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KOMMENTAR/081: "Artenschutz" für die deutsche Wissenschaftssprache (SB)


Die Zeitschrift "Angewandte Chemie" wird für ihr Engagement für Deutsch als Fachsprache geehrt


Aussterbende Tier- oder Pflanzenarten bekommen, damit ein Naturfreund ihren Niedergang bewußt miterleben kann, einen Platz auf einer Artenschutzliste. Alle dort verzeichneten oder ausgezeichneten Tiere und Pflanzen stehen unter Naturschutz und dürfen somit nicht geschossen, gepflückt und schon gar nicht verzehrt werden. Darüber hinaus werden sie, gewissermaßen als weiteres Privileg gegenüber den nicht aussterbenden Arten, in Parks oder Tiergärten angesiedelt, abgelichtet, gezeichnet und auf verschiedenste Weise konserviert, auf daß sie dem menschlichen Zugriff nicht ganz verlorengehen.

Mit Sprachen verfährt man ganz ähnlich. Die letzten Laute eines aussterbenden Idioms werden auf Tonträgern konserviert, auf daß sie ihr eigenes Volk überleben, auch wenn sie nie mehr jemand verstehen oder gar als Sprache benutzen wird.

Doch was soll man vor diesem Hintergrund nun davon halten, wenn das Aushängeorgan einer deutschen Gesellschaft wie der der Deutschen Chemiker e.V. mit einem Kulturpreis für das darin deutlich vorgetragene Engagement für Deutsch als Fachsprache geehrt und ausgezeichnet wird, zumal das Englische in wissenschaftlichen Veröffentlichungen längst überwiegt? Wird auch hier das letzte Aufflackern und verzweifelte Festhalten an einer sterbenden Tradition gefeiert?

Ebenso wie die Aktionen für aussterbende Tier- oder Pflanzenarten zwar an das Bewußtsein der Öffentlichkeit appellieren, aber den Akt des Sterbens nicht mehr verhindern können, schreiben auch Auszeichnungen wie diese nur den Status quo fest. Anders gesagt kommt die deutsche Sprache als Wissenschaftssprache in der Chemie wie auch in anderen Fachgebieten als Ausdrucksform innovativer Gedanken inzwischen so gut wie gar nicht mehr vor.

Das zeigt sich sogar in der Begründung der Jury für die diesjährige Vergabe des von der Eberhard-Schöck-Stiftung und dem Verein Deutsche Sprache ausgelobten Kulturpreises Deutsche Sprache 2007 in der Sparte "Institutionen" an die Zeitschrift "Angewandte Chemie", die weltweit für die bedeutendste Fachzeitschrift für Chemie gehalten wird:

Weil die Angewandte Chemie auf Englisch und auf Deutsch erscheint, trägt sie zur Weiterentwicklung der deutschen Sprache bei. Der Kulturpreis Deutsche Sprache möchte mit dieser Entscheidung auf die Bedeutung des Deutschen als Fachsprache in den Naturwissenschaften aufmerksam machen.

"Die Auszeichnung zeigt, dass es trotz der überwältigenden Bedeutung des Englischen richtig und wichtig ist, die deutsche Ausgabe weiterzuführen", sagt Dr. Peter Gölitz, seit 1982 Chefredakteur der Angewandten Chemie und maßgeblich mitverantwortlich für ihren internationalen Aufstieg. "Neben der wissenschaftlichen Qualität bietet die Zeitschrift damit allen, die sich auf neuen Gebieten weiterbilden wollen oder müssen, z.B. Studierenden, mit Übersichtsartikeln und anderen Beiträgen in ihrer Muttersprache einen wertvollen Dienst, denn in ihrer Muttersprache erfassen selbst diejenigen leichter und schneller einen Text, die das Englische fließend beherrschen."
(idw, 4. Mai 2007)

Weder wird der aufoktroyierte angelsächsische Führungsanspruch kritisiert oder angegriffen, noch wird - in dieser Begründung - dem Deutschen als Fachsprache mehr zugebilligt, als eine Zeitersparnis in der Informationserfassung für Muttersprachler. Um aber Deutsch als Sprache für die wissenschaftliche Publikation zurückzugewinnen, braucht es stärkere Argumente als den schnellen Zugriff auf wissenschaftliche Erkenntnisse, denn genau dies führt auch die schwer zu widerlegende andere Seite an, die für "eine" weltweit verstandene, vorzugsweise englische Wissenschaftssprache plädiert, um den schnellen Austausch zu beflügeln. Daß sich Wissenschaft allerdings nicht bloß auf einen möglichst reibungslosen Datentransfer reduziert, ist inzwischen in Vergessenheit geraten. So hieß es vor einiger Zeit in der Radiosendung "Wort für Wort" von Uwe Bork "Wird Deutsch zum Dialekt?" im Deutschlandfunk:

Man muss nicht soweit gehen wie der britische Biologe und Wissenschaftshistoriker Theodore Savory, der die Wissenschaft kurzerhand zum "natürlichen Feind der Sprache" erklärte, einleuchtend erscheint viel eher der Satz des - deutschen - Nobelpreisträgers Werner Heisenberg, jedes wissenschaftliche Verständnis müsse auf der gewöhnlichen Sprache beruhen, "denn nur dort können wir sicher sein, die Wirklichkeit zu berühren."
(DLF, 1. Februar 2006)

Daß Denkprozesse durch die Sprache gesteuert werden, Wissenschaft und Sprache somit unmittelbar zusammenhängen, hat der allgemein anerkannte Fürst der Dichter und Denker sogar noch drastischer formuliert:

"Wer die deutsche Sprache versteht und studiert, befindet sich auf dem Markte, wo alle Nationen ihre Waren anbieten, er spielt den Dolmetscher, indem er sich selber bereichert", schrieb 1827 Johann Wolfgang von Goethe dem schottischen Historiker Thomas Carlyle. Wer deutsch nicht beherrschte, dem fehlte bald der unmittelbare Zugang zu Ideen und bloßen Kenntnissen, die gar nicht von Deutschen selber herrühren mussten.
(DLF, 15. Juni 2007)

Dazu muß man wissen, daß zu Goethes Zeiten die wissenschaftlich arbeitenden Deutschen und Russen mehrere, selbst ganz abgelegene Sprachen beherrschten, aus denen sie laut Eberhard Straub - dem Autor des Dokumentarberichts "Sprechen sie deutsch? - Über die Macht der Sprache" (DLF) - alles Wichtige präzise ins Deutsche übersetzten, um es dann in der Welt zu verbreiten. Die differenzierte Ausdrucksmöglichkeit der deutschen Sprache prädestinierte sie damals ebenso wie heute für das Verfassen von Theorien, Hypothesen und Gedanken wie keine andere, und daran hatten Deutsche Dichter und Denker gearbeitet:

Als geistige Feinmechaniker hatten Deutsche ab dem späten 18. Jahrhundert außerdem in allen Wissenschaften die Begriffe geschaffen oder verfeinert, mit deren Hilfe erst ein bis zur Pedanterie ernsthaftes wissenschaftliches Gespräch möglich wurde, das sich von einer verplauderten Tabakrunde mit Portwein in Oxford oder einer geistreich-pointenlüsternen Konversation in Paris unterschied.

[...]

Eine Sehnsucht nach einer einzigen Umgangssprache gab es damals nicht. Zur Vorstellung der europäischen Kultur als eines großen Zusammenhanges gehörte die Freude an der Vielfalt der Sprachen als Variationen einer übergeordneten Einheit.
(DLF, 15. Juni 2007)

Im Gegensatz zur englischen Sprache, die, wenn schon nicht zum Idiom der Idioten, dann doch immer mehr zum Medium derjenigen verflacht, die eigentlich nichts zu sagen haben, verdrängte das Deutsch seinerzeit nicht die übrigen Sprachen, es trat gewissermaßen bereichernd zu den klassischen Wissenschaftssprachen - Latein, Französisch oder Italienisch - hinzu. Daß es besonders im 19. Jahrhundert von allen sprachlichen Möglichkeiten bevorzugt wurde, lag u.a. an seiner Eignung für diesen Zweck, was sich schon allein darin zeigte, daß deutsche Wissenschaftler in allen Fakultäten und wissenschaftlichen Gebieten zu den Vorreitern gezählt wurden. Dazu heißt es u.a. im SCHATTENBLICK\DIE BRILLE unter dem Index LITERATURBETRIEB/041: Sprache 7

... Zum Beispiel war Deutsch vor dem ersten Weltkrieg die mit Abstand wichtigste Fremdsprache in den USA. Ein Grund neben anderen war die Bedeutsamkeit der deutschen Wissenschaft. Jeder berühmte deutsche Wissenschafter unterrichtete ausländische Schüler, lehrte im Ausland, vertrat seine Wissenschaft auf internationalen Konferenzen, und zwar auf Deutsch, zum Beispiel Robert Koch, Siegmund Freud, Max Weber oder Albert Einstein. In internationalen Bibliographien war mindestens ein Drittel aller Titel deutschsprachig, wobei nicht alle aufgeführten Werke auch von Deutschen geschrieben worden waren.
(Schattenblick 5. Januar 2007)

Auch in der Chemie werden aus dieser Zeit viele grundlegende Erkenntnisse mit deutschen Namen verknüpft: Zu der Entwicklung der neuzeitlichen Chemie gehört u.a. die Spektralanalyse (Kirchhoff und Bunsen 1859), das Massenwirkungsgesetz (Guldberg und Waage 1867), das Periodensystem der Elemente (Mendelejeff und Meyer 1869). Dimitri Iwanowitsch Mendelejeff war zwar Russe, lehrte aber auch als Privatdozent in deutscher Sprache, u.a. 1859-1860 in Heidelberg.

Auch in der organischen Chemie wurden bedeutende deutsche Fortschritte erzielt, so durch die künstliche Darstellung des Harnstoffs (Wöhler 1828), die Arbeiten A.W. Hofmanns über Anilinfarben (1858), die Darstellung des Krappfarbstoffs (Graebe und Liebermann 1896) und des Indigos (v. Baeyer 1878) sowie die künstliche Darstellung von Frucht- und Traubenzucker (Emil Fischer 1890). Dabei sind weitere bedeutende deutsche Chemiker, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts einen Namen machten, wie der Chemie-Nobelpreisträger Fritz Haber, der zusammen mit Carl Bosch die Ammoniak-Synthese im Industriellen Maßstab (1909) erfand, noch gar nicht erwähnt.

Die weitere Entwicklung des Deutschen als Wissenschaftssprache kann man ebenfalls recht eindrücklich in DIE BRILLE/LITERATURBETRIEB/041 nachlesen:

Nach dem Ersten Weltkrieg war deutsch für fünf bis sechs Jahre auf internationalen Konferenzen verboten und mußte große Einbußen im Ausland erleben. Ein weiterer entscheidender Verlust für die deutsche Wissenschaft war die Vertreibung vieler Wissenschafter ins Exil. Bis 1936 gingen mindestens 1.600 deutsche Hochschullehrer meistens in angelsächsische Länder. Deutsch als internationale Wissenschaftssprache hatte aber noch nicht endgültig an Bedeutung verloren. Bis in die 80er Jahre war der deutsche Anteil an wissenschaftlichen Publikationen noch enorm hoch. Danach veröffentlichte die nächste Wissenschaftergeneration zunehmend in englisch. Inzwischen wird die deutsche Sprache international entbehrlich. Denn Wissenschaft, Handel, Unterhaltungsindustrie, Musik, Sport wird auf englisch betrieben.
(Schattenblick 5. Januar 2007)

Entsprechend enttäuschend ist dann auch der Eindruck, den man gewinnen muß, wenn man das mit dem Kulturpreis prämierte Magazin dann genauer in Augenschein nimmt. Zwar glaubt man im ersten Moment, es tatsächlich mit einer überwiegend deutschsprachigen Ausgabe zu tun zu haben, denn das ausführliche Inhaltsverzeichnis mit seinen Kurzbeschreibungen, die ersten und auch die letzten Artikel sind tatsächlich in deutscher Sprache verfaßt. Darüber hinaus ist die Einteilung der einzelnen Rubriken, die sich übersichtlich auf den geraden Seitenziffern oben links wiederholen, erfreulicherweise ebenfalls in Deutsch. Eine genaue Zählung kommt allerdings auf einen ganz anderen Schnitt: Von den insgesamt 165 Seiten der Januarausgabe (2007-119/3) sind insgesamt nur 50 tatsächlich in deutscher Sprache verfaßt. Das ist nicht einmal ein Drittel der gesamten Zeitschrift.

Wenn das schon ein Grund zum Feiern ist, dann sieht es wahrlich düster aus für die deutsche Dokumentation und Publikation wissenschaftlicher Errungenschaften. Dazu kommt, daß sich die deutsche Sprache nicht einfach eins zu eins austauschen läßt, ohne dabei zu degenerieren:

...Linguisten warnen vor einer Vernachlässigung der Sprachentwicklung. Die Sprachfähigkeit des deutschen Nachwuchses hat ihrer Einschätzung nach deutlich abgenommen. Die Möglichkeit, komplexe Texte noch verstehen oder auch sprechen zu können, sei bei vielen Schülern und auch Studenten in den ersten Semestern sehr schwach. Damit schwindet zugleich das Vermögen, Widersprüche überhaupt erkennen und formulieren zu können. Auch einen Standpunkt zu benennen oder zu formulieren, wird angesichts der Datenverarbeitung im virtuellen Raum irrelevant, wichtig sind nur noch die Informationen, nicht ihre Auswertung.
(Schattenblick 5. Januar 2007)

Inzwischen werden u.a. von den Medien für wissenschaftliche Publikationen händeringend Forscher oder Wissenschaftler gesucht, die über ihre Arbeit auch so schreiben können, daß Laien sie interessant finden und ihre Bedeutung verstehen. Die Klaus Tschira Stiftung in Heidelberg bietet teure Kurse für angehende Wissenschaftler an und belohnte mit dem "Klaus Tschira Preis für Verständliche Wissenschaft" im Jahr 2006 die klare Darstellung von Forschungsergebnissen.

All das sind hilflose Versuche, der zunehmenden Sprachlosigkeit und der zunehmenden Tendenz, Englisch in den Wissenschaften zu privilegieren, entgegenzuwirken, die den Tod oder das Abstellgleis für eigenständiges Denken und damit auch für die deutsche Wissenschaft bedeuten.

21. Juni 2007