Schattenblick →INFOPOOL →NATURWISSENSCHAFTEN → CHEMIE

KOMMENTAR/093: Kassava - Gift gegen den Hunger (SB)


Gentechnik oder schleichende Vergiftung


Auf Touristen mag das Tage dauernde Zubereitungsritual der Wurzeln der Maniok- oder Kassavapflanzen, eine der wichtigsten Stärkelieferanten und Haupternährungsquelle der Dritten Welt, einen geradezu folkloristischen Reiz ausüben. Die alte Tradition der Kassavazubereitung reicht Jahrtausende zurück und hat sich bis heute kaum verändert. Doch das Ritual ist überlebenswichtig. Die Pflanzen sind hochgiftig, wenn sie nicht sorgfältig nach bestimmten Regeln auf- und zubereitet werden, die Einheimische durch Versuch und tödlichen Irrtum entwickelt haben. Maniokpflanzen sind große, verholzte Halbsträucher mit dicken Wurzelknollen, handförmig geteilten Blättern und dreiknöpfigen Kapselfrüchten.

Die Wurzel von Maniok (Manihot esculenta), Euphorbiaceae, Crotonoideae (Wolfsmilchgewächse, Kroton-Geschwister), stammt aus Südamerika, von wo aus die Portugiesen sie im 16. Jahrhundert in viele andere tropische Länder und nach Afrika brachten und dort kultivierten. Heute wird ihre Anbaufläche auf etwa 5 Millionen Hektar Land geschätzt. Etwa 500 Millionen Menschen sind von Kassava abhängig. In die reichen Industrieländer wird das stärkehaltige Gemüse jedoch, im Gegensatz zu vielen anderen exotischen Früchten und hochwertigen Grundnahrungsmitteln wie Reis, Mais und Getreide, gar nicht erst eingeführt. Während also in manchen Ländern der Überfluß noch durch schmackhafte und vitaminreiche Importe verstärkt wird, bleibt für die einheimische Bevölkerung, und hier vor allem die ärmeren Menschen nur das reine Gift. Krasser als mit dem Maniokanbau können die sozialen Unterschiede auf dieser Welt überhaupt nicht mehr dokumentiert werden.

Besonders in Zentralafrika (vor allem Kamerun, Gabun und Kongo) wird Maniok in vielen Gerichten verwendet. Aus dem Mehl wird oft eine Art Kloßteig (Fufu) hergestellt. Die Knolle wird gerne im Dampf oder in Wasser gekocht und nicht selten frittiert. Auch die Maniokblätter werden mit Erdnußpaste, Ölpalmenfrüchten oder Kokosmilch gegessen. Ebenfalls häufig (und für europäische Gaumen sehr gewöhnungsbedürftig) sind in Palmblätter eingewickelte Maniokstangen, die Bibolo genannt werden.

Die rohen Wurzeln enthalten bis zu 600 mg/kg des cyanogenen Glykosides Linamarin. Bereits 400 Gramm davon sind für den Menschen eine tödliche Dosis. Das Glycosid wird im Darm in Zucker (D-Glucose) und Blausäure zerlegt, ein für Menschen (nicht für Pflanzen und Bakterien) äußerst tödliches Gift. Etwa 1 Milligramm der reinen Blausäure pro Kilogramm Körpergewicht (für den Durchschnittsmenschen also etwa 70 Milligramm) reichen, um das Atemzentrum zu lähmen und die eisenhaltigen Atmungsenzyme der Zellen auszuschalten. Glykosidisch gebunden geht das nicht so schnell.

Das Glykosid wird in der Vakuole der Pflanzenzelle gespeichert und hat zunächst keine toxische Wirkung. Wird die Pflanze jedoch verletzt (z.B. durch Fraßfeinde), gelangt die Substanz in Kontakt mit dem Enzym Linamarase, das ebenfalls in der Pflanze enthalten ist, und D-Glucose wird abgespalten. Das nun entstandene Acetoncyanhydrin kann spontan oder durch das Enzym Hydroxynitril-Lyase katalysiert zu Aceton und Blausäure zerfallen.

Um den Giftanteil auf die gleiche Weise, d.h. durch Zerkleinern der Pflanze, auf ein verträgliches Maß zu reduzieren, benötigt man mindestens fünf Tage.

Die gewöhnliche Methode, das Cyanid zu entfernen, besteht darin, die Pflanze zu Mehl zu mahlen und dann mit kochendem Wasser zu einer Paste zu verarbeiten. Trotz größter Sorgfalt werden bei diesem Vorgang nur etwa 60% der Blausäure entfernt.

Bei einer alternativen Methode wird die Pflanze zu Mehl gemahlen und mit Wasser vermischt. Anschließend wird das Gemisch im Schatten dünn (ca. 1 cm) ausgebreitet. Dort läßt man es für 5 bis 6 Stunden ruhen. Dabei soll die Blausäure ausgasen.

Es bleibt immer noch genug davon zurück, daß das Naturprodukt anschließend keineswegs gesund und bekömmlich wäre. Die Vergiftung erfolgt nur so schleichend, daß sie kaum noch wahrgenommen wird. Bei der ohnehin vergleichsweise geringeren Lebenserwartung in diesen Ländern werden bei Todesfolge selten die Ernährungsgewohnheiten in Frage gestellt. Die bekannteste Krankheit, die direkt mit Maniok in Verbindung gebracht wird, ist Konzo, eine erwiesene Cyanid-Vergiftung, von der vor allem Kinder betroffen sind und die sich in Form einer unheilbaren Lähmung äußert, welche die Beine befällt.

Der anpassungsfähige, erwachsene menschliche Organismus kann sich an ein gewisses Maß von Giften durchaus gewöhnen. Einem Europäer würde aber das erste Kassavagericht, das ihm angeboten wird, schlecht bekommen.

Bei der traditionellen Zubereitung werden die etwa möhrengroßen, weißen Wurzeln sorgfältig geschält, sobald sie von den Frauen und Kindern aus dem Boden gezogen wurden. Anschließend putzt man sie mit einfachen bis primitiven Werkzeugen, um sie dann zu zerschneiden, zerstampfen und zu entsaften. Der Brei wird dann gewässert, ausgedrückt, sonnengetrocknet und schließlich über dem Holzfeuer erhitzt, bis viele der giftproduzierenden Verbindungen zerstört worden sind. Selbstverständlich werden durch diese aufwendige Zubereitungsform auch andere Verbindungen denaturiert und verändert, z.B. lebenswichtige Vitamine oder sekundäre Pflanzeninhaltsstoffe, die gemeinhin das frische Gemüse so gesund und wertvoll machen. Gibt man dem Frischgemüse den Vorzug, bekommt es einem jedoch schlecht. Und das kommt trotz besseren Wissens immer wieder vor. Dazu sagte Richard Sayer von der Ohio-State-University im Deutschlandfunk:

Es gibt viele Studien über die Wirkungen von schlecht aufbereitetem Kassava. Das reicht von Magenschmerzen über Schilddrüsenstörungen bis hin zu Erkrankungen des Zentralen Nervensystems und dem Tod. Schwere Folgen treten vor allem in Hunger- und Bürgerkriegsregionen auf, denn dort haben die Leute nicht genügend Zeit, um das Kassava richtig aufzubereiten. Weil sie hungern, sind sie zudem gesundheitlich geschwächt. Das verschlimmert die Vergiftungsprobleme mit den Cyaniden.
(Deutschlandfunk, 28. Juli 2003)

Richard Sayer gehört zu jenen Forschern, die speziell diese Vergiftungsproblematik und den Hunger in Dritte-Welt-Ländern für eigene Zwecke ausnutzen, um z.B. Erfahrungen mit gentechnischen Methoden zu sammeln.

Er manipulierte unter dem Vorwand der Nächstenhilfe und weil die Menschen in den Entwicklungsländern angeblich nichts anderes essen wollen, zunächst einmal die Blätter der Pflanze und war von seinem Erfolg selbst überrascht.

Unserem derzeitigen Wissen zufolge sind mindestens drei Gene an der Bildung des Linamarins beteiligt. Bei unserer Arbeit haben wir uns auf das erste konzentriert, damit die Pflanze kein Linamarin mehr herstellt. Wir haben dieses erste Gen in den Blättern abgeschaltet. In den Blättern fanden wir daraufhin zwischen 60 und 95 Prozent weniger Linamarin. Als wir den Linamarin-Gehalt in den Wurzeln gemessen haben, war der Gehalt darin um 99 Prozent gesunken. Das war eine große Überraschung, denn die Wurzeln können durchaus auch selbst Linamarin herstellen. Aber sie scheinen sich lieber von den Blättern versorgen zu lassen.
(Deutschlandfunk, 28. Juli 2003)

Sayer hält diese Verteilung des Giftes für ideal, denn wenn in den Blättern noch etwa ein Drittel Linamarin erhalten bleibt, hielte das Tiere und Insekten fern, die die giftigen Kassavablätter nicht fressen. Da Maniok einen geringen Gehalt an Protein (nur ca. 1,2 %) und nur sehr wenige essenzielle Aminosäuren (Gefahr des Kwashiorkor- Syndroms) hat, verzehren bei stark maniokbasierter Ernährung viele Menschen zusätzlich zur Knolle auch die proteinreichen Maniok-Blätter, um Mangelerscheinungen entgegenzuwirken. Und das könnte sich beim vermeintlich entgifteten Gen-Maniok möglicherweise verheerend auf die Gesundheit auswirken.

Doch den weniger giftigen Maniokpflanzen stehen auch die einheimischen Bauern äußerst skeptisch gegenüber. Zwar sind sie über die Gefahren, die gentechnisch veränderte Pflanzen auf die einheimische Flora ausüben könnten, nur schlecht informiert, doch befürchten sie selbst bei konventionell in diese Richtung gezüchteten Formen, daß weniger giftiges Kassava sehr viel eher gestohlen werden könnte.

Ein Berater im Bereich biologische Sicherheit, Hartmut Meier, der in der Sendung zu Wort kam, redete wortwörtlich um den heißen Kassavabrei herum:

Das ist wirklich ein großes Problem, ob wir hier eine Lösung produziert haben, die tatsächlich die Probleme beseitigen kann. Erstens ist es ja so, daß in vielen Gebieten solche Notfälle ja nicht regelmäßig über viele Jahre auftreten. Es ist dann relativ schwierig für Landwirte zu entscheiden, welche Sorten von Kassava sie denn nun pflanzen. Ob denn vielleicht in einem halben Jahr eine Hungersnot sein wird, das ist also eine Frage der Einschätzung der Zukunft. Das heißt, es herrscht eine etwas komplexere Lage, so daß man jetzt nicht einfach sagen kann, mit einer süßen, mit einer nichtgiftigen Kassavasorte wären diese Probleme erledigt.
(Deutschlandfunk, 28. Juli 2003)

Der Hunger, der früher schon den Anbau giftigen Kassavas rechtfertigte, soll nun auch brisante Genexperimente unausweichbar notwendig erscheinen lassen. Ganz gleich, ob die Bauern gentechnisch veränderte Lebensmittel überhaupt annehmen wollen oder nicht, werden in afrikanischen Versuchsanstalten schon erste Feldexperimente durchgeführt.

Wenn diese Phase positiv abgeschlossen wird, sollen Setzlinge an die Bauern unter so günstigen Bedingungen verteilt werden, daß sie kaum "Nein" sagen können. Erfahrungsgemäß handeln sich die Bauern bei solchen Geschäften gewisse Verpflichtungen und Verbindlichkeiten ein wie den ausschließlichen Bezug ihres Saatgutes oder den für die empfindlichen transgenen Pflanzen passenden Düngemittel bei dieser Firma, so daß sie zunehmend in Abhängigkeit von ihren amerikanischen Lieferanten geraten.

Daneben läuft an der Ohio-State-University noch ein anderes gentechnisches Projekt: Kassava, das genauso giftig ist wie das normale - in dem aber das Linamarin selbst so verändert wird, daß es in nur einem Tag Aufbereitung zerstört werden kann. Möglicherweise könnte dieses Produkt bei skeptischen Bauern größere Akzeptanz finden.

Man fragt sich allerdings, warum um ein derartig giftiges Nahrungsmittel, das auch nach erfolgreicher Genmanipulation immer noch Linamarin in den Wurzeln und Blausäure im Darm bilden kann, so ein Aufwand getrieben wird, wenn es den europäischen Qualitätsansprüchen und -richtlinien keineswegs genügen würde und für das es mit Sicherheit schmackhafteren und nährstoffreicheren Ersatz aus einheimischen Pflanzen geben könnte.

Allerdings ist Maniok, Kassava bzw. Tapioka derart preiswert, daß es teilweise auch schon als Futterpflanze für die Fleischproduktion in den Industrienationen verwendet wird, da es einen der billigsten Grundstoffe für das Tierfutter darstellt. Schon eine vermehrte Nachfrage in diesem Bereich würde in den Ursprungsländern zu exportorientierten Monokulturen führen und kann damit die Ernährung der Menschen gefährden.

Mit Sicherheit haben die Forschungen am Agrarprodukt Kassava also nicht die gesunde Ernährung der Bevölkerung in der Dritten Welt im Auge. Ganz gleich, wie optimal das genmanipulierte Produkt oder die traditionelle Zubereitung den Linamaringehalt reduziert, der verbleibende Rest reicht aus, daß in afrikanischen Krankenhäusern immer wieder Patienten mit Blausäure-Vergiftungen eingeliefert werden. Darüber hinaus gibt es viele Fälle von chronischen Gesundheitsproblemen, die gar nicht erst in die Hospitäler kommen, von den verheerenden Sterblichkeitsraten in den betroffenen Ländern einmal abgesehen.

Erstveröffentlichung 2003
neue, aktualisierte Fassung

25. August 2009