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RATGEBER/297: Vanillin, der pflanzliche Appetitzügler (SB)


VON APFELESSIG BIS ZITRONE

Bewährte Alltagschemie einfach erklärt

Vanillin als pflanzlicher Appetitzügler


Orchideen sind nicht nur geschätzte Zierpflanzen, die echten Vanille- "Schoten" sind die unreif geernteten, etwa 25 Zentimeter langen schlanken Kapseln von Vanilla planifolia ANDR., einer mittelamerikanischen Schlingpflanze, die in tropischen Ländern kultiviert wird. Nach einem Fermentationsprozeß (Vanilleschoten sind dunkel gefärbt) bildet sich in der Droge (im Fachjargon für die zur Nutzung aufbereiteten bzw. getrockneten Pflanzenteile) Vanillin aus glykosidischen, geruchlosen Vorstufen. Dieser aromatische Geruch ist jedem Puddingfreund vertraut.

Nun will aber die pharmazeutische Forschung in diesem harmlosen Gewürz eine bisher unbekannte bzw. wenig bekannte physiologische und pharmakologische Wirkung nachgewiesen haben, die britische Mediziner sogleich zur Entwicklung eines neuen marktträchtigen Shooting Stars ausnutzen wollen: Vanillin-Pflaster oder abnehmen mit natürlichem Duftstoff.

Nach einer Studie des Londoner Saint George Krankenhauses soll schon das Einatmen des Vanillinaromas angeblich den Appetit auf Süßigkeiten spürbar drosseln. Für den Nachweis hatten mehrere Testpersonen einen Monat lang ein Duftpflaster auf der Innenfläche der Hand tragen müssen. Danach wogen die Versuchsteilnehmer durchschnittlich zwei Kilogramm weniger, was die Wissenschaftler auf eine physiologische Wirkung des Vanillins zurückführten. Doch diese etwas vorschnelle Schlußfolgerung ist wenig relevant.

Ein entsprechendes Ergebnis läßt sich durchaus schon auf die Begleitumstände des Reihentests zurückführen. Die beständige Beobachtung, das tägliche Messen des eigenen Gewichts und die andauernde Erinnerung oder Ermahnung (durch die den Probanden umgebende vanilline Duftwolke), den Süßigkeitenkonsum einzuschränken, können ebenso auf das Eßverhalten einwirken, wie die Möglichkeit, daß dem Probanden bei dem unausweichlichen penetrant süßlichen Puddinggeruch, der darüber hinaus auch die Erinnerung an ein ausgesprochen sättigendes Lebensmittel wach hält, kurz gesagt der Appetit vergeht.

So gibt es bisher auch keine physiologischen Hinweise auf die genaue Wirkweise der Vanille-Pflaster, die bereits Ende des Jahres 2000 auf den Markt gebracht wurden. Dennoch behaupten die Hersteller, Vanillin wirke sich in irgendeiner Weise positiv auf die Ausschüttung des Botenstoffs Serotonin aus, dem neben der appetitzügelnden unter anderem auch eine antidepressive Wirkung nachgesagt wird. Allerdings ist die Anwendung des Vanillearomas in der Praxis durchaus umstritten. Ein Bericht, der 2006 in der Frauenzeitschrift Brigitte erschien, riet dazu, sich nicht auf die appetitzügelnde Wirkung dieser Pflaster zu verlassen, denn sie hätten nur bei einigen Frauen diätunterstützende Wirkung. Andere, durch Enthaltsamkeit geschwächte und auf Süßigkeiten fixierte Personen, bekommen davon nämlich erst recht Heißhunger.

Das Vanillin oder die Vanille-"Schote" wird seither einer Vielzahl von Gewürzen zugeordnet, denen ebenfalls pharmakologische Bedeutung nachgesagt wird wie die

- Steigerung der Speichelmenge und Steigerung der Amylaseaktivität (z.B. Chillies, Ingwer, Paprika, Pfeffer, Piment, Senf)

- Steigerung der Mucoproteidsekretion (Chillies, Ingwer, Paprika, Pfeffer)

- Aktivierung der Fibrinolyse und Gerinnungshemmung (Chillies, Paprika, Senf)

- Steigerung der Aktivität der Nebennierenrinde (Chillies, Paprika)

- Laktagoge, blähungshemmende Wirkung (Anis, Fenchel, Kümmel, Basilikum, Majoran)

Entgegen früherer Anschauungen sollen heute Chillies die Magensaftsekretion hemmen, während Asant, Enzian, Paprika, Pfeffer, Senf und Wermut diese fördern. Senf sagt man außerdem nach, die Magenentleerung zu verzögern. Für eine gesteigerte Darmmotorik sorgen Senf und Zwiebel, während Kümmel und Majoran das Gegenteil bewirken. Und was die Gallenwirksamkeit betrifft, so kann man bei den Gewürzen zwischen sekretionssteigernden sogenannten Choleretika (Anis, Curcuma, Dost, Enzian, Kümmel, Pfefferminze, Rettich, Wermut, Zwiebel) und Chologoga (hemmendem Enzian und Senf) wählen.

Sollten Liebhaber von kräftigen Gewürzen sich nun durch die Apotheke auf dem Gewürzbord in ihrer freien Entfaltung gestört sehen, dann seien sie getröstet. Letztlich ist alles immer noch eine Frage der Dosierung und der eigenen Bereitschaft, sich durch die Würzmischung auf der Pizza den Stoffwechsel durcheinander bringen zu lassen. Guten Appetit!

Erstveröffentlichung 2000 neue, aktualisierte Fassung

7. Juli 2009