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INSTRUMENTE/293: Das Teleskop und die Brücke (Sterne und Weltraum)


Sterne und Weltraum 11/10 - November 2010
Zeitschrift für Astronomie

Das Teleskop und die Brücke
Zur Gestaltung der jeweils größten Teleskope aus historischer Sicht

Von Hans Jürgen Kärcher


Teleskope bestehen nicht nur aus optischen Komponenten. Ihre äußere Gestalt wird stark durch die Mechanik ihrer Montierungen geprägt. Daher kann der Fachmann an ihrer Form direkt ablesen, welche Probleme die am Bau beteiligten Strukturmechaniker jeweils in Angriff genommen, und wie sie diese gelöst haben. So lässt sich die Entwicklung der Teleskope - wie auch diejenige der Brücken - anhand des Wandels ihrer Gestalt erzählen.


In Kürze
Die Astronomen sind mit der Lichtstärke und dem Auflösungsvermögen ihrer Teleskope niemals zufrieden. Deshalb machen sie seit 400 Jahren Druck auf Optiker, Mechaniker, und neuerdings auch Elektroniker und Informatiker, damit sie immer größere und bessere Teleskope entwickeln.
Sobald es in einer der beteiligten Technologien zu einem Durchbruch kommt, werden ganz neue Lösungen des Problems realisierbar, und plötzlich verändert sich die Gestalt der Teleskope.
Der neueste Schritt in dieser Entwicklung führte vom VLT mit 8 Meter zum E-ELT mit 42 Meter Öffnung. Der dazu nötige struktur-mechanische Durchbruch geschah in enger Anlehnung an die von den alten Römern erfundene Bogenbrücke.

Seit Urzeiten schauen die Menschen zum gestirnten Himmel, und seit dem Aufkommen religiöser und staatlicher Organisationen geben sie einen kleinen Prozentsatz ihres Bruttosozialprodukts für astronomische Anbetungs- oder Beobachtungsprojekte aus.

Das Interesse der Menschen an den Fragen nach ihrer Herkunft und dem Schicksal ihres Planeten im Weltraum ist auch heute ungebrochen. Vor vierhundert Jahren hat Galilei zum ersten Mal mit einem Teleskop zum Himmel geschaut. Seither sind die Teleskope durch den technischen Fortschritt immer größer und leistungsfähiger geworden, und in den letzten zwanzig Jahren hat der Teleskopbau wieder einmal einen ungeahnten Aufschwung genommen: Heute reichen die besten Instrumente fast bis zum Urknall.

Der Brückenbau dagegen ist eine uralte handwerkliche Kunst, die nichts mit Selbst- oder Welterkenntnis zu tun hat, sondern mit den praktischen Fragen des täglichen Lebens. Der erste brückenbauende Urmensch legte einen Baumstamm über einen Bach, um seiner Familie die Beschwernis nasser, kalter Füße zu ersparen. Alexander der Große eroberte mit Hilfe seines brückenbauenden Geniekorps Indien, die Römer erfanden die steinerne Bogenbrücke und erhoben den obersten Brückenwart zum Pontifex Maximus.

Was hat der Brückenbau mit Teleskopen zu tun? Nun, ich selbst entwickelte mich im Laufe meines beruflichen Werdegangs vom studierten Brücken- zum ausführenden Teleskopbauer, was eine Querbeziehung nahelegt. Ein Teleskop besteht nämlich nicht nur aus Optik, sondern auch aus Mechanik. Und wenn die Teleskope größer werden, so ist dabei nicht nur Mechanik im herkömmlichen Sinne im Spiel (etwa die Ausbildung der Achslager und Antriebe), sondern insbesondere auch Strukturmechanik: Darin liegt der Bezug zum Brückenbau. Das Aussehen eines großen Teleskops wird bestimmt durch seine Struktur, und die wird, je größer das Teleskop ist, desto wichtiger - in ihrer Funktion als Rückgrat des Instruments ebenso wie in ihrem Anteil an den Kosten bei dessen Herstellung.

Die der Strukturgestaltung zugrunde liegenden Ingenieursdisziplinen sind die Statik und die Strukturdynamik. Diese Disziplinen sind in ihrer akademisch anspruchsvollsten Form bei den Bauingenieuren, eben den Brückenbauern, angesiedelt. Im Folgenden möchte ich daher die Geschichte des Teleskopbaus aus der Sicht der Mechanik - insbesondere der Strukturmechanik - schildern. Dies mag zunächst ungewöhnlich erscheinen, wird aber bei großen Teleskopen einleuchtend. Der Aufsatz endet mit einem neuen »größten« Teleskop - dem in der Planung befindlichen European Extremely Large Telescope (E-ELT), an dessen Gestaltung der Autor im Rahmen einer Studie als Strukturmechaniker maßgeblich mitgewirkt hat.


Die ersten Teleskope: Refraktoren

Holländische Linsenschleifer, die für den im Europa des 15. und 16. Jahrhunderts aufgekommenen Lesebrillen-Markt produzierten, stellten vermutlich um 1608 als erste eine konvexe und eine konkave Linse in einem Rohr zu einem Linsenteleskop oder Refraktor zusammen. Dieses neuartige Instrument baute Galileo Galilei (1564-1642) im Sommer 1609 aufgrund von Hörensagen nach und verkaufte die Idee am 23. August jenes Jahres der venezianischen Regierung als eigene Erfindung zu militärischen Zwecken. Wochen später schaute er mit seinem Teleskop zum Himmel und sah gleich die Berge auf dem Mond, die Sterne in der Milchstraße und die Trabanten des Jupiter - Dinge, die vor ihm kein Mensch gesehen hatte. Das führte bekanntlich zu seinen späteren Schwierigkeiten mit der Kirche. Seine Teleskope, die er als passionierter Praktiker bis zu seinem Lebensende ständig verbesserte, dürften ähnlich ausgesehen haben wie das im obigen Bild abgebildete.

Die folgenden Teleskope jener Zeit wurden aus erst später verstandenen Gründen der Optik immer länger. Da in einer Linse Licht verschiedener Wellenlänge unterschiedlich stark gebrochen wird, entstehen im Bild des Objekts farbige Ränder (chromatische Aberration). Diese werden umso störender, je stärker die Krümmung der Linse, je kürzer also die Brennweite ist.

Dies hatten die ersten Teleskopbauer schnell bemerkt und als Abhilfe Teleskope immer längerer Brennweite gebaut. Johann Hevelius (1611-1687), ein reicher Ratsherr der damaligen Hansestadt Danzig, baute 1642, während des 30-jährigen Krieges, ein sehr langes Teleskop, dessen Brennweite, nach der Abbildung geschätzt, etwa zwölf Meter betrug (siehe Bild links unten). Der Tubus hängt über einen Flaschenzug, mit dem man die Höhe der Beobachtungsrichtung über dem Horizont einstellen kann, an einem Pfahl; um die Durchbiegung des Tubusrohres (das offenbar ein Holzkasten ist) zu mindern, ist es durch zwei Seile noch einmal in den Viertelspunkten gehalten. Das Ausrichten erfolgt, wie auch bei dem im Bild links oben gezeigten Teleskop, durch den Astronomen mit der Hand am Okular und dürfte, trotz des Tisches und der Winden, die sich auf dem Bild erkennen lassen, eine sehr wackelige Angelegenheit gewesen sein.

Noch länger war das im Jahre 1728 von Francesco Bianchini in Rom gebaute Teleskop mit einer geschätzten Brennweite von etwa 30 Metern (siehe Bild oben). Die Darstellung, und auch die Konstruktion selbst, scheinen unter mechanischen Gesichtspunkten wenig präzise: Die Be festigung des Flaschenzugs befindet sich irgendwo oberhalb des Bildrands, und auch die brückenartige Verstärkung des Tubusrohres macht einen recht wackeligen Eindruck, da ihr aus der Sicht des Brückenbauers der Obergurt fehlt. (Ober- und Untergurt heißen im Brückenbau die oberen und unteren, meist horizontal angeordneten Träger mit lastverteilender Wirkung).

Beiden Teleskopen ist anzusehen, dass sie wohl nicht sehr stabil waren, und dass ihre Konstruktion primär der Verbesserung der Abbildungsgenauigkeit auf Kosten der Bildstabilität gedient haben mag. Zur gleichen Zeit benutzte Hevelius auch eine Reihe von Quadranten, Sextanten und anderen Messinstrumenten, die noch mit keiner Linsenoptik ausgestattet waren, sondern wie bereits die mittelalterliche Artillerie mit Kimme und Korn arbeiteten (sie sind auf dem Bild links unten gut zu erkennen). Sie hatten aber ein sehr ausgeklügeltes, stabiles Gestell, das die Vermessung der Sternörter mit hoher Präzision erlaubte. Mit ähnlichen Geräten arbeiteten alle Astronomen von Ptolemäus (2. Jahrhundert n. Chr.) bis Tycho Brahe (1546-1601): In seiner Uranienburg auf der dänischen Insel Hven führte Tycho die Kunst der Positionsmessung zu einem später für lange Zeit nicht wieder erreichten Gipfel - nur so konnte sein Schüler Johannes Kepler aus Tychos Daten die Bewegungsgesetze der Planeten ableiten. Diese Aufgabenteilung mit unterschiedlichen Schwerpunkten auf Bildgebung oder Positionsbestimmung ist charakteristisch für die Entwicklung des Teleskops bis ins 20. Jahrhundert hinein.


Die ersten Reflektoren: Metallspiegel

Wegen der reflektierenden, farbunabhängigen Funktionsweise des Spiegels vermeiden die Spiegelteleskope oder Reflektoren die chromatische Aberration. Erste Instrumente dieser Art hatten schon James Gregory (1638-1675) und sein Zeitgenosse Isaac Newton (1643-1727) gebaut. Sie waren eher klein und handlich. Die ersten großen Reflektoren stammen von Wilhelm Herschel (1738-1822) aus Hannover, später wohnhaft in Bath, England. Sein größter Reflektor mit 1,22 Meter Spiegeldurchmesser hatte ein besonders eindrucksvolles Gestell: eine Elevation-über-Azimut-Montierung, (abgekürzt: EL/AZ), für die er die damals üblichen handwerklichen Technologien wie Holzbalken, Seile, Flaschenzüge und Ähnliches nutzte (siehe Bild unten). Seine großen Spiegel stellte er aus einer speziellen Bronze (Speculum) her, und das Polieren dieser Spiegel war - neben den astronomischen Beobachtungen, die er parallel zu seinen technologischen Entwicklungen durchführte - seine wesentliche Innovation.

Dieses gleichzeitige Arbeiten an zwei Fronten, Astronomie und Technologie, war bereits für Galileis allererste Anfänge in den Jahren 1609 und 1610 charakteristisch und ist bis heute für das Vorgehen der Astronomen typisch geblieben. Wilhelm Herschel wurde durch seine Entdeckung des Uranus so bekannt wie seine Teleskope, und noch heute kann man am Astronomischen Institut der Universität Göttingen ein von ihm konstruiertes Teleskop bewundern: Ein Prinz aus dem Hause Hannover hatte es bei seinen Studien in Göttingen als Gastgeschenk mitgebracht.

Herschel hatte viele Epigonen. Einer davon war Johann Hieronymus Schröter (1745-1816), der 1794 in Lilienthal bei Bremen sein Riesenteleskop errichtete (siehe Bild oben). Zwar kaufte Schröter den Spiegel von Herschel; aber die Montierung realisierte er, mit der Hilfe einheimischer Handwerker, vermutlich selbst. Aus der Sicht des Strukturmechanikers ist sie besonders eindrucksvoll gelungen - zum Beispiel hat Schröter die Höhenverstellung des Tubus gegenüber Herschels Teleskop dahingehend verbessert, dass er den Festpunkt der Stellbewegung nach vorne in die Nähe des Beobachtungspunkts verlegt hat.

Herschels Spiegelteleskope waren Front-viewer, der Beobachter schaute vorne in den Strahlengang. Deswegen musste Herschel beim Beobachten auf einer beweglichen Bühne in großer Höhe herumturnen (siehe Bild auf S. 47 unten). Dagegen konnte Schröter bequem auf einer festen Bühne stehen, während der hintere Teil des Tubus über eine komplizierte Wippe mit Gegengewichten auf und ab geschwenkt wurde. Unser Bild zeigt nicht deutlich, wie die Azimut-Verstellung funktionierte: Zwar ist ein aufwändiger Fahrschemel dargestellt, mit dem das ganze Gestell vermutlich um den Azimut gedreht wurde, aber der »Königszapfen«, um den das zu geschehen hätte, ist nicht erkennbar; er befand sich vermutlich am Kopf des feststehenden Turms. Vielleicht gab es da sogar einen Königszapfenraum (So ein schönes Wort! Aber zu Schröters Zeiten hätte es sicherlich Königszapfenstube geheißen), wie es ihn zum Beispiel im Fundament des Effelsberger 100-Meter-Radioteleskops gibt.

Der letzte Vertreter der Spiegelteleskope herschelscher Art ist der »Leviathan« des dritten Earl of Rosse (1800-1867) im irischen Parsonstown, mit 36 Zoll Öffnung und 16 Meter Brennweite (siehe Bild rechts oben). Der 3,8 Tonnen schwere Bronze-Spiegel in seiner Zelle wurde auf 27 (später 81) Stützpunkten gelagert.

Beim Leviathan ist das Gestell durch solide Mauern ersetzt, die Nachführung in Azimut beschränkt sich auf einen kleinen Bewegungsbereich um die Südrichtung, von je zehn Grad nach Ost und West, und der Beobachter muss, obwohl es sich um eine newtonsche Spiegelanordnung mit seitlichem Okular handelt, auf aufwändigen beweglichen Bühnen herumturnen. Das Teleskop wurde vor einiger Zeit mit EU-Mitteln restauriert und mit einem neuen Aluminiumspiegel ausgestattet, und ist wieder funktionstüchtig.

Fazit: Herschels Reflektoren haben sicherlich die Bildgebung gegenüber den vorherigen Linsenteleskopen stark verbessert, aber die Ausrichtmechanik war entsprechend den damals existierenden Technologien mit Holzgestellen, Flaschenzügen und Wagenrädern noch sehr dürftig.


Die aberrationsfreien Refraktoren der zweiten Generation

Das Problem der chromatischen Aberration wurde erst 150 Jahre nach Galilei von dem Baseler Mathematiker Leonhard Euler (1707-1783) theoretisch durchschaut. Als Erstem gelang es 1758 dem Engländer John Dollond (1706-1761), sie durch die Kombination zweier Linsen aus Kron- und Flintglas zu beherrschen, was langsam zu einer Renaissance der Refraktoren führte. Allerdings waren Dollonds Linsen wegen der Schwierigkeit, schlierenfreies Glas herzustellen, bezüglich der realisierbaren Öffnung den herschelschen Spiegeln zunächst noch stark unterlegen. Dies änderte sich erst mit Joseph Utzschneider (1763-1846) und Joseph von Fraunhofer (1787-1826), die in Benediktbeuern eine Glashütte aufbauten und damit den Grundstein zu einer neuen Generation von Refraktoren legten, die mehr als hundert Jahre lang den Teleskopbau dominieren sollte.

Fraunhofer hatte offensichtlich nicht nur außergewöhnliche Fähigkeiten auf dem Gebiet des Glasschmelzens und Linsenschleifens - auch seine Teleskopmechaniken waren gegenüber den Mechaniken der herschelschen Reflektoren ein enormer Fortschritt. Fraunhofer verwendete ausgeklügelte äquatoriale Montierungen mit Uhrwerksmotoren für die Achsen: Rechts, auf dem Bild seines Dorpater Refraktors, sind die zugehörigen Antriebsgewichte zu erkennen. Am interessantesten aber sind - aus strukturmechanischer Sicht - die zwei Ballastgewichte am Tubus, die offensichtlich die Aufgabe hatten, der Durchbiegung des Tubus unter dem Eigengewicht entgegenzuwirken. Es ist - nach den Abspannseilen des großen Teleskops von Hevelius im Bild auf S. 46 unten - das zweite Beispiel einer Art von intelligent structural design im Teleskopbau: Als drittes Beispiel werden wir dem Serrurier-Tubus begegnen. (Siehe den Kasten »Das serruriersche Konstruktionsprinzip« auf S. 52.)

Die Entwicklung der äquatorial montierten Refraktoren erreichte ihren Höhepunkt gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit Teleskopen in Deutschland, Kalifornien (Lick Observatory) und anderswo. Der größte Refraktor dieser Zeit ist das Yerkes-Teleskop in Chicago, mit einem Linsendurchmesser von annähernd einem Meter - es wurde 1897 fertiggestellt. Da man Linsen nur an ihren Rändern auflagern kann, ließ sich deren Durchbiegung unter der Last ihres eigenen Gewichts nicht vermeiden: Damit war wieder eine technologische Grenze erreicht.


Das serruriersche Konstruktionsprinzip

Wenn man einen Teleskop-Tubus aus dem Zenit zum Horizont dreht, verändert sich dabei die Wirkung der Schwerkraft; in Zenitstellung wirkt das Eigengewicht parallel zur Tubus-Achse, in Horizontstellung wirkt es quer dazu. Um keine großen Antriebsmomente zu benötigen, sollte das Gewicht FH des Hautspiegels in der gedrehten Lage mit dem Gewicht des Fangspiegels FF im Gleichgewicht sein; das gesamte Gewicht des Tubus wird als Lagerkraft FL über die (nicht dargestellte) gabelförmige Alhidade in das Fundament geleitet (vergleiche das Bild auf S. 51 oben). Dabei ist es unvermeidlich, dass sich der Hauptspiegel mit seiner Spiegelzelle, ebenso wie der gesamte Frontring mit dem Fangspiegel, quer zur Achse absenkt (siehe nebenstehende Grafik): Dies lässt sich auch durch noch so hohe Steifigkeit der Serrurier-Stäbe nicht verhindern. Aber deren Konstruktionsgeheimnis gewährleistet zweierlei:

• durch die Parallelstäbe wird eine Verkippung von Haupt- und Fangspiegel verhindert;
• der Querschnitt der Dreiecksstäbe lässt sich so wählen, dass die Absenkungen des Hauptspiegels δH und des Fangspiegels δF gleich groß sind.

Mit anderen Worten: Bei geneigtem Teleskop senken sich Frontring und Spiegelzelle parallel zueinander und um den gleichen Betrag ab, sodass die optischen Eigenschaften des Systems erhalten bleiben. Die dazu notwendigen Querschnitte der Serrurier-Stäbe lassen sich mit elementarer Statik - zu Serruriers Zeiten mit dem Rechenschieber - ausrechnen.

Serruriers Konstruktionsprinzip - mit den unvermeidlichen Verformungen zu leben, aber Gestaltung und Abmessungen der Strukturteile so zu wählen, dass sich alles möglichst gleichmäßig verformt - nennt man bei Radioteleskopen »Homologie«. Dieses Wort wurde nicht von Serrurier selbst, sondern erst in den 1950er Jahren von Sebastian von Hoerner geschöpft. Damals dachte man über Riesen-Radioteleskope nach: Das 100-Meter-Radioteleskop in Effelsberg ist das Ergebnis dieser Bemühungen. Das serruriersche Konstruktionsprinzip kann man auch »Prinzip der gleichen Weichheit«, oder umgangssprachlich »Matratzenprinzip« nennen. Serrurier selbst kam noch nicht auf die Idee, ihm einen eigenen Namen zu geben.

(Abbildungen der Originalpublikationim Schattenblick nicht veröffentlicht)


Reflektoren der zweiten Generation: Spiegel aus Glas

Jetzt kehrten die Astronomen zu den Reflektoren zurück, wie sie Herschel verwendet hatte. Sie benutzten aber ein neues Spiegelmaterial: Glas, denn es ist zum Polieren besser geeignet als die alte Spiegelbronze. Sie nutzten auch die Vorteile der äquatorialen Montierung, denn die an der Erdachse ausgerichtete Anordnung der Teleskopachsen erleichterte in diesem vordigitalen Zeitalter die Nachführung des Teleskops ganz erheblich. Diese zweite Reflektor-Generation kulminierte mit dem Bau des Hale-Teleskops auf Mount Palomar südöstlich von Los Angeles in Kalifornien (siehe Bilder unten). Sein aus Pyrex gefertigter Spiegel hat 200 Zoll oder fünf Meter Durchmesser, besitzt zur Gewichtsersparnis auf der Rückseite eine wabenartige Struktur, und ist auf 36 Auflagepunkten gelagert. Darin liegt ja gerade der große Vorteil eines Spiegels, dass man ihn, im Gegensatz zu einer Linse, von hinten unterstützen kann. Auch beim Tubus des Hale-Teleskops ging Mark Serrurier, ein strukturmechanisch geschulter Mitarbeiter des Ingenieurteams, einen neuen Weg - wir werden darauf auf S. 52 noch einmal zurückkommen.

Da bei diesen Abmessungen Gegengewichte gewaltige Massen erreicht hätten, ließen sich die Ingenieure mit der Hufeisenmontierung etwas Neues einfallen, wodurch beide Achsen ohne Gegengewichte auf natürliche Art ausbalanciert sind. Aber auch das Hufeisen selbst hat gewaltige Abmessungen und kostet damit sehr viel Geld. Deshalb stieß die für das Hale-Teleskop gefundene Lösung sogleich an ihre durch die Schwerkraft und die Abmessungen gesetzten Grenzen.


Das 200-Zoll-Teleskop auf Mount Palomar

Das George-Ellery-Hale-Teleskop auf Mount Palomar mit seinem Fünf-Meter-Spiegel und der neuartigen Hufeisen-Montierung hatte im Jahr 1948 »Erstes Licht« und nahm 1950 den regulären Betrieb auf. In die Beobachterkabine am Frontring kann sich ein Astronom zur fotografischen Beobachtung im Primärfokus setzen: So etwas würde man heute, im Zeitalter der CCD-Chips, nicht mehr fordern. Auf der Rückseite des Fünf-Meter-Spiegels lassen sich eine der Gewichtsersparnis dienende wabenartige Struktur und die 36 Stützpunkte erkennen (rechts). Der offene Serrurier-Tubus des Fünf-Meter-Teleskops auf Mount Palomar ist der erste seiner Art (oben rechts)

(Abbildungen der Originalpublikationim Schattenblick nicht veröffentlicht)


Sehr große Teleskope

In den 1970er und 1980er Jahren flammte der - niemals gänzlich erlöschende - Wunsch der Astronomen nach noch größeren Teleskopen wieder auf, und die Teleskopbauer erinnerten sich wieder an die strukturmechanischen Vorteile der EL/AZ-Montierung. Inzwischen hatte die Regelungstechnik große Fortschritte gemacht, und die aufkommende Digitaltechnik nahm den regelungstechnischen Argumenten gegen die gleichzeitige Nachführung um zwei beziehungsweise drei Achsen (die dritte Achse ist die der Bilddrehung) ihr Gewicht.

Die größten Reflektoren dieser Art wurden in den 1990er Jahren gebaut: Es sind die vier Acht-Meter-Teleskope des VLT der ESO auf dem Paranal in Chile (siehe Bild rechts) und die beiden Zehn-Meter-Keck-Teleskope der Universität von Kalifornien auf Hawaii. Bei ihnen ist zwar das gewaltige Hufeisen des Palomar-Teleskops verschwunden, aber an der Gestaltung des Tubus erkennt man den nachhaltigen Einfluss der Ideen des Strukturmechanikers Mark Serrurier aus den 1930er Jahren. Der Tubus besteht, wie beim Hale-Teleskop, 1.) aus einer Nabe, die von den Achszapfen der Elevations-Achse getragen wird und die Apertur des einfallenden Lichts umfasst, 2.) aus dem Hauptspiegel mit seiner Spiegelzelle, 3.) aus dem Frontring, der mit seinen Halteblättern den Fangspiegel und dessen Justiermechanismus trägt; und 4.) aus den Serrurier-Stäben, welche die Primärspiegelzelle und den Frontring auf besonders raffinierte, auf S. 52 oben erläuterte Art unterstützen.


Extrem große Teleskope

Bis hierher haben wir uns die Teleskope aus historischer Sicht angeschaut, ihre Evolution sozusagen beschreibend nachvollzogen, und dabei auch ein etwas tieferes Verständnis gewonnen. Die gegenwärtig in der Entwicklung befindlichen extrem großen Teleskope gibt es noch nicht als Hardware; sie sind in der Planung, und man kann noch gestalterisch auf sie Einfluss nehmen.

Wie lässt sich ein extrem großes Teleskop gestalten, damit es auch realisiert werden kann? Wir wollen uns dies an Hand des European Extremely Large Telescope (E-ELT) der ESO überlegen. Mit seinen 42 Metern Öffnung ist es weltweit das größte in der Planung befindliche Teleskop. Um dafür zu einem Ausgangsentwurf zu kommen, ist es sinnvoll, von den Vorgänger-Modellen ausgehend, nach neuen Lösungen zu suchen. Denn, würden wir den Palomar-Tubus bei gleich bleibenden Proportionen auf 42 Meter Öffnung vergrößern, so wäre er etwa 130 Meter lang, also in Zenitstellung beinahe so hoch wie der Kölner Dom! Das lässt sich so nicht realisieren.

Schauen wir uns noch einmal rückblickend an, was die Gestalter des VLT aus dem serrurierschen Tubus gemacht haben. Ein Größenvergleich mit dem Hale-Teleskop zeigt, wie stark sich die Proportionen der beiden Instrumente unterscheiden (siehe das Bild auf S. 51 unten). Dies liegt am geänderten Öffnungsverhältnis f/D (Brennweite zu Durchmesser) des Hauptspiegels. Es beträgt beim Palomar-Teleskop etwa 3, beim VLT etwa 1,5. Oben hatten wir gelernt, dass Hevelius und Bianchini, die ersten Gestalter großer Refraktoren, ihre langen Brennweiten wegen des Einflusses auf die Abbildungsfehler gewählt hatten. Dies wird sicherlich auch beim Palomar-Teleskop noch so gewesen sein. Das VLT hingegen ist mit einer aktiven Optik ausgerüstet, die Verformungen des Spiegels bei Lageänderungen bis zu einem gewissen Grade ausgleicht - deshalb sind etwas kürzere Brennweiten möglich. Dies hat einen immensen Einfluss auf die Strukturgestaltung: Die kompakte Form des VLT-Tubus ist aus der Sicht des Strukturmechanikers (und auch des Ingenieurs, der den Schutzbau gestaltet!) wesentlich angenehmer als die lange Form des Palomar-Tubus. Bei den heute in der Entwicklung befindlichen extrem großen Teleskopen ist die Kompaktheit ein absolut entscheidendes Gestaltungskriterium.

Ansonsten hält sich der Tubus-Entwurf für das VLT noch ziemlich streng an Serruriers im obigen Kasten erläutertes Prinzip: Nabe, Hauptspiegel- und Fangspiegeleinheit sind jeweils durch Serrurier-Stäbe verbunden. Nur die Fangspiegeleinheit ist, abweichend vom Palomar-Teleskop, aus der Schwereebene des Frontrings nach vorne gerückt. Dadurch verwandeln sich die Halteblätter in einen Vierbock (englisch Spider genannt), wie wir ihn von Radioteleskopen gewohnt sind. Diese Lösung stellt eine Abweichung vom Homologieprinzip dar, da sich die Fangspiegeleinheit unvermeidlich verkippt - man kann sich das aber erlauben, da sie mit einer Justiereinrichtung ausgerüstet ist, welche die von der Schwerkraft induzierte Verkippung aktiv ausgleicht. Damit erreicht man eine noch kompaktere Form des Teleskops.


Der Übergang zur Schaukelstuhl-Montierung

Der nächste Schritt auf unserer Reise zu immer größeren Teleskopen soll ein 16-Meter-Teleskop sein - und zwar das Deutsche Groß-Teleskop (DGT), das in den 1980er Jahren von einer Gruppe astronomischer Institute konzipiert wurde. Das DGT wurde leider nie realisiert.

Das Bild rechts oben zeigt ein Modell des DGT. Auffällig ist daran, dass zwar das Kopfteil mit der Fangspiegelaufhängung noch weitgehend den Ideen Serruriers verpflichtet ist, dass aber beim Fußteil ganz andere Wege gegangen wurden: Es hat eine Schaukelstuhl-Montierung. Von der gabelförmigen Alhidade, die beim VLT die Lagerzapfen der Elevations-Achse mit dem Azimutlager verbindet, und die dem Hufeisen des Hale-Teleskops entspricht, wurde beim 16-Meter-DGT deshalb abgewichen, weil sie hier noch viel größer geworden wäre. (Die Alhidade ist in den Skizzen der Grafiken auf den Seiten 51, 52, und hier unten aus Platzgründen nicht dargestellt, aber auf S. 51 oben ist sie am VLT gut erkennbar). Auch die Achslager selbst würden immer größer und stießen an die Grenzen der Herstellbarkeit. Um davon loszukommen, sind beim DGT die Lager nach Art von Schaukelstuhl-Kufen aufgelöst. Dadurch lassen sich auch die Lastpfade, die das Gewicht des Tubus abtragen, minimieren.

Nebenstehende Skizze, die noch aus der Zeit stammt, in der das DGT konzipiert wurde, soll dies erläutern. Das Gewicht des Tubus, in der Skizze durch den Pfeil G dargestellt, wird durch vier Kontaktbereiche in den Viertelspunkten der Lagerlaufbahnen sehr direkt in das Fundament der Azimut-Laufbahn geleitet. Dadurch wird die gesamte Struktur sehr steif und hat gegenüber der klassischen Gabel-Montierung ein unvergleichlich viel besseres Verformungs- und Schwingungsverhalten. Gleichzeitig wird das Gewicht der Konstruktionsteile gesenkt, und dadurch werden beträchtliche Kosten gespart. Die Schaukelstuhl-Montierung ist die optimale Lösung für extrem große optische Teleskope.

Bevor wir den Gestaltungsfragen der extrem großen Teleskope weiter nachgehen, schauen wir uns bei den Amateurastronomen um - und werden auch hier fündig (siehe Bild rechts): Das Dobson-Teleskop, in den 1950er Jahren von John Dobson eingeführt, entspricht genau den hier geschilderten Konstruktionsprinzipien der Schaukelstuhl-Montierung! Bekanntermaßen liefert es durch seine größere Optik Bilder hoher Qualität, aber seine Nachführung ist jener der parallaktisch montierten Amateurteleskope unterlegen. Um diesen Nachteil abzustellen, wird der Aufwand für die Nachführmechanik größer, und das wird auch bei den Schaukelstuhl-Montierungen der Großteleskope der Fall sein.


Strukturgestaltung des E-ELT

Aber nun zum Konzept der SchaukelstuhlMontierung für das E-ELT (siehe nebenstehende Grafik). Das Unterteil dieses Konzepts folgt weitestgehend den für die Schaukelstuhl-Montierung des DGT entwickelten Ideen. Zusätzlich wurden beim Oberteil zugunsten einer größtmöglichen Kompaktheit auch die Prinzipien des Serrurier-Tubus aufgegeben: Der Frontring und die Halteblätter wurden durch eine Vierbeinlösung ersetzt, wie sie bei Radioteleskopen üblich ist. Dadurch ergibt sich für das Ganze eine annähernd kugelförmige Gestalt. Schließlich zeigt der Vergleich mit VLT und Hale-Teleskop in aller Deutlichkeit, wie extrem groß das E-ELT mit seinen 42 Metern Öffnung tatsächlich wird (Bild auf S. 53 unten) - so groß wie ein ausgewachsenes Radioteleskop, aber mit tausendfach genauerer Spiegeloberfläche! Die Anforderungen an die Mechanik erhöhen sich dadurch entsprechend.


Der Bezug zur Brücke

Vergleichen wir die Struktur des E-ELT noch einmal mit dem Tubus des VLT (siehe die Grafiken auf S. 51 und 53 unten), so liegt der Hauptunterschied des neuen Konzepts im Verzicht auf die Nabe. Die Achslager werden durch die Schaukelstuhl-Kufen ersetzt, und die Querverbindung zwischen den Kufen erfolgt durch eine Brücke, die gleichzeitig als Spiegelzelle fungiert (siehe die Grafik rechts oben). Dies führt, wie im obigen Kasten erläutert, zu einem erheblichen strukturmechanischen Vorteil. Eine Überschlagsrechnung zeigt, dass damit etwa ein Drittel des benötigten Stahls gespart wird (beim E-ELT sind das rund 1200 Tonnen!), mit den entsprechenden finanziellen Einsparungen für Fertigung und Montage.


Die »Brücke« im E-ELT

Um die strukturmechanische Funktion der Brücke beim E-ELT zu erkennen, betrachten wir zunächst die hier gezeigte Vorlandbrücke der Eisenbahnbrücke über den Rhein bei Mainz, unter welcher der Autor dieses Beitrags im Laufe seines Berufslebens sehr oft hindurch gefahren ist - die Rheinbrücke war vor 150 Jahren das erste Projekt der Brückenbauanstalt MAN Gustavsburg, wo die berufliche Karriere des Autors vor 35 Jahren ihren Anfang nahm.

Die Vorlandbrücke mag auf den ersten Blick eher hässlich anmuten, aber sie enthält einige statische Finessen, die auch beim E-ELT zur Anwendung gekommen sind. Die Widerlager der Vorlandbrücke sind nämlich geneigt (was man bei genauem Hinsehen auf der rechten Seite des Bildes erkennen kann - siehe die beiden roten Pfeile), um eine Bogenwirkung zu erzeugen. Um zu verstehen, warum das so sein soll, wollen wir die in der unten stehenden Grafik dargestellte Evolution der Balkenbrücke zur Bogenbrücke betrachten.

Bei einer Balkenbrücke (dem Baumstamm unseres Urmenschen) werden die Lasten aus Eigengewicht und Verkehrslast (beim Urmenschen war das der Urmensch selbst, beim E-ELT ist es der Spiegel in seiner Zelle, siehe Grafik rechts) über die Balkenbiegung abgetragen - und zwar durch Druckspannungen im Obergurt und Zugspannungen im Untergurt. Der Holzbalken ist sehr elastisch, und die Durchbiegung ist entsprechend groß. Man kann sie verkleinern, indem man den Balken in der Mitte durch zwei Diagonalen unterstützt (zweites Bild von oben in der Grafik links). Das kann man weitertreiben, indem man die Diagonalen aufspreizt (drittes Bild). Wenn man die Bauhöhe nun etwas reduziert, so entsteht eine elegante Bogenbrücke (unterstes Bild). Wichtig ist, dass man die Richtung des unteren Auflagers an die Richtung des Bogens anpasst. Dadurch entsteht ein ziemlich starker Bogenschub nach außen, der in das Fundament eingeleitet wird, und der die Zugspannungen der Balkenbrücke überdrückt. Die Bogenbrücke ist deshalb viel steifer, weil das Fundament einen Bogenschub leistet (rote Pfeile). Dies ist das Geheimnis der von den alten Römern erfundenen Bogenbrücke: Wir wenden es auf die Brücke und die Schaukelstuhl-Kufen des E-ELT an (Bild oben) und sparen damit 1200 Tonnen Stahl!


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Diese beiden zueinander orthogonalen Ansichten zeigen die Schaukelstuhl-Montierung des E-ELT mit der eingebauten, im Wesentlichen aus der Spiegelzelle bestehenden Brücke. Die roten Pfeile weisen auf die Lastabtragung in den Schaukelstuhl-Kufen.


Strukturoptimierung

Das auf Seite 53 anhand einer Prinzipskizze für das DGT illustrierte Strukturkonzept diente als Ausgangsentwurf für die weitere Strukturoptimierung des E-ELT. Diese erfolgt heutzutage mit dem computergestützten Verfahren der Finite-Elemente-Berechnung, mit dem sich die Strukturverformungen (die Statik) und das elastische Schwingungsverhalten (die Dynamik) der entworfenen Struktur be rechnen und die Strukturdetails mit computergestützten Optimierungsalgorithmen weiter verfeinern lassen. Dies sind raffinierte Methoden, die den Gestaltern der Teleskope vor der Zeit, als die VLTs konstruiert wurden, noch nicht zur Verfügung standen. Die Erfahrung zeigt aber, dass die endgültige Konstruktion nur so gut ist wie der Entwurf, von dem die computergestützte Optimierung ausgegangen ist. Ein bisschen Ehrgeiz und Stolz bleibt für den Strukturgestalter doch noch übrig! Am Ende der rechnergestützten Strukturoptimierung (computer-aided design, CAD) steht schließlich ein dreidimensionales Modell des gesamten Teleskops, das alle Bauelemente in ihren geometrischen Ab messungen darstellt und Ausgangspunkt für die Fertigungsplanung der Bauteile ist. (siehe Bild auf S. 45)

Nun muss man sich natürlich im Klaren sein, dass das Teleskop nicht nur aus Struktur besteht. Es kommen noch die adaptive Optik und die zugehörige Regelungstechnik hinzu - hochkomplexe Systeme, auf die wir hier nicht eingegangen sind. Und die Detektoren, die letztlich die nach Millionen bis Milliarden Jahre langer Reise im Teleskop ankommenden Photonen nachweisen, sind das eigentliche revolutionäre Herz der neuen Teleskope. Aber die Teleskopstruktur ist gewissermaßen das Rückgrat all dieser Systeme: Sie hat zwar traditionsgemäß nicht deren Ansehen, aber ohne ihre rasante Entwicklung während der letzten Jahrzehnte wären die heutigen Riesenteleskope undenkbar. Auch die Bedeutung des Schutzgebäudes und der Infrastruktur ist nicht zu unterschätzen.


Schlussbetrachtung

Wir haben mit einem historischen Überblick über die Entwicklung der Teleskope aus der Sicht der Mechanik begonnen und sind bei dem Konzept des heute in der Planung befindlichen extrem großen Teleskops, des E-ELT, gelandet.

Nun stellen sich zwei Fragen - erstens: Wie gut wird der vorgeschlagene Entwurf sein, und wird sich das Teleskop bewähren? Die Antwort wollen wir der Zukunft überlassen. Und zweitens: Wir haben 400 Jahre überschaut - wie wird es einmal weitergehen? Was wird in 100 Jahren sein? Auch darauf möchte ich keine Antwort geben. Die Entwicklung der letzten 20 bis 30 Jahre war so gewaltig, insbesondere durch das Aufkommen der Digitaltechnik, mit deren Siegeszug vor 20 Jahren noch niemand gerechnet hatte, dass sich ein ernsthaftes Vorausschauen auf die nächsten 20 Jahre verbietet.

Eins ist aber vermutlich wahr: Dass die Größenentwicklung der Teleskope so rasant weitergehen wird wie in den letzten 20 Jahren, ist eher unwahrscheinlich. Das legt der Strukturmechanik, die wir hier geschildert haben, eine gewisse Bescheidenheit auf. Für die Strukturmechaniker war der »Größenwahn« der Astronomen sicherlich schön und aufregend, jedoch werden sie sich in Zukunft wieder mit (relativ) »klein aber fein« abfinden müssen. Oder ein Teleskop auf der Rückseite des Mondes, das wäre für einen Teleskop-Ingenieur auch eine schöne Herausforderung - die Aufgaben stellen aber die Astronomen!


Hans Jürgen Kärcher war als Systemingenieur für Teleskope bei MAN Gustavsburg (jetzt MT Mechatronics) unter vielen anderen Projekten maßgeblich am Entwurf und Bau des großen Millimeterwellenteleskops GMT/LMT in Mexiko und des Flugzeugteleskops SOFIA beteiligt. Seit 2006 ist er für Forschungs- und Entwicklungsprogramme bei MT Mechatronics in Mainz zuständig.


Literaturhinweise

Arndt, J.: Sechs Bücher vom wahren Christentum, 2. Auflage, Erfurt 1746.

Hastings, Ch.: The History of the Telescope, 1891. In: Essays in Astronomy. University Press of the Pacific, Honolulu, Hawaii 2002.

Hevelius, J.: Machinae Coelestis pars prior, Danzig 1673.

Newcomb-Engelmann: Populäre Astronomie, Leipzig 1892.

Repsold, J.A.: Zur Geschichte der astronomischen Messwerkzeuge, Leipzig 1908.

King, H.C.: The History of the Telescope, Dover 1979.

Florence, R.: The Perfect Machine - Building the Palomar Telescope, New York 1994.

Wilson, R.N.: Reflecting Telescope Optics, Springer 2000.

Scaife, G.W.: From Galaxies to Turbines, Philadelphia 2000.

Sterne und Weltraum Special 3/2003: Europas neue Teleskope.


Weblinks zum Thema: www.astronomie-heute.de/artikel/1046978



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w i s - wissenschaft in die schulen

Mit dem Begriff »Fernrohr« assoziieren wir unwillkürlich das optische System dieses Instruments - und vergessen meist, dass ohne Kenntnisse aus Mechanik, Materialwissenschaft, Elektronik und Quantenphysik ein solch komplexes Gerät heute nicht realisierbar wäre. Anhand der Geschichte des Teleskops, des Auf und Ab verschiedener Technologien für den Fernrohrbau, lässt sich dies sogar anschaulich nachvollziehen.

Mit Hilfe der didaktischen Materialien, die hierzu auf unserer Internetseite www.wissenschaft-schulen.de zur freien Verfügung stehen, können die Schüler selbst mit den Inhalten dieses Beitrags arbeiten. Unser Schulprojekt führen wir in Zusammenarbeit mit der Landesakademie für Lehrerfortbildung in Bad Wildbad und dem Haus der Astronomie in Heidelberg durch.


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 45:
Das gegenwärtig »größte« Teleskop ist das in der Planung befindliche E-ELT. Der strukturmechanische Durchbruch, der seine Konstruktion möglich machte, geschah in enger Anlehnung an die von den alten Römern erfundene Bogenbrücke (vergleiche S. 54). Diese virtuelle Darstellung seiner mechanischen Komponenten ist das Ergebnis rechnergestützter Strukturoptimierung - sie dient als Ausgangspunkt für die Fertigung der Einzelteile des Teleskops und seiner Montierung.

Abb. S. 46 oben:
So oder ähnlich könnte Galileis Teleskop ausgesehen haben. Zu erkennen sind so wichtige Komponenten wie der Tubus, zwei Abdeckklappen für Objektiv und Okular, und der Beobachter, angedeutet durch das Auge; die Linsen selbst sind gar nicht zu sehen. Besonders eindrucksvoll ist die Montierung dargestellt: Mit den getrennten Vorrichtungen für die beiden Achsen - Elevation, oder Höhe über dem Horizont, und Azimut - dient sie der Ausrichtung des Teleskops.

Abb. S. 46 unten:
Die Sternwarte des Johannes Hevelius in Danzig bestand aus einer Plattform, die sich über drei Häuserfirste erstreckte. Sein größtes Instrument, der 1642 gebaute Refraktor, hatte etwa 12 Meter Brennweite.

Abb. S. 47 oben:
Den mit 30 Metern längsten Refraktor der ersten »Baureihe« konstruierte Francesco Bianchini 1728 in Rom.

Abb. S. 47 unten:
Wilhelm Herschel konstruierte 1770 in Bath, England, diesen Reflektor mit 1,22 Meter Öffnung. Das Teleskop ist ein »Front-viewer«: Der Beobachter turnte auf der rechts unter der Öffnung des Teleskops erkennbaren Plattform, die zusammen mit dem Teleskop per Flaschenzug in Elevation bewegt wurde. Die gesamte Struktur war im Azimut drehbar.

Abb. S. 48:
Johann Hieronymus Schröter baute 1794 dieses Großteleskop in Lilienthal bei Bremen.

Abb. S. 49 oben:
Der sagenhafte »Leviathan« des Earl of Rosse im irischen Parsonstown ging 1845 mit seinem 1,8 Meter großen Bronzespiegel in Betrieb und blieb bis 1917 das größte Teleskop der Welt.

Abb. S. 49 unten:
Dieser getreue Nachbau von Fraunhofers Dorpater Refraktor steht in Washington, DC.

Abb. S. 51 oben:
Dieses Bild eines der vier Teleskope des ESO-VLT wurde in der Montagehalle des Mailänder Herstellers Ansaldo aufgenommen. Gut zu erkennen ist das blaue, als Alhidade bezeichnete, gabelartige Gestell. Es trägt das Teleskop und dreht sich als Ganzes um die Azimut-Achse.

Abb. S. 51 unten:
Proportionen- und Größenvergleich zwischen dem Fünf-Meter-Hale-Teleskop auf Mount Palomar und einem der vier Acht-Meter-Teleskope des VLT.

Abb. S. 53 oben:
Dieses Modell des DGT entstand 1985 in Göttingen: Hier hat sich die gabelförmige Alhidade erstmals in eine Schaukelstuhl-Montierung verwandelt. (Das gelbe Gestell war zur Auflagerung des Winkelgebers gedacht und hat keinerlei strukturdynamische Funktion.)

Abb. S. 53 Mitte links:
Diese für das DGT entworfene Prinzipskizze zeigt den Verlauf der Lastabtragung bei der Schaukelstuhl-Montierung. Mit G ist das Gewicht des Teleskoptubus bezeichnet.

Abb. S. 53 Mitte rechts:
Bei Amateurastronomen höchst beliebt: das klassische Dobson-Teleskop mit Schaukelstuhl-Montierung - wie beim DGT und beim E-ELT!

Abb. S. 53 unten:
Oben: zwei orthogonale Ansichten des E-ELT mit seiner Schaukelstuhl-Montierung. Darunter sind das Acht-Meter-VLT, das Fünf-Meter-Hale-Teleskop, und ein erwachsener Mensch im gleichen Maßstab dargestellt.


© 2010 Hans Jürgen Kärcher, Spektrum der Wissenschaft
Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
Sterne und Weltraum 11/10 - November 2010, Seite 44-55
Zeitschrift für Astronomie
Herausgeber:
Prof. Dr. Matthias Bartelmann (ZAH, Univ. Heidelberg),
Prof. Dr. Thomas Henning (MPI für Astronomie),
Dr. Jakob Staude
Redaktion Sterne und Weltraum:
Max-Planck-Institut für Astronomie
Königstuhl 17, 69117 Heidelberg
Telefon: 06221/52 80, Fax: 06221/52 82 46
Verlag: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Slevogtstraße 3-5, 69117 Heidelberg
Tel.: 06221/9126 600, Fax: 06221/9126 751
Internet: www.astronomie-heute.de

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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Dezember 2010