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SONNE/097: Unruhe im Ruhestandard - die Eigenbewegung der Sonne (Sterne und Weltraum)


Sterne und Weltraum 8/10 - August 2010
Zeitschrift für Astronomie

Unruhe im Ruhestandard - die Eigenbewegung der Sonne

Von Ralph Schönrich


Eine alte Frage der modernen Astronomie ist die nach der Eigenbewegung der Sonne relativ zu den Sternen ihrer Umgebung im Milchstraßensystem. Jetzt stellt sich heraus, dass die Bewegung der Sterne stark mit ihrer chemischen Zusammensetzung korreliert ist. Wird dies berücksichtigt, so ergibt sich ein um zwanzig Grad am Himmel verschobener Fluchtpunkt der Sonnenbewegung.


Wie die anderen Sterne der galaktischen Scheibe bewegt sich auch unsere Sonne um das Zentrum des Milchstraßensystems nicht auf einer perfekten Kreisbahn. Diese ideale Bewegung bezeichnen die Astronomen als lokalen Ruhestandard. Vielmehr oszilliert die Sonne um diese Idealbahn mit einer erheblichen Eigenbewegung. Den Fluchtpunkt der Sonnenbewegung gegenüber dem lokalen Ruhestandard, Sonnenapex genannt, bestimmte zum ersten Mal der Astronom Wilhelm Herschel im Jahr 1783.

Die Ermittlung der Eigenbewegung der Sonne ist keine einfache Aufgabe. Das Problem lässt sich mit der Situation einer Person im schwingenden Sitz eines Kettenkarussells vergleichen. Sie sieht nur ihre direkte Nachbarschaft und will aus den relativen Bewegungen der Nachbarn ihre eigene Schwingbewegung ableiten.

Naiv könnte man nun annehmen, dass sich das Problem auf die Bestimmung des Mittelwerts der heliozentrischen Bewegung möglichst vieler Sterne, also die Messung ihrer Bewegung relativ zur Sonne, reduzieren ließe. Tatsächlich funktioniert dies für die Geschwindigkeitskomponenten vertikal zur Ebene der galaktischen Scheibe W und in radialer Richtung U, wenn man von Unsicherheiten durch Sternströme absieht (siehe Grafik oben).

Sehr früh stellte man aber fest, dass sich die Geschwindigkeitsverteilung in Rotationsrichtung V um das Zentrum der Galaxis nicht so einfach verstehen lässt. Hier spielt die Drehimpulserhaltung eine wesentliche Rolle. Nehmen wir eine mit konstanter Umlaufgeschwindigkeit rotierende Scheibe an, so muss ein Stern, dessen Drehimpuls einer Kreisbahn innerhalb der Sonnenbahn entspricht, in unserer Nachbarschaft eine geringere Umlaufgeschwindigkeit aufweisen. Andererseits bewegt sich ein Stern, der von außen kommt, in Umlaufrichtung deutlich schneller.

Drei Effekte brechen im Wesentlichen die Symmetrie in der Geschwindigkeitskomponente V der Nachbarsterne bezüglich jener der Sonne, zu deren Verständnis der schwedische Astronom Bertil Lindblad (1895-1965) maßgebliche Beiträge lieferte: (1) Zum Außenbereich der Scheibe hin fällt die Sterndichte stark ab und zugleich (2) reduziert sich die Geschwindigkeitsdispersion, beziehungsweise die Energie, die den Sternen für Oszillationen im Radius (dem Abstand zum Milchstraßenzentrum) und damit in unsere Nachbarschaft hinein zur Verfügung steht. Die Geschwindigkeitsdispersion beschreibt die Streuung der Sterngeschwindigkeiten; die kinetische Energie eines Sterns wächst mit dem Quadrat seiner Geschwindigkeit. Schließlich verläuft (3) das effektive Gravitationspotenzial der Galaxis am Ort der Sonne nicht symmetrisch, denn es ist nach außen hin flacher als nach innen. Dadurch halten sich Sterne längere Zeit außerhalb der entsprechenden Kreisbahn auf als innerhalb.


Asymmetrische Drift

Alle diese Effekte kommen mit wachsender Geschwindigkeitsdispersion stärker zur Geltung. Das lässt sich wieder mit einer Analogie verstehen: Ähnlich wie ein erwärmtes Stück Eisen, dessen Atome durch die Wärme stärker zittern, dehnt sich die Galaxis aufgrund der Geschwindigkeitsdispersion aus - in unserem Fall in der Größenordnung von zehn Prozent. Und wie bei einer Eistänzerin, welche die Arme ausstreckt, verlangsamt sich die durchschnittliche Rotationsgeschwindigkeit der Sterne. Diese Differenz zur idealen Kreisbewegung wird als asymmetrische Drift bezeichnet.

Würde eine dispersionsfreie Population existieren, also eine Gruppe von jungen Sternen, die das galaktische Zentrum noch auf perfekten Kreisbahnen umrundet, dann ließe sich dieses Problem umgehen. Jedoch werden auch junge Sterne schon mit einer signifikanten Geschwindigkeitsdispersion geboren. Diese wächst mit zunehmendem Sternalter, verbunden mit der gerade beschriebenen asymmetrischen Drift.

Mit Hilfe der Jeans-Gleichungen, die das dynamische Verhalten der Sterne im Milchstraßensystem beschreiben, lässt sich ein konstantes Verhältnis zwischen der asymmetrischen Drift und der quadrierten Geschwindigkeitsdispersion im langfristigen Gleichgewicht herleiten: diese »Strömberg-Beziehung« ist nach dem in die USA ausgewanderten schwedischen Astronomen Gustaf Benjamin Strömberg (1882-1962) benannt. Kann man die Sterne in Gruppen unterschiedlicher Dispersion unterteilen, so lässt sich damit durch Extrapolation zum dispersionsfreien Fall die gesuchte Rotationsgeschwindigkeit auf einer idealen Kreisbahn bestimmen.

Strömberg legte dazu im Jahr 1946 den Grundstein, indem er die Kinematik von Sternpopulationen mit unterschiedlichen Spektralfarben untersuchte. Dieses Verfahren beruht darauf, dass nur junge massereiche Sterne auf der Hauptreihe im Hertzsprung-Russell-Diagramm eine heiße und damit bläuliche Oberfläche haben können, während sich die Farbe bei alten Sternen ins Rote verschiebt. Alternativ kann man auch sagen, dass sich der Abknickpunkt, also der Punkt, bei dem die massereicheren Sterne bereits die Hauptreihe verlassen haben und sich zu roten Riesen entwickeln, mit wachsendem Alter zu roten Farben hin verschiebt. Von blau nach rot wählt man also zunehmend ältere Sternpopulationen aus und erhält damit auch ein erhebliches Anwachsen von Geschwindigkeitsdispersion und asymmetrischer Drift.

18 Jahre nach Strömberg zeigte im Jahr 1964 der französische Astronom Jean Delhaye (1921-2001), dass die jüngsten Sterne von der aus den älteren Objekten gewonnenen Relation abweichen: Sie weisen eine für ihre Dispersion zu geringe asymmetrische Drift auf und produzierten einen Knick in der linearen Strömberg-Beziehung. Entsprechend der Anteile an jungen und alten Sternen in der verwendeten Stichprobe variierten damit auch die Schätzungen für die Eigenbewegung der Sonne. Die Kontroverse, welcher Sternpopulation der Vorzug gegeben werden sollte, schien nach Analyse der Hipparcos-Daten entschieden: Walter Dehnen und James Binney wiesen im Jahr 1998 die Existenz einer fast perfekten linearen Beziehung zwischen asymmetrischer Drift und Geschwindigkeitsdispersion bei roten Sternen und damit die Gültigkeit der Strömberg-Gleichung nach. Nachfolgende Studien bestätigten dieses Ergebnis: Michael Aumer und James Binney präzisierten im Jahr 2009 den Wert für V nochmals auf nunmehr 5,25 ± 0,54 Kilometer pro Sekunde. Allerdings wich diese Angabe deutlich von Messungen in jungen galaktischen Sternentstehungsgebieten ab, die auf einen höheren Wert hinwiesen.


Kinematische und chemische Evolution

Eine überraschende Wendung ergab sich nun in einer von James Binney (Oxford), Walter Dehnen (Leicester) und dem Autor (Max-Planck-Institut für Astrophysik, Garching) geführten Studie. Aktuelle Modelle der Galaxis kombinieren die kinematische und die chemische Evolution der Sternpopulationen und ermöglichen so eine konsistente Modellierung des Auswahl- und Messprozesses. Damit simulierten wir die Unterteilung des Datensatzes in verschiedene Farbgruppen. Dabei erwies sich die Erwartung einer einfachen Beziehung zwischen Farbe B-V und Geschwindigkeitsdispersion, beziehungsweise asymmetrischer Drift, als nicht gerechtfertigt: Im Farben-Helligkeitsdiagramm zeigte sich eine intensive Substruktur, die vor allem den Metallizitätsunterschieden der Sterne entspricht (siehe Grafik). Die Metallizität gibt den Anteil von chemischen Elementen schwerer als Helium in den Sternen an.

Unser Milchstraßensystem weist einen ausgeprägten Metallizitätsgradienten auf: der Metallgehalt der Sterne steigt zum Zentrum hin an. Dort ist auch die Geschwindigkeitsdispersion höher, sodass Sterne mit hohem Metallgehalt eine höhere Dispersion und wegen ihrer Konzentration zum galaktischen Zentrum hin eine dazu nochmals überhöhte asymmetrische Drift aufweisen. Diese Überhöhung gegenüber der normalen asymmetrischen Drift bricht die Strömberg-Beziehung. Sterne folgen also keiner ein heitlichen Strömberg-Beziehung mehr, denn ihr kinematisches Verhalten wird plötzlich abhängig von ihrer Herkunft.

Das lässt sich einfach verstehen: Betrachten wir beispielsweise eine metallarme Population der äußeren Scheibe, so halten sich ihre Mitglieder vor allem außerhalb des Radius der Sonnenbahn auf. Sie besuchen uns vor allem von außen kommend, rotieren also schnell. Umgekehrt besuchen metallreiche Sterne die Sonnenumgebung vor allem von innen kommend. Mit dem Einfluss der Metallizität auf die Farbe wird auch plötzlich der in den Hipparcos-Daten gefundene Knick hin zu höheren Driftwerten bei geringerer Geschwindigkeitsdispersion der jungen blauen Sterne verständlich (siehe Weblinks).

Der so genannte Abknickpunkt markiert im Farben-Helligkeitsdiagramm das Fehlen von Hauptreihensternen größerer Masse in einer gleichalten Population. Da massereiche Sterne schneller altern, bewegen sie sich früher von der Hauptreihe weg. Deshalb lässt sich anhand der Lage des Abknickpunkts einer Sterngruppe auf deren Alter schließen. Die Hauptreihe wird im Laufe der Zeit immer kürzer, weil immer mehr Sterne von ihr abwandern.

Die Hauptreihe in der Grafik auf S. 25 oben und die Abknickpunkte metallarmer Populationen - wegen der Altersverteilung ist das eine ganze Region rechts der Hauptreihe (siehe den umpunkteten Bereich) - sind zu kleineren (B-V)-Werten verschoben. Die gelblich kodierte Region rechts der Hauptreihe zieht sich bis zum Horizontalast hoch. Dort dominieren die Sterne der Abknickpunkte der metallreicheren Populationen. Dies überlagert den Alterseffekt, so dass bei blauen Sternfarben zu nächst Sterne der äußeren Scheibe des Milchstraßensystems dominieren und die asymmetrische Drift bei moderat wachsender Geschwindigkeitsdispersion klein halten. Zu röteren Sternfarben hin wächst der Einfluss der metallreichen Sterne der inneren Scheibe, die in diesem Übergang die asymmetrische Drift stark anheben. In der Grafik auf S. 25 oben sind das die rötlich kodierten Bereiche auf der rechten Seite der Grafik.

Trifft die Modellrechnung zu, die den Knick der Strömberg-Beziehung beschreibt, dann gaukelt uns die Natur bei den roten Sternen eine viel zu steile lineare Relation vor, die zu einer Unterschätzung der solaren V-Komponente um rund sieben Kilometer pro Sekunde führt. Selbst in Abwesenheit des allgemein akzeptierten Metallizitätsgradienten würde eine Konzentration älterer Sterne in der inneren Scheibe einen ähnlichen Fehler erzeugen.

Glücklicherweise lässt sich alternativ ohne Benutzung der Strömberg-Beziehung eine robuste Schätzung der solaren Bewegung direkt aus der Geschwindigkeitsverteilung unserer Nachbarsterne gewinnen. Dazu bestimmten wir die Verschiebung zwischen der aus unserem Modell abgeleiteten Geschwindigkeitsverteilung und den Messdaten. Unser Modell und vereinfachte kinematische Modelle legen gleichermaßen eine Anhebung der solaren Pekuliargeschwindigkeit in Rotationsrichtung von rund fünf auf rund zwölf Kilometer pro Sekunde nahe. Wir favorisieren damit einen Wert der Geschwindigkeit der Sonne von (U; V; W) = (11,1; 12,24; 7,25) Kilometern pro Sekunde bei einer Unsicherheit von rund (1; 2; 0,5) Kilometern pro Sekunde. Damit erhöht sich die geschätzte Gesamtgeschwindigkeit in Richtung auf den Sonnenapex von 13 auf 18 Kilometer pro Sekunde und die Position des Apex verschiebt sich um mehr als 20 Grad am Himmel zur galaktischen Länge λ = 47,8 Grad, also deutlich stärker in Rotationsrichtung, und zur galaktischen Breite β = 23,7 Grad, etwas mehr in die Scheibenebene (siehe Grafik auf S. 25 unten). Einen guten Ausgang hat das Ganze: Die variable Steigung der Strömberg-Beziehung zwischen asymmetrischer Drift und Geschwindigkeitsdispersion bietet sich als ausgezeichnetes Unterscheidungsmerkmal für Sternpopulationen an.


Weblinks zum Thema: www.astronomie-heute.de/artikel/1038254


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 24:
Astronomen messen die Geschwindigkeitskomponenten der Pekuliarbewegung der Sonne im lokalen Koordinatensystem U, V und W. Die Komponente V zeigt in Richtung der idealen Kreisbahn um das Zentrum der Galaxis, U weist zum Zentrum hin und W in die Richtung senkrecht zur galaktischen Scheibe. Der rote Pfeil zeigt zum neu bestimmten Apex, dem Fluchtpunkt der Sonnenbewegung.

Abb. S. 25 oben:
In diesem Farben-Helligkeits-Diagramm ist die durchschnittliche, mit dem Modell der Autoren bestimmte Eigenbewegung von Sternen nahe der Hauptreihe in Rotationsrichtung der Galaxis farblich kodiert: Rot kodierte Sterne rotieren langsamer um das galaktische Zentrum, sie haben eine größere asymmetrische Drift. Die blau kodierten, schneller umlaufenden metallarmen Sterne der Hauptreihe sind klar erkennbar. Rechts der Hauptreihe schließen sich die metallreicheren Sternpopulationen an. Am unteren Rand befinden sich einige sehr alte und metallarme Unterzwerge. Auch der Horizontalast mit sehr hellen Sternen in einem späten Entwicklungsstadium ist in leicht gelber Schattierung zu erkennen.

Abb. S. 25 unten:
Der Sonnenapex bei α = 17h48m, δ = +23°06'liegt gegenüber dem alten Wert aus den Hipparcos-Daten von 1998 um rund zwanzig Grad weiter nordöstlich, aber nach wie vor im Sternbild Herkules.


© 2010 Ralph Schönrich, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
Sterne und Weltraum 8/10 - August 2010, Seite 24 - 26
Zeitschrift für Astronomie
Herausgeber:
Prof. Dr. Matthias Bartelmann (ZAH, Univ. Heidelberg),
Prof. Dr. Thomas Henning (MPI für Astronomie),
Dr. Jakob Staude
Redaktion Sterne und Weltraum:
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Internet: www.astronomie-heute.de

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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. September 2010