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ZOOLOGIE/862: Feldhasen - Schwanger werden, wenn man schon schwanger ist (verbundjournal)


verbundjournal 84 - Dezember 2010
Das Magazin des Forschungsverbundes Berlin e.V.

Schwanger werden, wenn man schon schwanger ist

Von Kathleen Röllig


Ein einzigartiges biologisches Phänomen macht den Feldhasen zur Fortpflanzungsmaschine. Modernste Untersuchungsmethoden lassen das eigentlich Unsichtbare sichtbar werden und verdeutlichen ein Erfolgskonzept.


Um sich erfolgreich fortzupflanzen, hat jedes Lebewesen seine Tricks und Kniffe. Im Gerangel um potentielle Paarungspartner legen sich männliche Tiere zum Beispiel ein ausladendes Federkleid, eine imposante Mähne oder sperrigen Kopfschmuck zu. Wer hat, der kann. Die Erfolgreichsten produzieren die meisten Nachkommen und verewigen damit ihr eigenes Erbgut. Doch auch weibliche Säugetiere haben neben sichtbaren auch vielfältige versteckte Mechanismen entwickelt, die ihren eigenen Fortpflanzungserfolg garantieren sollen. Diese Strategien sind manchmal nicht so offensichtlich und ihr Effekt nicht immer klar erkennbar.

So war es bis vor kurzem auch beim Europäischen Feldhasen. Er ist dem Wildkaninchen zwar verwandt, unterscheidet sich jedoch erheblich in seiner Lebensweise und Fortpflanzungsbiologie. Schon lange stand er im Ruf, einen Mechanismus zu beherrschen, der in der Literatur als "Superfetation" bezeichnet wird: eine erneute Befruchtung während einer bereits bestehenden Trächtigkeit - "schwanger werden, wenn man schon schwanger ist". Bereits in der Antike vermutete Aristoteles einen solchen Mechanismus bei Feldhasen. Die bisherigen Erkenntnisse waren jedoch widersprüchlich.

Unsere Untersuchungsobjekte befanden sich auf der Feldforschungsstation des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) in Berlin. Die Zuchtpaare waren in geräumigen Käfigen untergebracht, die so in zwei Hälften unterteilbar waren, dass es entweder ein großes gemeinsames oder zwei getrennte "Schlafzimmer" gab. Der Eisprung bei Häsinnen erfolgt nicht periodisch wie bei Menschen, sondern induziert: Es bedarf des Deckaktes mit einem Rammler, um ihn auszulösen. So erfolgt der Eisprung zu dem Zeitpunkt, an dem die Samenzellen ihre Wanderung zum Ort der Befruchtung im Eileiter antreten.

In der Studie gab es zunächst das Konzept des "Onenight-stands": Häsin und Rammler hatten nur eine Nacht Zeit, danach wurden die "Schlafzimmer" wieder getrennt. Wie erwartet, kamen nach durchschnittlich 42 Tagen ein bis sechs Jungtiere zur Welt. Nun bekamen die Zuchtpaare dauerhaft ihr "gemeinsames Schlafzimmer": Jetzt erfolgte eine weitere Geburt bereits 38 Tage nach der ersten. Schon früher hatte man dies in anderen Zuchten beobachtet. Unsere Videobeobachtungen zeigten, dass Deckakte des Rammlers mit der hochtragenden Häsin drei bis vier Tage vor der Geburt stattfanden. Deshalb bekamen nun die Rammler nur für einen kurzen Zeitraum vor einem errechneten Geburtstermin Zugang zu einer hochtragenden Häsin. Die Häsinnen wurden trotzdem wieder trächtig. Erfolgte also eine weitere Befruchtung vor der Geburt?

Wenn es Superfetation gibt, dann musste man sie auch irgendwie sichtbar machen können. Dabei half eine Technik, wie sie heutzutage auch bei schwangeren Frauen routinemäßig angewandt wird: die Ultraschalluntersuchung. Das Besondere an ihr ist ein enorm hohes Auflösungsvermögen zur detaillierten Beurteilung von Strukturen. Insgesamt führten wir über 600 Ultraschalluntersuchungen an tragenden Häsinnen durch. Mit Hilfe der Daten konnten wir genaue mathematische Kurven zur Entwicklung der Embryonen in der Gebärmutter berechnen.

Besonderes Augenmerk legten wir auf hochschwangere Häsinnen, die erneut gedeckt worden waren. Bereits zwei Tage nach der Geburt hatten diese erneut Embryonen in der Gebärmutter. Die Embryonen waren allerdings typisch für den sechsten Tag der Trächtigkeit. Demzufolge musste also bereits vor der Geburt eine Befruchtung stattgefunden haben. Häufige Ultraschalluntersuchungen vor einem Geburtstermin tragender Häsinnen brachten den Beweis: Zwei verschiedene Generationen von Gelbkörpern waren an den Eierstöcken sichtbar, was zeigte, dass weitere Eisprünge in hochtragenden Häsinnen stattgefunden hatten. Kurz vor einer Geburt befanden sich demnach bereits frühe Embryonen im Eileiter nicht weit von fertig entwickelten Jungtieren in der Gebärmutter.

Nun sollte Superfetation experimentell ausgelöst werden - durch künstliche Besamung. Mit dem Verfahren der Elektroejakulation, welches ursprünglich entwickelt wurde, um von querschnittsgelähmten Männern Sperma zu gewinnen, um auch ihnen eine Vaterschaft zu ermöglichen, entnahmen wir frisches Sperma von Rammlern und besamten damit hochtragende Häsinnen vier Tage vor einer erwarteten Geburt am 38. Tag. Um den Eisprung auszulösen, wurde der Deckakt des Rammlers mit einer Hormonspritze simuliert. Wie erhofft, erblickten künstlich gezeugte Häschen ca. 38 Tage nach der ersten Geburt das Licht der Welt.

Genetische Analysen zeigten, dass entgegen der bisherigen Annahme Samenzellen nicht aus einem früheren Deckakt gespeichert werden, sondern tatsächlich den langen Weg durch die hochtragende Gebärmutter für eine neuerliche Befruchtung zurücklegen. Außerdem werden mit Superfetation größere Würfe geboren. Damit könnte eine Häsin über die ganze Reproduktionssaison von Januar bis September pro Jahr ca. 35 Prozent mehr Jungtiere gebären, als wenn die Befruchtung in einer nicht tragenden Häsin stattfände.

Trotzdem werden Feldhasen in deutschen Landen immer seltener. Deshalb führte das IZW vor einigen Jahren eine Studie an Wildtieren durch, um herauszufinden, ob möglicherweise Fortpflanzungsprobleme ursächlich sind. Dies war nicht der Fall, man fand aber auch keine Hinweise auf Superfetation. Mit unseren Erkenntnissen werteten wir die Videoaufzeichnungen der damaligen Ultraschalluntersuchungen erneut aus: Bei mehreren hochtragenden Häsinnen stellten wir alte und frische Gelbkörper auf den Eierstöcken fest, ein Indiz dafür, dass bereits eine Befruchtung stattgefunden haben musste. Superfetation kommt also, wie oft behauptet, nicht nur in Zuchten, sondern auch häufig bei wilden Feldhasen vor.

Mit den Erkenntnissen der Studie reiht sich Superfetation nun in die Vielzahl der besonderen Mechanismen ein, die weibliche Säugetiere entwickelt haben, um ihre Gene möglichst effektiv zu verbreiten.


Dr. Kathleen Röllig hat ihre Dissertation in der Forschungsgruppe Reproduktionsmanagement unter Leitung von Dr. Thomas Hildebrandt am IZW erstellt. Die Gruppe beschäftigt sich mit der Erforschung der Reproduktion bei Zoo- und Wildtierspezies und hat außergewöhnliche Erfolge mit der künstlichen Besamung von Elefanten und Nashörnern erzielt.

Nature Communications 1, 78 doi:10.138/ncomms1079.


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Quelle:
verbundjournal 84, Dezember 2010, S. 16-17
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Dezember 2010