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ORNITHOLOGIE/371: Der Meistersinger (MaxPlanckForschung)


MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft 2/2016

Der Meistersinger

von Claudia Steinert


Vom tropischen Regenwald bis zum Dschungel der Großstadt - Vögel haben viele Lebensräume auf dieser Erde erobert. Und fast überall singen sie. Wie sie dabei miteinander kommunizieren, erforscht Henrik Brumm am Max-Planck-Institut für Ornithologie in Seewiesen. Ein außergewöhnlich begabter Sänger hat es ihm dabei besonders angetan.

Immer wenn ihm die Katze einen toten Vogel vor seine Türe legt, schwankt Henrik Brumm zwischen Mitleid und wissenschaftlicher Neugier. Meistens obsiegt dann der Forscherdrang, und Brumm untersucht das Gesangsorgan des Vogels, die sogenannte Syrinx. So leistet das Tier zumindest noch einen Beitrag für die Wissenschaft. Denn Henrik Brumm ist Verhaltensbiologe. Er will wissen, wie Tiere miteinander kommunizieren. Wie sie umeinander werben, sich von den besten Futterplätzen erzählen, ihr Revier verteidigen. Seit seiner Doktorarbeit erforscht Brumm deshalb die wohl komplexeste Form der Kommunikation im Tierreich: Vogelgesang.

Von den mehr als 10 000 bekannten Vogelarten gehören rund 4000 zu den Singvögeln. Jeder Vogel kann zwar Laute ausstoßen, aber nicht jeder kann singen. Der Kuckuck zum Beispiel bringt nicht viel mehr als seinen namensgebenden Ruf zustande. Papageien imitieren Geräusche und sogar menschliche Sprache. Das macht sie jedoch noch nicht zu Singvögeln. Nur wessen Stimmapparat - die bereits erwähnte Syrinx - besonders komplexe Strukturen aufweist, fällt in diese Kategorie.

Für seine Doktorarbeit hat Henrik Brumm in Berlin untersucht, wie der Stadtlärm die Kommunikation von Nachtigallen beeinträchtigt. Wie sich die Vögel verständigen, wenn um sie herum Autos hupen, Sirenen heulen und Flugzeuge dröhnen. Die deutsche Hauptstadt war für sein Projekt wie geschaffen: In keiner anderen deutschen Großstadt leben so viele Nachtigallen. Sie bauen ihre Nester am liebsten am Boden zwischen krautige Hecken, die über Rasenkanten und Bordsteine wuchern und nicht immer so schnell gestutzt werden wie in anderen Städten.


Auf Pirsch im Morgengrauen

Brumm entschied sich nicht ganz ohne Hintergedanken für das Projekt mit den Nachtigallen: Es passte zu seinem Biorhythmus. Anders als die meisten Singvögel trällert die Nachtigall nicht nur bei Sonnenaufgang, sondern auch nachts. Brumm sah sich vor oder nach der Kneipentour losziehen, ausgerüstet mit Nachtsichtgerät, Laserentfernungsmesser und Schallpegelmessgerät. Doch daraus wurde nichts. "Da bin ich ziemlich reingelegt worden", sagt er mit einem Augenzwinkern.

Die Uni musste sparen. Anstelle von Nachtsichtgerät und Laserentfernungsmesser erhielt er von seinem Betreuer ein Fernglas und ein Maßband. Arbeiten im Dunkeln war damit unmöglich. Also quälte er sich fortan immer morgens um halb vier aus dem Bett und stieg auf sein Fahrrad. Er radelte zur Stadtautobahn, stromerte durch Parks und stand stundenlang an viel befahrenen Kreuzungen. Sobald er eine Nachtigall sah, hielt er Schallpegelmesser und Aufnahmegerät in die Höhe.

Nachdem er den Gesang aufgenommen hatte, rollte er sein Maßband aus und maß die Entfernung zwischen sich und dem Vogel. Aus Entfernung und Schallpegel berechnete er dann die absolute Lautstärke des Gesangs. Das Fazit: Nachtigallen singen lauter, je mehr Lärm sie umgibt. Sie zeigen den sogenannten Lombard-Effekt.

Lombard war ein französischer Arzt, dem schon vor gut 100 Jahren auffiel, dass wir unsere Lautstärke unwillkürlich der Umgebung anpassen, damit uns ein Gesprächspartner besser versteht. Und genau diesen Trick benutzen auch die Vögel, um sich in der Stadt Gehör zu verschaffen. "Nachtigallen singen unter der Woche lauter als am Wochenende, weil es werktags auf den Straßen lauter ist", erklärt Brumm.

Vogelgesang ist so charakteristisch, dass Vogelkundler eine Art daran erkennen können. Dazu gehört aber Übung - außer bei einem Vertreter: "Den Flageolettzaunkönig können selbst Laien identifizieren", sagt Brumm. Der im Amazonas lebende Vogel ist mit seinen zwölf Zentimetern kleiner als ein Spatz und ähnlich unauffällig gefärbt. Optisch macht er also nicht viel her, doch wenn er seinen Schnabel öffnet und anfängt zu singen, dann klingt es, als wehe Musik durch den Urwald.


Virtuose im Regenwald

Der Flageolettzaunkönig hat es in seiner Heimat zu einiger Berühmtheit gebracht. Aufgrund seines außergewöhnlichen Gesangs ist er in der Kultur der indigenen Völker so bedeutsam wie bei uns die Nachtigall. Die Einheimischen verehren den kleinen Vogel, den sie "Uirapuru" nennen. Zahlreiche Legenden ranken sich um ihn. Wer ihn singen hört, hat Glück bei der Jagd, in der Liebe oder gleich in seinem ganzen Leben. Manche Restaurantbetreiber oder Ladeninhaber vergraben sogar einen toten Uirapuru vor ihrer Tür und erhoffen sich dadurch bessere Geschäfte. Wenn der Uirapuru singt, so die Erzählungen, verstummen alle anderen Tiere im Wald und versammeln sich um ihn, um seinen Liedern zuzuhören.

Dabei hat der Gesang des Uirapuru einen ganz praktischen Zweck. Wie alle Singvögel lockt er mit seinen Melodien während der Paarungszeit Weibchen an. Am Gesang lesen die Weibchen ab, wie überlebenstüchtig ein Männchen ist. So werten sie ihn als ein Zeichen dafür, dass der Sänger offensichtlich ein futterreiches Revier erobern konnte - wie hätte er sonst so viel Zeit zum Singen! Im Amazonas ist Kommunikation mittels Gesang auch noch aus einem anderen Grund wichtig. Denn im Dickicht des tropischen Regenwalds mit einer Sichtweite von oftmals weniger als drei Metern können Tiere ihre potenziellen Partner nur schwer sehen. Rufe und Gesänge hingegen durchdringen die dichte Vegetation.

2003 stand Brumm zum ersten Mal selbst im Dickicht des Amazonas-Regenwalds. Um ihn herum war alles grün, Bäume und Büsche versperrten den Blick. Plötzlich hörte er diesen Gesang, und er wusste sofort: Das ist er - der musikalische Vogel, den er bisher lediglich von Tonbandaufnahmen kannte. Henrik Brumm wollte wissen, warum der Flageolettzaunkönig so singt. Warum klingt sein Gesang für uns Menschen wie das Spiel eines Konzertmusikers, während andere Vögel sich anhören wie Kinder beim Blockflötenunterricht? Niemand wusste es.

An der University of St Andrews in Schottland traf er die Musikwissenschaftlerin Emily Doolittle. Doolittle suchte nach Biologen, die Tierstimmen erforschen. Brumm suchte jemanden, der mehr von Musik verstand als er. Gemeinsam begannen die beiden, ein Experiment zu entwickeln, das die Frage beantworten sollte, die Brumm schon lange umtrieb: Warum klingt der Gesang des Flageolettzaunkönigs wie Musik? Das Ergebnis sollte quantifizierbar sein. Sie wollten Zahlen und Fakten, keine subjektiven Meinungen.

Natürlich wäre Brumm am liebsten selbst durch den Amazonas gereist und hätte Vogelstimmen gesammelt, aber das hätte ihm keiner bezahlt. Also nutzten Brumm und Doolittle die Datenbank Xeno-canto. In die kann jeder - ob Wissenschaftler oder Laie - Aufnahmen von Vogelgesängen hochladen. Dadurch steht Forschern eine unglaubliche Vielfalt an Vogelstimmen aus der ganzen Welt zu Verfügung.

Zuerst spielten sie den Gesang vieler verschiedener Flageolettzaunkönige mit dem Synthesizer nach. Denn die Versuchshörer sollten gar nicht wissen, dass es sich bei den Melodien um Vogelgesang handelte. Als Nächstes würfelten sie die einzelnen Töne jedes Lieds durcheinander. Tonhöhe und Tondauer veränderten sie nicht, lediglich die Reihenfolge. Das Original sowie die durchgeschüttelte Version spielten sie Probanden vor: Konzertpianisten, Garagenband-Gründern und Musikbanausen. Die sollten entscheiden, welche der beiden Varianten musikalischer klingt. Der eindeutige Sieger war die Originalmelodie. "Selbst diejenigen, die keine Ahnung von Musik hatten, empfanden so", sagt Brumm.

Da die Forscher weder die Töne selbst noch deren Dauer verändert hatten, blieb nur ein Faktor übrig. Es mussten die Tonintervalle sein, die Abstände zwischen den aufeinanderfolgenden Tönen. "Wir wissen natürlich nicht, ob der Vogel irgendeine Wahrnehmung von Intervallen oder Tonarten hat", meint Brumm. Aber darum ging es ihm auch gar nicht. Brumm wollte nicht herausfinden, ob der Flageolettzaunkönig musikalisch ist. Er wollte auch nicht wissen, ob der Vogel gar die von einigen beschworene Urmusik in sich trägt, die alle menschengemachte Musik inspiriert haben soll. Er wollte nur wissen, warum der Gesang des kleinen Vogels so wohltuend und schön klingt.

Bei genauerer Analyse der Melodien stellte sich heraus, dass der Flageolettzaunkönig tatsächlich besonders oft in sogenannten vollkommenen Konsonanzen singt. Er trällert Quarten, Quinten oder Oktaven. So bezeichnen Musiktheoretiker jeweils einen Abstand von vier, fünf oder acht Tonstufen. Diese Intervalle klingen für unsere Ohren besonders harmonisch, sie kommen auch in vielen Volks- und Kinderliedern vor. Imperfekte Konsonanzen sind im Gesang des Flageolettzaunkönigs viel seltener. Dissonanzen, die häufig im Jazz vorkommen und für Reibung sorgen, vermeiden die Vögel.


Evolution als Komponist

Dass wir vollkommene Konsonanzen als harmonisch und schön empfinden, ist nicht nur ein Konstrukt westlicher Kultur. Es hat auch etwas mit unserem ordnungsliebenden Gehirn und der Physik von Schallwellen zu tun. Bei jedem Ton schwingen die Schallwellen mit einer bestimmten Frequenz. Je schneller, desto höher. Wenn die Frequenzen zweier Töne in einem mathematisch einfachen Verhältnis zueinander stehen, also zum Beispiel eine Frequenz doppelt so groß ist wie die andere, dann klingt dieses Intervall für uns ruhig und harmonisch. Eine Oktave hat das Frequenzverhältnis zwei zu eins, eine Quinte zwei zu drei und eine Quarte drei zu vier.

"Spannend ist, warum diese eine Vogelart sich auf konsonante Intervalle spezialisiert hat", meint Brumm. Wahrscheinlich verschafft diese Art von Gesang den Vögeln einen evolutionären Vorteil. Treibende Kraft könnten die Weibchen sein. Wenn sie harmonischen Gesang bevorzugen und sich häufiger mit solchen Männchen fortpflanzten, würde sich diese Eigenschaft durchsetzen. Jede Generation wäre dann etwas musikalischer als die vorherige. Nach wie vor ungeklärt ist, warum sich diese Vorlieben für Konsonanzen gerade bei den Flageolettzaunkönigen und nicht auch bei anderen Vögeln entwickelt haben. Bisher wurde keine andere Art gefunden, die vollkommene Konsonanzen bevorzugt. Viele Vogelarten singen geradezu unmusikalisch für unsere Ohren.

Singvögel lernen ihren Gesang wie wir Menschen das Sprechen. Die Küken ahmen nach, was die Erwachsenen ihnen vorsingen. Zur Lauterzeugung nutzen Vögel jedoch nicht den Kehlkopf, sondern die Syrinx. Das Gesangsorgan befindet sich am Ende der Luftröhre und verzweigt sich in die zwei Äste der Bronchien. Dadurch können Vögel zwei Töne gleichzeitig produzieren und mit sich selbst im Duett singen.

Brumm und seine Kollegen haben herausgefunden, dass Vögel und Menschen trotz ihrer unterschiedlichen Anatomie den gleichen Mechanismus zur Schallerzeugung benutzen. Ein System, das besonders gut Fehler verzeiht. Wenn Menschen sprechen, dann öffnen und schließen sich die elastischen Stimmbänder. Die Kombination von Luftdruck und Muskelspannung der Stimmbänder erzeugt einen bestimmten Klang. Kinder, die gerade sprechen lernen, müssen sehr lange ausprobieren, welche Kombination welchen Laut entstehen lässt.

Gäbe es für jeden Laut nur eine richtige Stellung der Stimmbänder, dann wäre es unglaublich schwierig, Laute korrekt zu imitieren. Doch weil die elastischen Stimmbänder sich nicht nur öffnen und schließen, sondern dabei eine wellenförmige Bewegung ausführen, gibt es mehrere richtige Stellungen, die alle denselben Klang erzeugen. Nach dem gleichen Prinzip funktioniert die Syrinx der Vögel. Somit wird es für Kinder und Küken viel einfacher, sprechen beziehungsweise singen zu lernen. Brumm und seine Kollegen haben nicht nur dieses Prinzip bei Vögeln entdeckt, sondern auch gezeigt, dass alle Vögel - von Spatz bis Strauß - diesen Mechanismus besitzen. "Das Prinzip scheint sich bewährt zu haben."

In Großstädten wird es für Vögel jedoch zusehends schwerer, sich zu verständigen. Grund ist der Lärm, der jede Metropole einhüllt wie eine Käseglocke. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass jedes Jahr in der Europäischen Union 200.000 Menschen an Herz-Kreislauf-Krankheiten sterben, die durch konstanten Lärm ausgelöst werden. Brumm untersucht nun, ob Lärm auch bei Vögeln zu Schlafstörungen führt und chronischen Stress auslöst, ihre Zellen schneller altern lässt oder das Immunsystem bei der Arbeit stört. "Die Vögel könnten ein Modell sein, um diese Prozesse beim Menschen besser zu verstehen."

Seit Längerem untersucht Brumm Vogelpopulationen am Flughafen Berlin-Tegel. Ursprünglich wollte er testen, wie sie sich verhalten, wenn eines Tages die Terminals schließen und über den Nistplätzen im Norden der Hauptstadt Ruhe einkehrt. Doch das hat bislang nicht geklappt: "Da haben mir die Betreiber des neuen Hauptstadtflughafens einen Strich durch die Rechnung gemacht." Die Feldversuche müssen dort also noch ein paar Jahre warten. In der Zwischenzeit spielt Brumm am Max-Planck-Institut in Seewiesen den Vögeln Münchner Verkehrslärm vor.

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Auf den Punkt gebracht

• Laute Umgebung macht es Vögeln schwerer, sich zu verständigen. Sie passen deswegen ihren Gesang an und singen ebenfalls lauter - ein Phänomen, das man als Lombard-Effekt bezeichnet.

• Der Gesang des Flageolettzaunkönigs klingt für menschliche Ohren wie Musik, denn der Vogel singt in vollkommenen Konsonanzen. Die Tonfolge besteht aus Quarten, Quinten oder Oktaven. Wie die Vögel selbst ihren Gesang wahrnehmen und ob sie ein Konzept von Konsonanz, Tonart oder Motiv haben, ist unbekannt.

• Vögel und Menschen erzeugen Töne auf dieselbe Weise: Die Stimmbänder von Säugetieren und die Stimmlippen der Syrinx bei Vögeln schwingen in denselben Mustern aus sich überlagernden Wellen.


Glossar

Flageolettzaunkönig: Der zur Familie der Zaunkönige gehörende Vogel lebt im Amazonas und hat dort ein großes Verbreitungsgebiet. Aufgrund ihres außergewöhnlichen Gesangs spielt die Art eine herausragende Rolle in der Mythologie und Folklore Südamerikas, auch der englische Name (musician wren) deutet auf eine besondere Musikalität des Vogels hin. Die nächsten Verwandten des Flageolettzaunkönigs (der Braunbrust- und der Brillenzaunkönig) haben deutlich einfachere Gesänge. Nur der Flageolettzaunkönig benutzt bevorzugt vollkommene Konsonanzen in seinem Gesang.

Lombard-Effekt: Nach dem französischen Arzt Étienne Lombard benanntes Phänomen, bei dem Menschen (und auch manche Tiere) ihre Kommunikation an die Lautstärke ihrer Umgebung anpassen. Steigt der Lärmpegel in der Umgebung an, reden Menschen unwillkürlich lauter. Sprechen beispielsweise mehrere Personen in einem kleinen Raum, kann sich so die Lautstärke darin immer weiter hochschaukeln.


Der Artikel mit Abbildungen ist im PDF-Format zu finden unter:
https://www.mpg.de/10660003/W002_Biologie_Medizin_048_053.pdf

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Quelle:
MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftmagazin der Max-Planck-Gesellschaft
Ausgabe 2/2016, Seite 48-53
Herausgeber: Wissenschafts- und Unternehmenskommunikation der
Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.
Redaktionsanschrift: Hofgartenstraße 8, 80539 München
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E-Mail: mpf@gv.mpg.de
Das Heft als PDF: www.mpg.de/mpforschung
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. September 2016

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