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FORSCHUNG/1159: Überleben unter Druck - Wie sich Zellen mechanischem Stress anpassen (idw)


Christian-Albrechts-Universität zu Kiel - 19.12.2019

Überleben unter Druck: Wie sich Zellen mechanischem Stress anpassen

Volkswagenstiftung fördert internationales Forschungsprojekt an der Schnittstelle von Zellbiologie, Evolution und Materialwissenschaft mit 1,5 Millionen Euro


Das Leben auf der Erde begann mit einzelligen Organismen. Vor etwa 600 Millionen Jahren entstanden die ersten Mehrzeller und damit die Grundlage für die Vielfalt unserer heutigen Lebensformen von Pflanzen und Tieren. Was diesen Übergang von Ein- zu Mehrzellern ermöglicht hat, ist bislang jedoch noch weitestgehend ungeklärt. Bisher kaum untersucht wurde der Einfluss von mechanischen Kräften: Mehrzeller sind deutlich höheren Belastungen ausgesetzt als Einzeller. Wie Zellen im Laufe der Evolution gelernt haben, sich mechanischem Stress anzupassen, um keinen Schaden zu nehmen, untersucht ein Forschungsprojekt von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU), der Westfälische Wilhelms-Universität Münster (WWU) und der Cornell University, USA. Mit der Entschlüsselung dieses Grundprinzips des Lebens erhofft sich das Forschungsteam auch neue Erkenntnisse über Erkrankungen. Die Volkswagenstiftung fördert das interdisziplinäre Vorhaben an der Schnittstelle von Zellbiologie, Evolution und Materialwissenschaft mit 1,5 Millionen Euro in den kommenden fünf Jahren.


Wie mechanische Kräfte auf Zellen wirken

Jedes Mal, wenn wir etwas anheben oder uns bewegen, beanspruchen wir unsere Muskeln. Sie entwickeln enorme mechanische Kräfte, die auch auf die Zellen innerhalb des Muskelgewebe wirken. Auch bei Krankheiten spielt der mechanische Druck auf Zellen eine Rolle: Genetische Mutationen, die die mechanische Belastbarkeit von Zellen verändern, können zum Beispiel zu Muskelschwäche (Muskeldystrophie) und Herzkrankheiten führen.

Dass Zellen auf mechanische Einflüsse reagieren, ist in der Forschung nichts Neues. An der Schnittstelle von Biologie und Ingenieurwissenschaften untersucht die Mechanobiologie mechanische Eigenschaften von Zellen und die dort wirkenden physikalischen Kräfte. Um keinen Schaden zu nehmen, passen sich Zellen geänderten Bedingungen an und verstärken zum Beispiel ihre Haftung auf einer Oberfläche. Welche molekularen Mechanismen dahinterstecken, ist bisher allerdings kaum verstanden. Neue Erkenntnisse erhoffen sich die Partner des gerade gestarteten Forschungsprojekts "Surviving under pressure: Adaption to mechanical forces as a key step in the evolution of multicellular life" von der Betrachtung der Evolution als treibende Kraft hinter diesen Prozessen.

Mechanobiologische Anpassungsprozesse: Zentraler Entwicklungsschritt für mehrzelliges Leben?

"Wir vermuten, dass mehrzellige Lebewesen während des Übergangs vom Einzeller spezielle Strukturen an der Zelloberfläche und am Zellkern entwickelt haben, die ihnen das Überleben unter mechanischem Druck ermöglichten", beschreibt Projektkoordinatorin Christine Selhuber-Unkel, CAU-Professorin am Institut für Materialwissenschaft, eine Kernhypothese des Projekts. Das Forschungsteam hofft, solche mechanischen Anpassungsprozesse als einen zentralen Entwicklungsschritt für mehrzelliges Leben nachweisen zu können. "Spezielle Methoden für einen solchen Nachweis gibt es allerdings noch nicht. Diese Lücke zu schließen und eigene Technologien zu entwickeln, ist ein zentraler Teil des Projektes", sagt Carsten Grashoff, Professor für Quantitative Zellbiologie an der WWU Münster. Dazu will das Team zellbiologische, biophysikalische und materialwissenschaftliche Verfahren kombinieren. Neben den möglicherweise im Laufe der Evolution entstandenen zellulären Anpassungsstrategien interessiert sie außerdem, wie sich die mechanischen Kräfte in Ein- und Mehrzellern unterscheiden und wie sie von der Oberfläche der Zelle an ihren Kern weitergegeben werden.

Evolution "vor- und zurückspulen"

Selhuber-Unkel will im Rahmen des Projektes an der CAU Zellumgebungen aus speziellen Materialien künstlich nachbilden. Mit ihnen soll es möglich sein, gezielt mechanische Kräfte auf Zellen auszuüben. Biophysiker Grashoff arbeitet an der WWU Münster an Mikroskopiemethoden, um diese Kräfte auf molekularer Ebene zu messen. Jan Lammerding, Professor für zelluläre Mechanobiologie an der US-amerikanischen Cornell University, entwickelt fluoreszierende "Reporter"-Zellen, die mechanische Schäden im Zellgewebe anzeigen können.

Anschließend will das Forschungsteam Schutzstrukturen in Einzellern genetisch aktivieren bzw. in Mehrzellern deaktivieren und die jeweiligen Auswirkungen auf die mechanische Belastung der Zellen beobachten. "Indem wir die Evolution auf diese Weise 'vor- und zurückspulen', erhoffen wir uns experimentelle Belege für den Einfluss mechanischer Anpassungsstrategien auf die Entwicklung mehrzelligen Lebens", sagt Lammerding.

Neues Forschungsfeld vorantreiben

Mit seinem Projekt erhofft sich das interdisziplinäre Forschungsteam außerdem, einen Beitrag zum Verständnis der Entwicklung mehrzelliger Organismen generell zu leisten. "Mechanische Aspekte in die Evolutionsforschung einzubringen, ist völlig neu. Mit diesem Projekt wollen wir auch ein neues Forschungsfeld vorantreiben und die strategisch wichtigen Netzwerke dafür aufbauen", so Selhuber. Dabei wollen sie auch mit Evolutionsbiologinnen und -biologen des Forschungsverbundes "Kiel Evolution Center" (KEC) an der CAU kooperieren. In rund zwei Jahren ist ein erstes Symposion geplant, um Wissenschaftlerlinnen und Wissenschaftler verschiedener Disziplinen zusammenzubringen und den Austausch an der Schnittstelle von Mechanobiologie und Evolution zu stärken.

Die Förderinitiative "Leben? - Ein neuer Blick der Naturwissenschaften auf die grundlegenden Prinzipien des Lebens" der Volkswagenstiftung fördert innovative Vorhaben an der Schnittstelle zwischen Natur- und Lebenswissenschaften, die fundamentale Prinzipien des Lebens besser verstehen wollen.


Details, die nur Millionstel Millimeter groß sind: Damit beschäftigt sich der Forschungsschwerpunkt »Nanowissenschaften und Oberflächenforschung« (Kiel Nano, Surface and Interface Science - KiNSIS) an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU). Im Nanokosmos herrschen andere, nämlich quantenphysikalische, Gesetze als in der makroskopischen Welt. Durch eine intensive interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Physik, Chemie, Ingenieurwissenschaften und Life Sciences zielt der Schwerpunkt darauf ab, die Systeme in dieser Dimension zu verstehen und die Erkenntnisse anwendungsbezogen umzusetzen. Molekulare Maschinen, neuartige Sensoren, bionische Materialien, Quantencomputer, fortschrittliche Therapien und vieles mehr können daraus entstehen.

Mehr Informationen auf
www.kinsis.uni-kiel.de

Weitere Informationen unter: https://www.uni-kiel.de/de/detailansicht/news/411-mehrzeller

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution235

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, 19.12.2019
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Dezember 2019

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