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UMWELTLABOR/238: Kohlenstoffbauten - Anpassung an extreme Umweltbedingungen (SB)


Weltraumtechnik gegen extreme Umweltbedingungen?


Diese Frage stellt sich bei einer nur zehn Meter langen Brückenkonstruktion in Kalifornien über den Kings-Stormwater-Channel. Äußerlich ist nichts Ungewöhnliches daran zu erkennen, doch der nahezu unscheinbare Entwurf, der nur den künstlichen Bach unter der Staatsstraße 86 in Riverside County, Kalifornien, überbrückt, wurde mit den neuesten Materialien des Raumfahrtzeitalters ausgestattet. Nicht auf Stahlträgern, sondern auf mit Beton gefüllten Rohren aus einem Kohlefaser-Verbundwerkstoff ruht die Fahrbahn, die zudem aus Glasfasermatten besteht. Doch aus welchem Grund investiert der Staat Kalifornien 30 Millionen Mark in ein derart kleines Routineprojekt, für das auch eine herkömmliche Brückenarchitektur vollkommen gereicht hätte? Es geht offenbar darum, Erfahrungen mit neuen Baumaterialien zu sammeln, ohne die wir in Zukunft vielleicht nicht mehr auskommen werden, wenn sich die Atmosphäre weiterhin so drastisch verändert.

Das Problem liegt unter anderem darin, daß eine Brücke (selbst eine ganz kleine) erst dann genehmigt wird, wenn nachgewiesen werden kann, daß die Baumaterialien alle Sicherheitsanforderungen erfüllen. Bei innovativen Werkstoffen sind deshalb umfangreiche Tests notwendig, die die Belastung einer Brücke im Labor vorwegnehmen. Natürlich bleibt ein gewisses Restrisiko für die Erprobung in der Praxis weiterhin bestehen, über das dann kleinere Bauwerke wie das der Staatsstraße 86, aber auch die sogenannten "Carbon-fibre"-Brücken in Kanada und Österreich Aufschluß geben sollen.

Und so könnte man zwar nicht von einem Feldversuch, aber doch von einer kleinen Testreihe sprechen innerhalb einer großangelegten Untersuchung über neue Strukturmaterialien für Gebäude und Brücken, die, wie der Leiter des Projekts und Professor für Konstruktiven Ingenieurbau an der University of California in San Diego sich großspurig erhofft, zu einer architektonischen Revolution führen sollen.

Die Testbrücke steht unter anderem deshalb ausgerechnet in einer Wüstengegend, die an Namibia erinnert, um den extremen Witterungseinflüssen ausgesetzt zu sein, die hier alltäglich sind. Tagsüber herrschen hier bis zu 50 Grad Hitze, nachts dagegen oftmals Minusgrade. Außerdem wollen die Forscher einen genauen Vergleich mit Stahlbeton ziehen: Zwei der vier Fahrspuren wurden konventionell gebaut. Zudem ist das Bauwerk mit über 200 Sensoren gespickt, die drahtlos mit dem Internet verknüpft sind, die Meßapparatur dieses ins Freie verlegten Laborversuchs. Zur Zeit verbinden die Ingenieure die Instrumente mit Solarzellen, denn im erdbebengefährdeten und von der Energie-Krise geschüttelten Kalifornien bleibt man auf diese Weise vor der Möglichkeit eines Stromausfalls verschont.

Die verwendeten Kohlefasern sollen fünfmal so stark wie Stahl, aber wesentlich leichter sein. Doch das ist nicht das stärkste Argument für die neuen Materialien: Kohle- bzw. Carbonfasern sind nicht nur leichter, sondern vor allem korrodieren sie nicht. Gebäude aus Carbonfasern wären resistent gegen sauren Regen, bodennahes Ozon oder andere ätzende Umweltchemikalien. Und auch diesen wird die Brücke in der Wüstenzone schonungslos ausgesetzt.

Hinsichtlich der zunehmenden seismischen Aktivitäten, selbst in Gebieten, die bisher nicht durch Beben oder Vulkanausbrüche von sich Reden machten, macht eine wesentlich größere Elastizität die neuen Baumaterialien für den Einsatz in seismischen Gefahrenzonen möglicherweise unentbehrlich.

Natürlich sind die neuen Materialien wesentlich teurer als herkömmliche Baustoffe. Eine Carbon-Brücke kostet heute mindestens zweimal so viel wie eine Stahlbetonbrücke, möglicherweise wird der Preis für die einzelnen Module mit der Zeit geringer, wenn sie in Serienproduktion und in großen Mengen gefertigt werden. Da aber Kohlenstoff ebenfalls zu den begrenzten fossilen Rohstoffen zählt, ist auch das Gegenteil möglich.

Die Rohrmodule sind zehn Meter lang, haben einen Durchmesser von 30 Zentimetern und eine Wandstärke von nur fünf Millimetern. Bei ihrer Herstellung wird ein Carbonfaden (gesponnene Kohlenstoffasern) durch Epoxidharz gezogen und auf eine Trommel gewickelt. Wenn die Struktur aushärtet, verbindet sich das Kunstharz zu langen Molekülketten, die die Fasern fest umschließen. Solche Module wurden bisher außer von Raumfahrttechnikern vor allem vom Militär für mobile Panzerbrücken und von Werften für Bohrplattformen verwendet.

Im Rahmen des Projektes wurde für San Diego eine 150 Meter lange Brückenkonstruktion geplant, eine Schrägkabelbrücke für den vierspurigen Straßenverkehr und sobald die fertig ist, wird es weiter gehen. Auch in Europa gibt es Bestrebungen, Brücken aus innovativen Materialien zu bauen, etwa eine Kohlefaserbrücke im britischen Coalbrookdale, direkt neben der ersten und ältesten gußeisernen Brücke der Welt.

Die risikofreudige Planung neuer Projekte mit diesem Material geht in einem Tempo vor, in dem eine Dauerbelastungsstudie, z.B. mit der erwähnten neuen Brücke, nicht wirklich gewährleistet werden kann. Man kann die Eile, mit der der Ersatz von Stahl durch Kohlefasern vorangetrieben werden soll, kaum nachvollziehen, hätte man nicht die sich deutlich zu ihrem Nachteil verändernde, korrosive Umwelt selbst vor Augen. Allerdings vergißt man, daß die Carbonfasertechnik dabei auch den Raubbau an den letzten Kohlenstoffreserven der Erde extrem beschleunigt.

Sollte die Carbonfasertechnik tatsächlich die Stahlindustrie auf lange Sicht ersetzen, würden nicht nur Tausende an ausgebildeten Fachkräften arbeitslos; die Synthese von Carbonfasern wird darüber hinaus eine beispiellose Expansion der Kunststoffindustrie und mit deren unvermeidlichen Emissionen eine weitere Belastung der Umwelt nach sich ziehen, in der tatsächlich nur noch korrosionsbeständige Materialien eine Chance haben.

Ob allerdings Carbonfasern dann noch diese Bedingungen erfüllen oder die Abfallprodukte ihrer Produktion und eine neue Zusammensetzung schädlicher Substanzen in der Atmosphäre schließlich auch diese zuvor beständigen Materialien angreift, steht auf einem anderen Blatt. Bleibt nur noch die Frage, ob der Mensch das alles überlebt...

Erstveröffentlichung 2001
Neue, überarbeitete Fassung

18. November 2008