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FORSCHUNG/734: Neurowissenschaften - Zeitreisen, nicht nur Science-Fiction (RUBIN)


RUBIN - Wissenschaftsmagazin, Sonderheft 10/2010 - Junge Forschung
Ruhr-Universität Bochum

Hirnforscher untersuchen Gedankenwanderungen in Vergangenheit und Zukunft
Zeitreisen - nicht nur Science-Fiction

Von Julia Weiler


Ein Moment der Abwesenheit, ein Lidschlag und das Bild einer fremden Stadt erscheint. Silbrige Gebäude ragen in den sternenklaren Himmel, so hoch, dass ihre Spitze mit bloßem Auge kaum auszumachen ist. In mehreren Etagen reihen sich solarbetriebene Fluggleiter in den ewig summenden Verkehr ein. Um in Sekundenschnelle an diesen Ort der Zukunft zu gelangen, braucht es weder neue Naturgesetze noch Science-Fiction. Unser Gehirn kennt keine Grenzen für Zeitreisen und kann uns in einem Augenblick Bilder aus unserer Vergangenheit oder unserer potentiellen Zukunft vor Augen führen.


Nicht nur in Momenten der Gedankenlosigkeit erscheinen Szenen aus einer anderen Zeit vor unserem inneren Auge, Menschen können ihre Gedanken auch willentlich in die Zukunft oder die Vergangenheit wandern lassen. Subjektiv ist uns dabei meistens klar, was Erinnerung und was Zukunftsvision ist. Schon lange beschäftigen sich Neurowissenschaftler mit mentalen Zeitreisen in die Vergangenheit, doch erst seit kurzem richtet sich das Interesse auch auf die Simulation der Zukunft. Viele Studien haben in den letzten Jahren gezeigt, dass beim Zeitreisen in beide Richtungen ein ähnliches Netzwerk an Hirnarealen aktiv wird (Abb. 2) und dass wir unsere Erinnerung benutzen, um die Zukunft vorherzusagen. Aber wie bewerkstelligt das Gehirn die Unterscheidung der beiden Zeitrichtungen, wenn beide Prozesse mit ähnlichen Hirnaktivierungen einhergehen? Im Institut für Kognitive Neurowissenschaft (s. info 1) gehen wir genau dieser Frage nach und suchen Unterschiede zwischen den Hirnaktivierungen für mentale Zeitreisen in Zukunft und Vergangenheit. Hierfür verwenden wir die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT, s. Info 2) und die Elektroenzephalographie (EEG, s. Info 3).

Für unsere Untersuchungen bitten wir Probanden, sich zu Stichworten Ereignisse auszudenken und so lebendig wie möglich vorzustellen, während wir ihre Hirnaktivierung verfolgen. Achtzehn Teilnehmer haben sich kurz vor Weihnachten während einer Kernspinuntersuchung insgesamt 30 Ereignisse vorgestellt, die sie in den kommenden Feiertagen erleben könnten. Kurz nach Weihnachten haben die gleichen Personen sich während einer zweiten fMRT-Untersuchung an 30 Ereignisse erinnert, die während der Feiertage stattgefunden hatten. Auf diese Weise reisten unsere Probanden sowohl vorwärts als auch rückwärts durch die Zeit zu demselben Ereignis (Abb. 2). Mit diesem neuen Versuchsdesign konnten wir den Inhalt der Erinnerungen und Vorstellungen, anders als in vorherigen Studien, sehr ähnlich halten. "Es war gar nicht so einfach, sich so viele Weihnachtsgeschichten einfallen zu lassen, vor allem weil es keine Traditionen sein durften", resümiert eine Teilnehmerin.

Bei einem Vergleich der Aktivierungsmuster für Erinnerungen und Zukunftsgedanken fanden wir eine Reihe von Unterschieden. Im hinteren Bereich des Gehirns, der Informationen des Sehsinns verarbeitet, waren mehrere Areale stärker während der Zeitreisen in die Vergangenheit als in die Zukunft aktiv (Abb. 4). Erinnerungen scheinen zu einer erneuten Aktivierung der Hirnregionen zu führen, die während des eigentlichen Erlebens eines Ereignisses aktiv waren und zeichnen sich in der Regel durch eine Fülle an visuellen Informationen aus, wie an einer beispielhaften Beschreibung eines Teilnehmers deutlich wird: "Ich sehe unser Apartment in Kalifornien. Neben der Couch in einer kleinen Ecke steht der winzige Weihnachtsbaum. Ich sehe die Gurke, die an dem Baum hängt, und all den anderen komischen amerikanischen Weihnachtsschmuck." Ein solches Erleben gibt es für Zukunftserlebnisse natürlich nicht und folglich sind sie oft abstrakter: "Zum Weihnachtsessen habe ich überlegt, ob es vielleicht Schoko-Mousse anstatt Bayrischer Creme gibt und ich habe die Weingläser auf dem Tisch gesehen. Aber mehr nicht, keine Menschen, keine Handlungen." Neurowissenschaftler nehmen an, dass die unterschiedlichen Mengen an Sinnesinformationen in Erinnerungen und Zukunftsgedanken dem Gehirn helfen, die beiden Zeitrichtungen zu unterscheiden. Dies kann jedoch nicht der einzige Mechanismus sein, da einzelne Zukunftserlebnisse ebenfalls sehr detailreich sein können, wie diese Vorstellung einer Probandin zeigt: "Ich bin mit meiner Mutter bei meiner Schwester und sehe ihre Küche und wie wir Kekse ausstechen und die mit Glitzerschrift verzieren. Meine Schwester tut goldene Perlen auf die Kekse und wir haben einen Heidenspaß daran. Und unsere Mutter fragt lachend, ob wir denn nie erwachsen werden."

Weitere Analysen ergaben einen zweiten potentiellen Mechanismus, der an der Unterscheidung von Erinnerungen und Zukunftsgedanken beteiligt sein könnte. In mehreren Hirnregionen fanden wir Hinweise auf Unterschiede in den Zeitverläufen der Aktivierungen: Der Hippocampus, eine Gehirnstruktur, die wichtig für das Gedächtnis ist, war z.B. sehr früh für Zeitreisen in die Vergangenheit aktiv, jedoch erst spät für das Zukunftsdenken (Abb. 4). Die zeitlichen Aktivierungsmuster analysierten wir in einer EEG-Studie mit ähnlichem Versuchsdesign genauer und wir konnten die zuvor gefundenen Unterschiede bestätigen (Abb. 5). Viele Hirnregionen wurden für mentale Zeitreisen in beide Richtungen aktiviert, jedoch zu unterschiedlichen Zeitpunkten der Vorstellung. Um Zukunft und Vergangenheit auseinanderzuhalten, benutzt das Gehirn also möglicherweise zeitliche Information und Information über die Aktivierungsstärke vor allem in Bereichen, die Sinnesinformationen verarbeiten.

Wodurch aber könnten die Unterschiede in den Zeitverläufen ausgelöst worden sein? Auch wenn Vor- und Rückwärtsreisen durch die Zeit auf eine Reihe gleicher Ressourcen zugreifen, stellen die beiden Prozesse doch unterschiedliche Anforderungen an das Gehirn: Um ein potentielles Zukunftsereignis zu simulieren, kombinieren wir Informationen verschiedener Erinnerungen, während wir für eine Zeitreise in die Vergangenheit nur eine Gedächtnisspur aufrufen müssen. Während wir wissen, was in der Vergangenheit passiert ist, können wir nie sicher sein, was die Zukunft bringen wird. Diese Asymmetrie in den Anforderungen scheint sich in den zeitlichen Aktivierungsmustern niederzuschlagen und könnte der Schlüssel für die Unterscheidung von Zukunft und Vergangenheit sein. Es wird noch eine Weile dauern, bis wir genau verstehen, wie das Gehirn die beiden Zeitrichtungen unterscheidet. Doch schon jetzt kann eine mentale Zeitreise uns in den Moment hineinversetzen, in dem wir das Rätsel lösen - und uns so stets motivieren weiter zu forschen.


info 1
Institut für Kognitive Neurowissenschaft IKN

In der Abteilung Neuropsychologie des Instituts für Kognitive Neurowissenschaft unter Leitung von Prof. Dr. Irene Daum beschäftigen sich Psychologen und Biologen mit den Wechselwirkungen zwischen Gehirn und Verhalten. Neben der Erforschung der Gesichterwahrnehmung und des Belohnungslernens ist die Gedächtnisforschung ein zentrales Element unserer Arbeit. In einem Team um PD Dr. Boris Suchan interessieren wir uns vor allem für die Rolle bestimmter Hirnstrukturen, z.B. des Hippocampus (Abb. 4), bei der Gedächtnisbildung und beim Gedächtnisabruf. Die Untersuchung des Hippocampus bei anderen Aufgaben wie etwa dem Zukunftsdenken ist relevant, um seine generelle Funktionsweise und somit auch seinen Beitrag zum Gedächtnis besser zu verstehen.


info 2
FMRT

Die funktionelle Magnetresonanztomographie (Kernspintomographie) ermöglicht es, mit Hilfe von Radiowellen und Magnetfeldern Änderungen im Blutfluss des Gehirns zu verfolgen und auf diese Weise Hirnaktivitäten genau zu lokalisieren. Zwischen Datenaufnahme und fertigem Bild (s. Abb. 3) liegen viele Rechenschritte.


info 3
EEG

Bei der Elektroenzephalographie werden mit Hilfe von Elektroden Spannungsänderungen auf der Kopfhaut erfasst, die durch die Zellen der Großhirnrinde verursacht werden. Physiologische Vorgänge in den Nervenzellen führen zu Ladungsverschiebungen, deren Summe im sogenannten Elektroenzephalogramm sichtbar wird. Mit dieser Methode können die Zeitverläufe von Hirnaktivierungen genau verfolgt werden.


Den gesamten Artikel inkl. aller Bilder finden Sie im Internet im PDF-Format unter:
www.ruhr-uni-bochum.de/rubin/


Im Schattenblick nicht veröffentlichte Abbildungen:

Abb. 1: In Momenten der Gedankenlosigkeit entführt unser Gehirn uns oft in eine andere Zeit und wir sehen uns selbst in unserer möglichen Zukunft vor unserem inneren Auge.

Abb. 2: Auf ähnliche Aktivierungen für Erinnerung und Zukunftsdenken - am Beispiel des vergangenen und bevorstehenden Weihnachtsfestes - deuten die bunten Flächen auf den MRT-Aufnahmen eines menschlichen Gehirns hin (rechts oben). Die Ansicht zeigt ein Schnittbild entlang des Scheitels des Gehirns.

Abb. 3: Immer im Blick: Die Doktorandin Julia Weiler beobachtet eine Teilnehmerin während ihrer Zeitreisen in Zukunft und Vergangenheit im Kernspintomographen.

Abb. 4: Erinnerungen aktivieren mehrere visuelle Verarbeitungsareale stärker als Zukunftsvisionen (oben). Einige Hirnregionen, z.B. der Hippocampus, zeigen Unterschiede in den Zeitverläufen der Aktivierungen, z.B. frühe Aktivierung während der Erinnerung und späte Aktivierung während des Zukunftsdenkens (unten).

Abb. 5: Vorbereitungen treffen: Julia Weiler legt einer Probandin im Labor des Instituts für Kognitive Neurowissenschaft ein EEG an.


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Quelle:
RUBIN - Wissenschaftsmagazin, Sonderheft 10/2010 - Junge Forschung, S. 45 - 49
Herausgeber: Ruhr-University Research School (RURS)
in Verbindung mit der Pressesstelle der Ruhr-Universität Bochum
Anschrift: Pressestelle der Ruhr-Universität Bochum, 44780 Bochum
Telefon: 0234/32-22 133, -22 830, Fax 0234/32-14 136
E-Mail: rubin@presse.ruhr-uni-bochum.de
Internet: www.ruhr-uni-bochum.de/rubin/

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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. November 2010