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RATGEBER/311: Kinderfragen (29) Warum Kaffee Müde munter und dann wieder müde macht (SB)


KINDERFRAGEN 29

Warum macht Kaffee eigentlich wach?


Haben Sie sich diese Frage schon mal gestellt? Normalerweise ist dies keine Frage, sondern eine Gewißheit. Wer müde ist, ausgelaugt oder wer selbst nach der morgendlichen Dusche immer noch mit verklebten Klüsen am Frühstückstisch sitzt, der verlangt geradezu nach dem Muselmanengebräu, und allein der Duft frisch gerösteter Bohnen weckt die Sinne und verspricht baldiges Erwachen. Auch das Marmeladenbrötchen schmeckt gleich viel besser, die Laune regt sich und nach vollendeter Mahlzeit (Gesundheitsexperten empfehlen, sich mindestens 15 - 20 Minuten für die erste Mahlzeit am Tag Zeit zu nehmen) fühlt man sich komplett ausgeschlafen. Rein physiologisch wäre man das zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Besonders Phlegmatische sollten daher noch etwas länger frühstücken oder den ersten Mokka schon im Bett genießen, denn bis der Kaffee wirklich wirkt, also an die entsprechenden Zielpunkte im Organismus gelangt, braucht es fast 40 Minuten. Denn er hat - physiologisch gesehen - einen weiten Weg zurückzulegen.

Dabei kommt der Wachmacher des Kaffees, das berühmte Coffein, anders als im Tee schon in der Bohne in aufnahmefähiger, leicht löslicher Form vor, die über die Schleimhäute resorbiert werden kann. Im Tee ist das Coffein wie auch andere Purinderivate an die teetypische Gerbsäure gebunden und wird erst im Verdauungstrakt freigesetzt.

Eine Tasse normalen mitteleuropäischen Kaffees enthält 60 bis 100 Milligramm Coffein, ganz gleich, ob es sich um normalen Filterkaffee oder um einen Espresso handelt. Letzterer ist zwar stärker konzentriert, dafür sind die Espressotassen entsprechend kleiner.

Über die Schleimhäute von Mund, Magen- und Darmwänden gelangt das Coffein direkt ins Blut und wandert dann innerhalb weniger Minuten zu den Organen und zum Gehirn. Bis dahin muß es die längste Strecke im Körper zurücklegen. Experten schätzen, daß es hier etwa 40 Minuten nach der Einnahme ankommt.

Bei jedem, der die belebende Wirkung des Kaffees schon kennt, reicht aber oft der Duft als psychische Stimulanz aus, um im Gehirn entsprechende Stoffwechselvorgänge einzuleiten, die der erwarteten Kaffeewirkung sehr ähnlich sind und entsprechend sehr viel früher "wach" machen.

Die eigentliche, direkte stoffliche Wirkung wird damit erklärt, daß die Coffeinmoleküle einem Stoff zum Verwechseln gleichen, den wir in unseren Nervenzellen produzieren: dem Adenosin. Adenosin ist an vielen Stellen im Stoffwechsel beteiligt. In der Verbindung "Adenosintriphosphat" gilt es sogar als der Hauptfaktor im Energiestoffwechsel.

Während wir arbeiten und die Nervenzellen aktiv sind, entsteht die Substanz als Abbauprodukt. D.h. im Laufe eines Tages sammelt sich verbrauchtes Adenosin in bestimmten Gehirnarealen immer mehr an. Je höher der Adenosinspiegel ansteigt, um so schneller ermüden wir. Genaugenommen sollten nun die Regenerationsprozesse eingeleitet werden, die im Schlaf ablaufen. Doch der Mensch gönnt sich seit Erfindung der Glühbirne und des Fernsehens immer weniger Schlaf.

Adenosin setzt gewöhnlich eine Kette biochemischer Prozesse in Gang, die das zentrale Nervensystem dämpfen, in dem es an bestimmte spezifische Rezeptoren (Andockstellen) bindet. Adenosin hemmt zum Beispiel die Ausschüttung von Botenstoffen, d.h. unter anderem auch die Reizleitung oder Reizübertragung an den Synapsen. Und wenn weniger Botenstoffe die Informationen weiterleiten, geht alles langsamer. Müdigkeit macht sich breit.

Das Coffein ähnelt dem Adenosin allerdings derart, daß es die Andockstellen des Adenosins besetzen kann, ohne wie Adenosin zu wirken. Es paßt wie eine Kindersicherung in die Steckdose, verstopft aber die Leitung und entpuppt sich so als Gegenspieler des Adenosins, d.h. entsprechende Hemmechanismen und somit Müdigkeit bleiben aus.

Das Adenosin kann nun seine dämpfende, beruhigende Wirkung auf das Zusammenspiel unserer 100 Milliarden Nervenzellen nicht mehr voll entfalten. Konzentrationsfähigkeit und Aktivwortschatz nehmen zu, und nach einer Stunde und 10 Minuten nach der ersten Kaffeetasse, was bei guter Planung mit dem Eintreffen im Büro zusammenfällt, läuft der Mensch zu neuer Höchstform auf.

Sie hält allerdings nur so lange, bis das Koffein wieder abgebaut wird - und die winzigen Adenosin-Sandmännchen, die durch die mangelnde Regeneration nicht auf natürliche Weise abgebaut wurden, wieder die Oberhand gewinnen. D.h. eine Tasse Kaffee beim Sichten der Post und Einteilung der Arbeit im Büro getrunken, wäre gerade genug, um das Adenosin bis zur 2. Frühstückspause in Schach zu halten.

Besonders geschickte Jongleure mit diesen beliebten Konsumgiften trinken statt dessen aber eine oder zwei Tassen starken Tees. Der wiederum setzt über 7 bis 8 Stunden unaufhörlich geringe Mengen an Coffein frei, die dann im Gehirn nachrücken können, was man als Langzeit- oder Retardwirkung bezeichnen könnte.

Bei der ganzen Rechnerei sollte man allerdings nicht den Genuß vergessen, den einem die Tasse Kaffee oder auch der Tee verschaffen kann. Allein die Freude daran kann schon ausreichend Entspannung, Motivation und Antrieb verschaffen, die einen auch ohne biochemische oder physiologische Wirkung aufmerksam und wach werden läßt.

Erstveröffentlichung 2004
neue, aktualisierte Fassung
22. Dezember 2009