason, seinen wichtigsten Helfer, befördern zu lassen.

Aber humorlos war er nicht: Sein Kater hieß Nicolaus Copernicus.


Rudolf Kippenhahn ist Astronom und Schriftsteller.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

- Edwin P. Hubble - hier im Jahre 1952 - bestimmte mit dem Hooker-Teleskop auf dem Mount Wilson die Fluchtgeschwindigkeiten und Entfernungen von Galaxien.

- "A Relation between Distance und Radical Velocity among Extra-Galactic Nebulae
Edwin P. Hubble
(Proceedings of the National Academy of Sciences 15, 168-173 [1929]")
Der Titel der Arbeit, mit der das hubblesche Gesetz bekannt wurde

- Der Himmel zeigt im Fernrohr zwischen den Sternen neblige Flecke, die meist in Wahrheit Sternsysteme sind, so weit draußen im Raum, dass ihre Sterne zu einem nebligen Fleck verschmelzen. Erst im Jahre 1925 bestätigte Hubble die Vermutung des deutschen Philosophen Immanuel Kant von 1755, die Nebel wären in Wahrheit Sternsysteme, während die Sterne im Bild im Vordergrund stehen.

- Im Jahre 1917 bestimmte der US-Astronom Vesto Slipher, dass sich dieser »Nebel«, der an die Form eines Sombrero erinnert, mit etwa 1100 Kilometern pro Sekunde von uns weg bewegt.


© 2009 Rudolf Kippenhan, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


*


Quelle:
Sterne und Weltraum 11/09 - November 2009, Seite 54 - 56
Zeitschrift für Astronomie
Herausgeber:
Prof. Dr. Matthias Bartelmann (ZAH, Univ. Heidelberg)
Prof. Dr. Thomas Henning (MPI für Astronomie)
Dr. Jakob Staude (MPI für Astronomie)
Redaktion Sterne und Weltraum:
Max-Planck-Institut für Astronomie
Königstuhl 17, 69117 Heidelberg
Telefon: 06221/528-0, Fax: 06221/528-246
Verlag: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Slevogtstraße 3-5, 69126 Heidelberg
Tel.: 06221/912 66 00, Fax: 06221/912 67 51
Internet: www.astronomie-heute.de

Sterne und Weltraum erscheint monatlich (12 Hefte pro Jahr).
Das Einzelheft kostet 7,90 Euro, das Abonnement 85,20 Euro pro Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Dezember 2009