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ORNITHOLOGIE/202: Ultraleichtflieger weisen den Weg - Der Waldrapp in den Alpen (Der Falke)


Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 3/2010

Ultraleichtflieger weisen den Weg - Der Waldrapp in den Alpen

Von Johannes Fritz


In Mitteleuropa ist der Waldrapp bereits vor mehreren Hundert Jahren als Wildvogel ausgestorben. Mithilfe handaufgezogener sowie halbwilder Bestände und viel Geduld versuchen Wissenschaftler, frei lebende natürlich ziehende Bestände zu etablieren und zu erhalten. Die größte Herausforderung hierbei liegt im Zugverhalten der Vögel, das noch nicht vollkommen verstanden ist und dennoch den ausgewilderten Vögeln "beigebracht" werden muss. Johannes Fritz stellt für uns dar, wie das Projekt Waldrappteam diese Aufgabe meistert.


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Die historische Verbreitung des Waldrapps umfasste - soweit bekannt - Brutkolonien in Europa, entlang der afrikanischen Nordküste von Marokko bis Ägypten sowie von der Türkei bis zur Südspitze der Arabischen Halbinsel. Heute gibt es nur noch eine einzige stabile Brutkolonie dieser hochbedrohten Ibisart an der Atlantikküste Marokkos mit einer Bestandesgröße von gegenwärtig rund 500 Individuen sowie eine kleine Gruppe von aktuell vier (!) Vögeln, die in Syrien brüten und in Äthiopien überwintern.

In Europa erloschen die gesamten Kolonien bereits im 16. und 17. Jahrhundert, wobei die Bejagung beziehungsweise das Ausnehmen von Nestern als primäre Ursachen angenommen werden können. Im übrigen Verbreitungsgebiet verschwand der Großteil der Kolonien im vergangenen Jahrhundert. Die Ursachen sind gebietsweise noch wenig untersucht, als Hauptfaktoren gelten jedoch die Jagd und die Intensivierung der Landbewirtschaftung.

Erfolgreiche Zoonachzuchten von Waldrappen schaffen die Rahmengrundlage für experimentelle Projekte in Österreich und Spanien. An der Konrad-Lorenz Forschungsstelle in Oberösterreich konnte die weltweit erste frei fliegende Waldrapp-Kolonie mit Zoonachkommen gegründet werden. Die Vögel fliegen ganzjährig frei, sind aber außerhalb der Vegetationszeit von menschlicher Betreuung abhängig. Weitere derartige sesshafte Kolonien gibt es inzwischen auch im Tierpark Rosegg in Kärnten sowie in Andalusien.

Im Jahr 2002 wurde das Projekt Waldrappteam gegründet, das erstmals versucht, mit handaufgezogenen Zoonachkommen ganzjährig selbständige, ziehende Waldrappkolonien zu etablieren. Jahr für Jahr werden zu diesem Zweck junge Waldrappe im Rahmen von menschengeleiteten Migrationen mithilfe von Ultraleicht-Fluggeräten quer durch Europa geführt. Das Projekt wurde durch Filmdokumentationen und Medienberichte international bekannt.



Projekt Waldrappteam 2009

Um den Waldrappen die Zugrouten beizubringen, fliegen menschliche Zieheltern den Vögeln in Ultraleicht-Fluggeräten voraus. Am 22. September 2009 landete so eine Gruppe von elf jungen Waldrappen im WWF Schutzgebiet Laguna di Orbetello in der südlichen Toskana. Ausgehend von Burghausen in Bayern hatten die Vögel eine Reise mit einer Dauer von 41 Tagen und einer Strecke von rund 1200 km hinter sich.

Es war bereits die fünfte derartige Migration. Das Team aus Biologen, Piloten und freiwilligen Mitarbeitern konnte also auf mehrjährigen Erfahrungen aufbauen - und doch war wieder vieles anders als geplant und manches neu. Am 29. April kamen die ersten zehn Nestlinge aus dem Tierpark Rosegg in den Zoo Salzburg, wo der erste Teil der Aufzucht erfolgte, am 6. Mai folgten drei weitere aus demselben Tierpark und einen Tag später noch zwei Vögel aus dem Cumberland- Wildpark Grünau. Wir hatten somit insgesamt 15 junge Waldrappe. Die Vögel waren zu Beginn der Handaufzucht fünf bis zehn Tage alt, der maximale Altersunterschied in der Gruppe betrug zwölf Tage. Soweit entsprach alles dem Plansoll, das wir aufgrund unserer empirischen Erfahrungen definiert hatten.

Unsere beiden Ziehväter, Markus Unsöld und Arvid Zickuhr, begannen mit der Aufzucht im Zoo Salzburg, die anfangs noch routinemäßig verlief. Die Vögel wuchsen und nahmen täglich im Schnitt 40 bis 60 Gramm zu. Am 25. Mai morgens lag aber völlig unerwartet ein Vogel tot im Nest. Eine Obduktion ergab, dass der Vogel innerlich verblutet war. Drei Tage später verendete ein zweiter Vogel mit denselben Symptomen.

Am 29. Mai wurden die Vögel in unser Trainingscamp am Stadtrand von Burghausen übersiedelt. Dort verendete am 4. Juni ein dritter Vogel. Noch immer war die Ursache für die Todesfälle nicht klar. Erst als zwei Waldrappe eine Augentrübung zeigten, konnte ein Facharzt der Universitätsklinik in München einen Flagellatenbefall diagnostizieren, der auch die wahrscheinliche Ursache für die Todesfälle war. In weiterer Folge traten keine neuen Krankheits- und Todesfälle mehr auf. Bei einem der beiden erkrankten Vögel regenerierte sich das getrübte Auge aber nicht, und er musste an den Münchner Tierpark Hellabrunn abgegeben werden. Damit hatte sich die Zahl der Vögel von fünfzehn auf elf Individuen reduziert. Einen derart hohen Ausfall während der Aufzucht hatten wir noch nie. Aber es kam noch ein weiteres Problem dazu. Mitte Juni waren alle Vögel flügge. Zu dieser Zeit sollte das eigentliche Flugtraining beginnen, aber beständige Regenfälle hinderten uns über einen Monat daran. Erst am 21. Juli konnten wir den ersten Trainingsflug durchführen. Diese Verzögerung hatte Folgen. Die Vögel zeigten inzwischen eine "pubertäre Selbstständigkeit". Sie bewegten sich beim Training immer unabhängiger im Umfeld des Camps, anstatt dem Fluggerät zu folgen. Am 10. August beendeten wir dieses erfolgslose Training. Uns blieb nur noch die vage Hoffnung, dass die Vögel in den nächsten Tagen in Zugmotivation kommen würden, um dann außerhalb des ihnen bekannten Umfelds dem Ziehvater im Fluggerät zu folgen. Insgeheim konnte sich aber wohl keiner so wirklich vorstellen, wie wir mit diesen Vögeln jemals die Toskana erreichen sollten ...



"Rebellische Teenager"

Freitag, 14. August 2009, Zugbeginn. Die Anspannung im Team war an diesem Morgen groß. Förderer und Sponsoren, ein laufendes internationales Forschungsprojekt und die Berichterstattung in den Medien verursachten einen beträchtlichen Erwartungsdruck. Dem gegenüber standen starke Zweifel, dass die Waldrappe nach dem mangelhaften Flugtraining überhaupt von Burghausen wegzubekommen wären - der Verlauf dieses Tages nährte die Zweifel noch. Die Vögel folgten uns nur widerwillig ein Stück über die Salzach Richtung Osten und kehrten dann zum Camp zurück. Also keine Chance auf einen "regulären" Start zum Zug ins Winterquartier.

Eine Chance blieb jedoch noch: Wir bauten die Migrationsvoliere auf einer Wiese in Gilgenberg auf, rund zehn Kilometer östlich des Camps in Burghausen. In Transportboxen brachten wir die Vögel dorthin. Damit waren sie außerhalb des ihnen vertrauten Areals und wir hofften, dass sie nun dem Ziehvater hinterher flogen. Am 16. August setzten wir auf diese letzte Karte und hatten Glück. Erstmals folgten die Waldrappe dem Fluggerät bis zum sechs Kilometer entfernten nächsten Landepunkt.

Was folgte, war mit 41 Tagen und 21 Flugetappen die bisher längste der fünf Migrationen. Die Vögel blieben unzuverlässig, sie kehrten bei manchen Etappen um und mussten zweimal sogar für Teiletappen in Fahrzeugen transportiert werden. Erst südlich des Apennins änderten sie ihr Verhalten und flogen dem Fluggerät zuverlässig über längere Strecken nach.

Am 21. September erreichten wir schließlich mit allen elf Vögeln das WWF Naturschutzgebiet Laguna di Orbetello. Zehn Minuten nach der Landung gesellten sich neun weitere Waldrappe dazu, ein Teil jener Vögel, die bereits in den vergangenen Jahren in die Toskana geführt worden waren. Im Kern des Schutzgebietes errichteten wir unsere mobile Voliere, in der die Jungvögel nach der Ankunft für einige Wochen bis zum Abklingen der Zugmotivation blieben. Am 22. Oktober wurde die Voliere geöffnet, und die elf Jungvögel konnten sich in die frei fliegende Waldrappgruppe integrieren.



Zugunruhe je nach Alter

Die bisherigen raum-zeitlichen Daten der Waldrappe des Projektes Waldrappteam zeigen jahreszeitliche Muster in Abhängigkeit vom Alter der Vögel: Subadulte Vögel unternehmen im Zeitraum von Anfang April bis Ende Oktober ausgedehnte Wanderungen, teils in Gruppen, teils einzeln. Der Abflug scheint primär durch äußere Faktoren ausgelöst zu werden, insbesondere durch Trockenheit und abnehmende Nahrungsverfügbarkeit. Dauer und Länge der Flüge folgen keinem erkennbaren Muster, lediglich die Orientierung ist prinzipiell in Richtung Norden. Erst ab dem dritten Lebensjahr, mit Eintritt der Geschlechtsreife, bleiben die Flugmuster den bisher verfügbaren Daten zufolge weitgehend konstant und somit vorhersagbar. Das trifft insbesondere auf die Flüge im Frühjahr zu, die jedes Jahr im Zeitraum vom 23. März bis 10. April beginnen.

Anfang April 2007 erfolgten die ersten Migrationsflüge geschlechtsreifer Waldrappe der Generation 2004. Die Vögel flogen rasch und zielstrebig nach Norden. Allerdings erreichte keiner der Vögel das Brutgebiet Scharnstein in Oberösterreich. Die Flüge endeten abrupt, teils in den Alpen und teils bereits am Südrand der Alpen. Manche Tiere waren zu diesem Zeitpunkt nur mehr rund 100 Kilometer Luftlinie von Scharnstein entfernt. Hierfür kann es unterschiedliche Ursachen geben, wir gehen jedoch davon aus, dass der Alpenhauptkamm für die Vögel eine problematische Barriere darstellt. Aus diesem Grund führen die menschengeleiteten Migrationen seit 2008 östlich um die Alpen herum.

Die "hängengebliebenen" Vögel sammelten wir ein und brachten sie nach Scharnstein in Oberösterreich. Dort brütete erstmals eines unserer Paare und zog erfolgreich drei Junge auf. Allerdings zeigten die Vögel im Herbst keine Ambition zurück in den Süden zu fliegen. Wahrscheinlichste Ursache dafür ist der Kontakt zu den ansässigen, frei fliegenden Waldrappen der Konrad-Lorenz Forschungsstelle. Diese rund 40 Waldrappe bleiben ganzjährig im Tal, und der soziale Anreiz dieser Kolonie scheint für unsere Vögel so stark zu sein, dass die Motivation zum Herbstzug überlagert wird. Im September transportierten wir deshalb unsere Tiere rund 60 km nach Süden, um sie dem sozialen Einfluss der Grünauer Vögel zu entziehen. Von dort flogen sie erwartungsgemäß weiter Richtung Süden. Am 15. September wurde die Gruppe samt den Jungvögeln in Osoppo südlich der Karawanken gesichtet. Einige Tage später kamen die Altvögel in der Toskana an, wo sie den Winter verbrachten. Leider waren die Jungvögel nicht dabei und wurden auch nie mehr gesehen.

Anfang April 2008 flogen dann die geschlechtsreifen Vögel wieder Richtung Norden ab. Erwartungsgemäß blieben sie am Südrand oder im Alpenraum hängen. Infolge der Erfahrungen des vergangenen Jahres brachten wir sie von dort diesmal aber nicht nach Scharnstein, sondern in ein kleines Schutzgebiet bei Fagagna am Südrand der Alpen, wo sie dann auch brüteten. Dort befindet sich ebenfalls eine lokale Gruppe mit rund 70 Waldrappen, die jedoch ganzjährig in einer Voliere gehalten werden. Wir gingen davon aus, dass Volierenvögel nicht einen derartigen sozialen Anreiz darstellten wie die frei fliegenden Vögel in Oberösterreich.

Anfänglich schien sich unsere Annahme zu bestätigen. Am 28. September flog ein Altvogel mit den beiden Jungvögeln ab, die in Fagagna aufgewachsen waren. Das Trio wurde bereits am nächsten Tag bei den anderen Waldrappen im Wintergebiet in der Toskana gesichtet, annähernd 600 Kilometer weiter südlich. Am 2. Oktober verließen die beiden Jungvögel das Wintergebiet jedoch wieder und wurden am 11. Oktober bei den fünf verbliebenen Altvögeln in Fagagna gesichtet, die nicht weggezogen waren. Die Altvögel hatten inzwischen ihren Schlafplatz auf das Dach der Waldrappvoliere verlegt. Die Gruppe zeigte in weiterer Folge keine Ambitionen mehr, das Brutgebiet zu verlassen. Offenbar übten auch die Vögel in der Voliere einen so starken sozialen Anreiz auf unsere Waldrappe aus, dass ein Großteil von ihnen es vorzog im Herbst zu bleiben. Im Februar 2009 brachten wir diese Gruppe per Auto zurück in die Toskana.

Wir wissen nicht, warum die beiden Jungvögel bereits nach einem kurzen Aufenthalt im Wintergebiet zurück nach Fagagna flogen. Immerhin sind sie die ersten Jungvögel, die ohne menschliche Hilfe im Gefolge eines erfahrenen Altvogels vom Brutgebiet in das Wintergebiet flogen. Der (verfrühte) Rückflug zeigt zudem, dass sie die Route gelernt hatten und den Weg zurück nach Norden allein zu finden vermochten.

Im Frühjahr 2009 flogen die geschlechtsreifen Vögel aus der Toskana erstmals zielstrebig nach Fagagna. Sie scheinen das neue Brutgebiet zu akzeptieren. Wieder wurden drei Jungvögel aufgezogen. Anfang September stießen zwei subadulte Vögel aus der Toskana zur Gruppe. Einer davon war im Vorjahr in Fagagna aufgezogen worden. Am 28. September flogen diese beiden subadulten Vögel wieder ab und mit ihnen die drei Jungvögel. Ein subadulter Vogel und zwei Jungvögel kehrten drei Tage später wiederum zurück nach Fagagna. Am 12. Oktober flog dann jener Altvogel, der schon im Vorjahr zwei Jungvögel in das Wintergebiet geführt hatte, gemeinsam mit dem subadulten Vogel und einem der beiden verbliebenen Jungvögel nach Süden ab.

Die restlichen fünf Vögel (vier Altvögel und ein Jungvogel) verlegten ihren Schlafplatz wie im letzten Jahr auf die Voliere des Waldrappgeheges und blieben vor Ort. Am 22. Oktober brachten wir diese Gruppe an den Südrand der Poebene. Da die vier Altvögel den Weg in das Wintergebiet gut kannten, gingen wir davon aus, dass die Gruppe rasch die restliche Strecke in das Wintergebiet fliegen würde. Fünf Tage nach der Freilassung wurden alle fünf Vögel südlich von Ravenna gesichtet. Seitdem fehlt aber jede Spur. Auch von jenen fünf Vögeln, die selbständig aus Fagagna abgeflogen waren, kam bisher nur ein subadulter Vogel im Wintergebiet an.



Nachkommen und Verluste

Im Rahmen von fünf menschengeleiteten Migrationen haben wir seit 2004 insgesamt 52 junge Waldrappe in die Toskana geführt. Im Jahr 2007 wurden die ersten Vögel geschlechtsreif, und seitdem hatten die Altvögel jedes Jahr Nachwuchs mit zusammen genommen acht Jungvögeln.

In den vergangenen sechs Jahren verloren wir insgesamt 28 Vögel. Bisher konnten die Verluste durch Handaufzucht und Elternaufzucht mehr als kompensiert werden, sodass die Gruppengröße beständig zunahm. Die Mortalitätsrate in den ersten beiden Lebensjahren beträgt im Mittel 24 % und 15 %, also insgesamt 39 %. Das bedeutet, dass 61 % der Vögel geschlechtsreif werden. Ab der Geschlechtsreife liegt die Mortalitätsrate im Schnitt bei 11 % (Beobachtungszeitraum bis Ende September 2009).

Von den 28 verlorenen Vögeln sind 19 vermisst, bei neun Vögeln ist die Todesursache bekannt. Ein Vogel fiel im Wintergebiet einem Beutegreifer zum Opfer, zwei Vögel kamen im Wintergebiet durch Stromschlag auf einer Hochspannungsleitung um. Ein weiterer subadulter Vogel verendete infolge eines Schnabelbruchs. Ein Vogel wurde in Norditalien mit einer Schussverletzung aufgefunden und musste eingeschläfert werden. Weitere vier Vögel wurden in Italien durch Jagdwaffen getötet. Damit sind 56 % der bekannten Todesfälle auf die illegale Jagd zurückzuführen. Wir gehen davon aus, dass ein zumindest ähnlich hoher Anteil der 28 bislang verlorenen Vögel (Beobachtungszeitraum bis Ende September 2009) ebenfalls durch illegale Jagd umgekommen ist.

Ingesamt bewegte sich die Mortalitätsrate bisher in einem üblichen und verträglichen Rahmen. Die handaufgezogenen Vögel scheinen mit den natürlichen Risiken gut zurechtzukommen. Leider sind im Zeitraum seit Anfang Oktober 2009 weitere 15 Waldrappe verschwunden, einschließlich eines Großteils der Vögel aus Fagagna. Nach unseren bisherigen Erfahrungen hoffen wir, dass zumindest ein Teil dieser Tiere wieder auftaucht, aber die Verlustrate wird in der gegenwärtigen Saison voraussichtlich höher sein, da damit zu rechnen ist, dass ein bedeutender Teil der aktuell fünfzehn vermissten Vögel nicht mehr auftaucht.

Das größte Handicap für unsere Vögel ist die illegale Jagd in Italien, gegen die nun eine gezielte Kampagne begonnen werden soll.



Reisefakten aus GPS Daten

Seit dem Frühjahr 2007 wird ein Teil der Vögel mit GPS Datenloggern ausgestattet, die Position, Geschwindigkeit und Seehöhe in Intervallen von fünf Minuten aufzeichnen. Im Frühjahr 2007 konnte die Flugroute eines männlichen Vogels der Generation 2004 vollständig dokumentiert werden: Der Vogel mit Namen "Speedy" verließ am 9. April die Toskana. In vier aufeinanderfolgenden Tagen flog er insgesamt 915 Kilometer mit einem Tagesmaximum von 328 Kilometern. Die Flüge erfolgten vorwiegend ab dem späten Vormittag. Meist wechselte Speedy zwischen Steigphasen, in denen er die Thermik nutzte, und Gleitphasen, bei denen er mit einer Geschwindigkeit bis annähernd 100 km/h vorankam.

Das Weibchen "Aurelia", ebenfalls Generation 2004, flog seit dem Frühjahr 2007 jedes Jahr nach Norden, wobei der Aufbruch Jahr für Jahr etwas früher erfolgte (1. April 07, 28. März 2008, 27. März 2009). Etappenlänge, Positionen der Zwischenstopps und Routenführung waren in beiden Jahren fast identisch. Im Jahr 2009 flog Aurelia an drei aufeinanderfolgenden Tagen insgesamt 552 Kilometer nach Norden, mit einem Tagesmaximum von 281 Kilometern. Sie startete jeweils fast exakt zur selben Tageszeit (08:42; 08:21; 08:22) und flog konstant mit einer Geschwindigkeit von 20 bis 50 km/h (mittlere Geschwindigkeit: 1. Tag 33 km/h, 2. Tag 35 km/h, 3. Tag 23 km/h). Diese gleichbleibenden Muster weisen darauf hin, dass Beginn und Ablauf der Frühjahrsmigration von Waldrappen nur wenig durch äußere meteorologische Faktoren beeinflusst sind.

Ursprünglich gingen wir davon aus, dass wir den Vögeln im Rahmen der menschengeleiteten Migration ein aktives Flugverhalten abverlangen, das sie im unabhängigen Flug nicht zeigen. Die Daten von Speedy schienen diese Annahme zu bestätigen. Umso überraschender waren die Datensätze von Aurelia. Startzeitpunkt, Fluggeschwindigkeit, Flughöhe und Etappenlänge stimmen bei ihr weitgehend mit den Parametern der menschengeleiteten Migrationen überein. Das ist eine Bestätigung dafür, dass die menschengeleitete Migration in der durchgeführten Form den Ansprüchen der Vögel weitgehend entspricht.



Ein Blick in die Zukunft

Das Projekt Waldrappteam versteht sich als experimentelles Projekt mit stark angewandter Ausrichtung. Ziel ist es in den kommenden Jahren zwei stabile Gruppen aufzubauen, mit je einem Brutgebiet südlich und nördlich der Alpen sowie einem gemeinsamen Wintergebiet in der Toskana. Für das Jahr 2010 ist eine weitere menschengeleitete Migration, ausgehend von Burghausen in Bayern geplant.

Ein wesentlicher Teil unserer Fragestellungen bezieht sich auf konkrete Anforderungen des internationalen Artenschutzes. Unsere Erfahrungen sind dort von Bedeutung, wo reine Schutzmaßnahmen allein nicht mehr ausreichen. Konkret ist das derzeit in Syrien der Fall, wo der Bestand durch sogenannte Supplementierung vergrößert werden soll. Die Aktivitäten hierzu werden von internationalen Organisationen durchgeführt. Das Waldrappteam und seine österreichischen Partner konnten sich in diesem Rahmen als Expertengruppen etablieren und haben das Engagement für die syrischen Vögel als einen der Schwerpunkte ihrer Arbeit in den nächsten Jahren festgelegt.

In Marokko gibt es noch eine Wildkolonie an der Atlantikküste, die gegenwärtig nahezu 500 Individuen zählt. In der Vergangenheit waren im Atlasgebirge mehr als 40 Brutkolonien bekannt, die allesamt im letzten Jahrhundert verschwunden sind. Im Rahmen eines Projektes im Atlas, das seit Jahren von europäischen Zooinstitutionen finanziert wird, soll die Grundlage für eine Wiederansiedlung erarbeitet werden. In erster Linie gilt es, die historischen Ursachen für das Verschwinden der Kolonien sowie die gegenwärtigen ökologischen und klimatischen Rahmenbedingungen zu untersuchen. In weiterer Folge wird die Wiederansiedlung zum Thema werden, sofern es nicht zur natürlichen Neugründung von Kolonien kommt.

Daneben bietet das Migrationsprojekt in einem immer breiteren Umfang Möglichkeiten für die Grundlagenforschung. Derzeit läuft ein vom Österreichischen Forschungsfond finanziertes Projekt (FWF P20633), um im Rahmen der menschengeleiteten Migrationen die Energetik und Physiologie des Vogelzuges zu untersuchen. Die Wiederansiedlung des Waldrapps in Europa ist für uns derzeit von untergeordneter Bedeutung. Vorrangig ist die Arterhaltung an den außereuropäischen Schauplätzen. Die ökologischen Untersuchungen an verschiedenen Orten in Europa, die Erfahrungen mit den sesshaften Kolonien in Grünau und Rosegg und besonders auch der bisherige erfolgreiche Verlauf des Migrationsprojektes rücken die Wiederansiedlung in Europa allerdings immer mehr in den Bereich des Machbaren. Der prinzipielle Reiz, eine vom Menschen ausgerottete Art wieder heimisch zu machen, ist von allgemeiner Gültigkeit. Für den Waldrapp spricht, dass sich diese Art nach unseren Erfahrungen gut und ohne wesentliche Folgen in die heimische Fauna einfügen kann und in keiner Weise mit den Interessen der Menschen interferiert. In diesem Sinn wäre der Waldrapp eine Bereicherung der europäischen Fauna mit einem ganz spezifischen Anreiz. Primäres Handicap für die Wiederansiedlung in Europa ist nach gegenwärtigem Stand die illegale Jagd, und es ist bedauerlich, dass sich darin die Geschichte zu wiederholen droht. In diesem Sinne ist noch manches offen bei der Frage: Waldrapp - quo vadis?


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Informationen zum Thema:

Bairlein F 2008: Mit dem Waldrapp ziehen - Ein neuartiges Forschungsprojekt am Institut für Vogelforschung. Falke 55: 396.

Fritz J, Reiter A 2003: Der Flug des Ibis: Die Rückkehr eines heiligen Vogels aus der Arche Noah. Wien, Linz, Weitra, München: Bibliothek der Provinz, ISBN 3 85252 485 7.

Fritz J 2004: Beobachtungen zum Orientierungs- und
Navigationsvermögen der Waldrappe. Monticula 96, Bd. 9.

Fritz J 2007: The Scharnstein Waldrapp Ibis Migration-Project after four years: birds leave the micro lights behind. In: Böhm C, Bowden C (eds.): Report of the 2nd IAGNBI Meeting 2nd IAGNBI Meeting, Vejer 2006, pp. 67-76.

Lorenz K 1935: Der Kumpan in der Umwelt des Vogels. In: J. Ornithol. 83: 137-215 und 289-413.

Serra G, Peske L, Scheisch Abdallah M, al Quaim G 2009: Breeding ecology and behaviour of the last wild oriental Northern Bald Ibises (Geronticus eremita) in Syria. J. Ornithol. 150: 769-782.

www.waldrapp.eu
www.waldrapp-burghausen.de
www.iagnbi.org

Das Projekt wurde in den vergangenen Jahren unter anderem durch die folgenden Förderer und Spender unterstützt: Alpenzoo Innsbruck, American Association of Zookeepers, Bund Naturschutz in Bayern e.V., Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung, Frau Maria Schram, FWF Projekt 20633, Heinz Sielmann Stiftung, H.I.T. Umwelt- und Naturschutzstiftung GmbH, Inn-Salzach EUREGIO, Konrad-Lorenz Forschungsstelle Grünau, Lebensministerium, Österreichische Zoo Organisation (OZO), Schönbrunner Tiergarten, Stadt Burghausen, Tierpark Rosegg, Verband Deutscher Zoodirektoren, Verein für Tier- und Naturschutz in Österreich, World Association of Zoos and Aquariums (WAZA), WWF Italien. Zudem bedanke ich mich bei allen Mitarbeitern und Partnern.


Dr. Johannes Fritz ist Mitarbeiter der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle Grünau und seit 2002 Leiter des Projektes Waldrappteam. Neben dem Artenschutzprojekt gilt sein wissenschaftliches Interesse besonders der Verhaltensbiologie und Ornithologie.


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Handaufzucht von Waldrappen

Die sogenannte Handaufzucht ist die methodische Grundlage unseres Projektes. Dabei werden Jungvögel im Alter von zwei bis acht Tagen nach dem Schlupf aus den Nestern von Zootieren genommen und kommen in die Obhut von zwei menschlichen Zieheltern. So wird erreicht, dass die Jungvögel eine anhaltend soziale Bindung zu den Bezugspersonen aufbauen - anstelle der biologischen Eltern. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von der Nachfolgeprägung, wie sie Konrad Lorenz 1935 definierte. Maßgeblich für eine stabile Nachfolgeprägung auf die Bezugspersonen ist, dass die Vögel nicht zu lange im Nest bleiben. Aus eigener Erfahrung wissen wir, dass junge Waldrappe, die länger als zehn Tage im Nest bleiben, keine stabile Beziehung mehr zu den Bezugspersonen aufbauen. Das hat für ein derartiges Projekt dramatische Folgen, denn die Nachfolgeprägung ist die Voraussetzung dafür, dass die Vögel später der Bezugsperson im Fluggerät nachfliegen.

Aber nicht nur das Alter der Vögel ist entscheidend, auch die Intensität und Selektivität der sozialen Kontakte hat einen maßgeblichen Einfluss. Während der rund 45 Tage dauernden Handaufzucht dürfen ausschließlich die zwei Zieheltern Kontakt zu den Vögeln haben. Ansonsten findet keine selektive Nachfolgeprägung statt, was die problematische Konsequenz hat, dass die Jungvögel auf Menschen generell positiv reagieren. Auch derart "fehlgeprägte" Vögel folgen später dem Fluggerät nicht zuverlässig. Die beiden Zieheltern können allerdings kaum genug Sozialkontakt mit den Jungvögeln haben. Das beinhaltet jede Form von Interaktion, von der reinen Anwesenheit bis zum Ansprechen, Reinigen und Kraulen. Unsere Erfahrungen zeigen deutlich, je intensiver die sozialen Interaktionen während der Aufzucht ist, desto stabiler und beständiger erfolgt die Nachfolgeprägung.

Die soziale Bindung an die Bezugspersonen ist bei Waldrappen außerordentlich intensiv und anhaltend ausgeprägt. Auch noch geschlechtsreife Tiere erkennen die ehemaligen Zieheltern und zeigen ihnen gegenüber ein vertrautes Verhalten.


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Waldrappe in Syrien und der Türkei

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt (Januar 2010) halten sich vier geschlechtsreife Waldrappe im Wintergebiet in Äthiopien auf, von denen drei mit Telemetriesendern ausgestattet sind. Das ist der verbliebene Rest der ehemaligen zahlreichen Brutkolonien im östlichen Verbreitungsgebiet. Es wird erwartet, dass diese Vögel Ende Februar 2010 wieder 3500 km nach Norden fliegen, zurück in ihr Brutgebiet bei Palmyra in Syrien. Wenn sich, wie in den vergangenen Jahren, die Anzahl der Altvögel im Mittel um einen Vogel pro Jahr reduziert, dann bleibt nur mehr ein Brutpaar übrig. Die Chancen zur Erhaltung dieser letzten natürlichen Waldrapp-Gruppe scheinen aussichtslos. Trotzdem wurde bei einem internationalen Treffen in Palmyra im November 2009 nach langen Vorbereitungen ein letzter Rettungsversuch beschlossen.

Geplant ist, noch vor Beginn der Brutsaison 2010 sechs Waldrappe aus der Brutkolonie in Birecik, Türkei, nach Palmyra in Syrien zu bringen um dort eine Brutgruppe aufzubauen. Wir hoffen, dass es bereits im Frühjahr 2010 zur ersten Nachzucht kommt. Diese Jungvögel sollen dann etwa drei Wochen vor Beginn der Herbstmigration im Aktionsradius der Wildvögel freigelassen werden. Hoffentlich schließen sie sich dann mit den wilden Jungvögeln zusammen um mit ihnen und den Altvögeln gemeinsam im Herbst nach Süden zu fliegen.

Diese sogenannte Supplementierung, eine mithilfe von Nachzuchten herbeigeführte Ergänzung des Wildbestandes, basiert primär auf der Annahme, dass die Zugroute eine sozial erlernte Tradition ist. Die Daten der syrischen Waldrappe scheinen allerdings vordergründig darauf hinzuweisen, dass die Jungvögel unabhängig von den erfahrenen Alttieren fliegen: Seit der Entdeckung des Wintergebietes in Äthiopien 2006 wurden dort trotz Bruterfolgen in Syrien zwar adulte Tiere, aber keine Jungvögel gesichtet. Zudem sind seit 2006 wiederholt einzelne subadulte Jungvögel im Brutgebiet aufgetaucht, die offenbar nicht mit den Altvögeln in Äthiopien überwintert haben.

Unterstützende Daten lieferten auch die Vögel aus Birecik in der Türkei. In Birecik konnte sich bis in das vergangene Jahrhundert eine große selbständig wandernde Brutkolonie erhalten. Nachkommen dieser Vögel werden vor Ort gezüchtet und während der warmen Jahreszeit frei fliegend gehalten. Im Sommer vor Beginn der Migrationszeit werden sie eingesperrt und über den Winter gefüttert. In den Jahren 2008 und 2009 hat man einige Jungvögel mit Satellitensendern ausgestattet und außerhalb der Voliere belassen. In beiden Jahren waren diese Jungvögel abgeflogen. Die Flugroute führte konstant in Richtung Süden, über Syrien hinaus bis in das Grenzgebiet zwischen Jordanien und Saudi Arabien. Dort kamen die besenderten Jungvögel in beiden Jahren um, teils durch Stromschlag auf einer Stromleitung, teils durch Abschuss. Diese räumliche Präferenz ist ein spannendes und an sich unerwartetes Ergebnis, das zumindest auf einen groben genetischen Richtungsvektor bei den Jungvögeln hinweist.

Die Annahme, dass Jungvögel mit einem genetischen Richtungsvektor nach Süden losfliegen, um unabhängig von den erfahrenen Artgenossen quasi zufallsbedingt geeignete Wintergebiete zu finden, hätte wohl eine überaus hohe Mortalität zur Folge, worauf schon die Todesfälle der besenderten Vögel aus Birecik hinweisen. Wahrscheinlicher und im evolutionären Sinne adaptiver scheint für das Schlüsselereignis der ersten Herbstmigration eines jungen, unerfahrenen Waldrapps ein soziales Umfeld zu sein, das ihm erlaubt, von erfahrenen Altvögeln zu lernen und Traditionen zu übernehmen, einschließlich der günstigsten Zugroute in das Wintergebiet. Bei den syrischen Vögeln gibt es insbesondere zwei Anzeichen, die für eine geführte Herbstmigration sprechen. Zum einen überwintern alle syrischen Brutvögel am selben Ort in Äthiopien, was gut mit einer sozial tradierten Zugroute zu erklären ist, aber nur schwerlich mit der Annahme, dass Jungvögel unabhängig von den Alttieren zufallsbedingt geeignete Überwinterungsgebiete auffinden. Zum anderen scheinen Jungvögel nach Möglichkeit gemeinsam mit zugerfahrenen Alttieren das Brutgebiet zu verlassen. Dieses Muster zu Beginn der Herbstmigration wurde in Palmyra ebenso beobachtet wie bei unseren europäischen Vögeln in Fagagna. Zudem wurde noch nie beobachtet, dass sich Jungvögel ohne die Begleitung von zugerfahrenen Vögeln in einem Wintergebiet eingefunden hätten. Sehr wohl gibt es aber aus unserem Projekt den Nachweis, dass Jungvögel im Gefolge eines zugerfahrenen Alttieres in das Wintergebiet fliegen und sich diese Route auch merken.

Es bleibt die Frage offen, warum und wann sich die syrischen Jungvögel auf dem Weg in den Süden von den Alttieren trennen. Vielleicht basiert die Evolution des Vogelzugs bei Waldrappen auf einer gewissen Wahrscheinlichkeit, dass Jungvögel, die sich von einer Gruppe von Altvögeln trennen und weiter entlang dem genetisch vorgegebenen Vektor nach Süden fliegen, wieder auf zugerfahrene Artgenossen treffen. Das wäre ein ähnliches Muster wie jenes der Weißstörche, einer nahe verwandten Zugvogelart. Gegenwärtig ist die Wahrscheinlichkeit, dass zugunerfahrene junge Waldrappe aus Syrien, die aus welchen Gründen auch immer einmal von der Gruppe getrennt werden, wieder auf zugerfahrene Artgenossen treffen, gleich Null.

Wir werden uns in den nächsten Jahren im Rahmen unserer experimentellen Arbeit in Europa weiter diesen Fragen widmen. In Bezug auf die syrischen Zugvögel sind sich die Experten einig, dass die gegenwärtigen Daten der wilden und experimentellen Waldrapp-Gruppen ausreichende Nachweise für eine sozial tradierte Zugroute liefern. Zudem bleibt kaum eine Alternative zur Supplementierung, um das Erlöschen der letzten Waldrappe mit natürlichem Zugverhalten im Nahen Osten vielleicht noch zu verhindern.


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Quelle:
Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 3/2010
57. Jahrgang, März 2010, S. 95-105
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Mai 2010