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RATGEBER/309: Schluß mit dem Gerücht - jedes Gummi würde unter Streckung dünner (SB)


SCHLUSS MIT DEM GERÜCHT

Ein Material verstößt gegen Naturgesetze


Gegen die Gewohnheit

Jeder weiß, daß ein Gummiband dünner wird, wenn man es streckt. Das gleiche gilt für andere bekannte elastische Materialien. Ein Tuch beispielsweise, das man wringt, ein Strickpullover, den man in die Länge zieht oder auch ein geschmolzener Glasstab, den man an beiden Enden auszieht, werden alle in der Mitte schlanker. Dieses Phänomen hat jeder schon einmal irgendwo gesehen und würde sich nie etwas dabei denken, würde man es ihm sozusagen als Naturgesetz unter die Nase reiben. In der physikalischen Chemie gibt es für diesen Fall auch tatsächlich den Begriff der positiven Poisson-Zahl, mit der die Alltagserfahrung in eine physikalische Gesetzmäßigkeit gefaßt wird. Die Zahl wird aus dem sogenannten Poisson-Verhältnis abgeleitet, das die Längenzunahme und den Querschnittsverlust bei Belastung beschreibt. Normalerweise ist dieses aus Meßwerten erstellte künstliche Verhältnis für beinahe alle Materialien ein positiver Wert. Man spricht auch von Poisson-Konstante oder der Querkontraktionszahl, also einer Materialkonstante, die angibt, in welchem konstanten Verhältnis sich in einem bestimmten Material bei einer Längenänderung die Querdimension ändert.

Ein Gummi, das bei Zug dicker wird

Die Poisson-Zahl errechnet sich, wenn man die relative Änderung der Querdimension durch die relative Längenänderung teilt, die man jeweils durch Versuche bestimmen muß. Gewöhnlich kommt dabei ein - je nach Material unterschiedlicher - positiver Wert heraus. Stahl hat je nach Art beispielsweise die Poisson-Zahl von 0,3, denn er wird beim Strecken nur geringfügig dünner. Andere Metalle wie Blei oder Gold, die eine Poisson-Zahl von rund 0,45 aufweisen, verlieren unter Zug deutlich mehr an Substanz. Negativ wird die Poisson-Zahl oder das Poisson-Verhältnis, wenn auch die Änderung der Querdimension negativ ist, also ein Material oder Werkstoff beim Strecken dicker wird.

Ein Material, das sich beim Strecken in mindestens einer Querrichtung ausdehnt, ist jedoch äußerst rar und entpuppt sich bei genauerer Betrachtung meist als ein ausgeklügelter technischer Kniff. Einen solchen kann man beispielsweise bei den Polytetrafluorethen-Fasern, besser bekannt als Gore-Tex, feststellen, die unter dem Elektronenmikroskop eine Struktur aus winzigen Plättchen aufweisen, die durch feine Fasern miteinander verbunden sind. Beim Strecken legen diese feinen Fasern die Plättchen in eine Stellung quer zur Zugrichtung. Dadurch wird das Material eindeutig dicker.

Schon 1987 entdeckte ein amerikanischer Chemiker Kunstschäume, die beim Strecken augenscheinlich dicker werden. Ihnen wurde per Definition ein "negatives Poisson-Verhältnis" zugesprochen. Obwohl der Erfinder ganz richtig mutmaßte, daß sich derartige Stoffe durch Druck relativ leicht verdichten lassen müßten, konnte er mit seiner Entdeckung keinen Durchbruch erlangen. Dabei ließen sich seiner Meinung nach daraus so nützliche Dinge wie Knochenersatz, Dichtungsringe und kugelsichere Westen herstellen, die ihre Funktion unter starker Druck- oder Zugbelastung erfüllen müssen. Auch für Schall- oder Stoßdämpfer böte sich der Stoff an.

Dagegen war für Gore-Tex, das etwas später entdeckt wurde, der Markt für derartige Innovationen geradezu reif. Da dieses Material als Gewebe die Eigenschaft besitzt, für Wasserdampf durchlässig zu sein, nicht aber für Wasser (dann werden die Fasern durch die Belastung dicker und schließen die Poren wie bei einem Ventil), konnten damit zahllose Produkte in der Camping- und Freizeitindustrie verbessert werden.

Dennoch, ohne den formgebenden, technischen Kunstgriff auf der Faserebene, mit dem in Zukunft sogar verbesserte, wabenartige Strukturen erreicht werden sollen, die noch leichtere, aber auch sehr viel biegsamere Materialien ergeben, bestünde kein Unterschied zwischen dem chemischen Grundprodukt Polytetrafluorethan und herkömmlichem Teflon, das bekanntlich keine negative Poisson-Zahl besitzt. Ein synthetischer oder natürlicher chemischer Grundstoff, der sich entgegen alltäglicher Erfahrung wie ein "Antigummi" verhält, ließ sich bisher nicht nachweisen. Und die negative Poisson-Zahl ist weiter nichts als eine mathematische Möglichkeit oder besser gesagt eine Fiktion, ohne realen Anhaltspunkt.

Nun will ein internationales Forscherteam doch noch Hinweise auf das genaue Gegenteil gefunden haben, allerdings nicht auf der Erde: In den Tiefen des Weltraums sollen Kristalle mit negativer Poisson-Zahl bei mehr Substanzen als ursprünglich vermutet auftreten und sind - so behaupten diese Forscher - womöglich eine der häufigsten Formen kristallinen Materials im Universum (Science, Bd. 288, S.2018, 2000).

Die Kristalle müßten logischerweise eine extrem hohe Dichte besitzen und sollen sowohl in der Kruste von Neutronensternen als auch im Kern von weißen Zwergen gefunden werden können. Doch dazu müßte man vor Ort erst einmal Proben ziehen und den meßtechnischen Nachweis erbringen. Darüber hinaus spekulieren die Wissenschaftler über Strukturen extrem geringer Dichte wie Plasmastaubkristalle und hauchdünne Ionenkristalle - bis eine Billion mal dünner als Luft -, die ebenfalls eine negative Poisson-Zahl aufwiesen und im All zu finden wären.

Am Beispiel von Ionenkristallen aus Beryllium und unter geeigneten Bedingungen wollen die Wissenschaftler das eigenartige Verhalten experimentell nachgewiesen haben. Doch geht es den Forschern keinesfalls darum, die bisher als unumstößliches Naturgesetz betrachteten Materialeigenschaften auf einmal in Frage zu stellen und damit vielleicht auch die Ordnung der chemischen und physikalischen Gesetzmäßigkeiten.

Im Gegenteil ist ihnen diese theoretische und rechnerische Möglichkeit nur deshalb plötzlich so wichtig, um widersprüchliche Erscheinungen in der Weltraumforschung doch in eben die herkömmlichen Gesetzmäßigkeiten einzupassen. Ohne derart abnorme Kristallstrukturen ließe sich beispielsweise nicht die Strahlung erklären, die bei Sternbeben frei wird, und auch für die Frage, wie Kernreaktionen durch mechanischen Druck beeinflußt werden, gäbe es keine Antwort. Und somit ist die oben beschriebene scheinbar revolutionäre Entdeckung nichts weiter als eine Forderung, damit alles beim Alten bleiben kann.

Daß man - sollten einmal tatsächlich derart abnorme Kristalle auftauchen - diese, nebenbei bemerkt, in der Technik gut gebrauchen könnte, steht außer Frage. So wären beispielsweise winzige Verstärker in Sensoren von molekularer Größe denkbar, sie müssen jedoch vorerst noch Science Fiction bleiben.

Außerdem wird bei derartigen Überlegungen nie berücksichtigt, daß es sich um keinen wirklichen Zugewinn an Substanz handeln kann, welche die Verdichtung bei Belastung bewirken könnte, selbst bei den oben erwähnten Schein-Antigummis (Gore-Tex & Co). Eine äußerliche Verdickung eines Materials unter Zugbelastung würde immer auf Kosten des inneren Strukturaufbaus gehen, der poröser und zarter, somit eigentlich bei Belastung auch angreifbarer werden müßte.

Erstveröffentlichung 2000
neue, aktualisierte Fassung

13. November 2009



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