Schattenblick → INFOPOOL → NATURWISSENSCHAFTEN → FAKTEN


BERICHT/167: Die Bürgerforscher (Leibniz)


Leibniz-Journal - Das Magazin der Leibniz-Gemeinschaft 3/2014

Die Bürgerforscher

von Manfred Ronzheimer


Wildschweinzähler und Sternengucker: Unter dem Schlagwort "Citizen Science" arbeiten immer mehr Forschungseinrichtungen in Deutschland mit Laien zusammen. Die Bürgerforscher engagieren sich vor allem in der Biodiversitätsforschung - und könnten die Wissenschaftslandschaft modernisieren.


Wissenschaft braucht den Bürger, als Finanzier sowieso, als Nutznießer, gerne auch als Bewunderer. Jetzt wächst eine neue Beziehung: Die Wissenschaft sucht den Bürger als Forschungspartner. Unter der Bezeichnung "Citizen Science", Bürgerwissenschaft also, entsteht in Deutschland derzeit eine neue Allianz zwischen Experten und Laien, die in den angelsächsischen Ländern bereits Tradition hat.

In den USA gibt es seit 1900 die weihnachtliche Vogelzählung. Zehntausende Naturfreunde beteiligen sich jedes Jahr am "Christmas Bird Count", der für die ornithologische Forschung quasi die amtliche Volkszählung der Piepmätze darstellt. Beim Astronomieprojekt "Galaxy Zoo" beteiligten sich über eine Online-Plattform binnen eines Jahres sogar 150.000 Amateur-Sterngucker an der Klassifizierung von Galaxien.


Spürsinn und Beobachtungsgabe

Auch Forschungsinstitute der Leibniz-Gemeinschaft greifen vermehrt auf den Spürsinn und die Beobachtungsgabe von Nicht-Wissenschaftlern zurück. Sei es bei der Untersuchung von Stechmücken oder der Verbreitung von Wildtieren in der Stadt. Am Museum für Naturkunde in Berlin, dem Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung, wurde im Frühjahr eine Internet-Plattform gestartet, die über bestehende Citizen Science-Projekte - derzeit sind es 31 - informiert und zum Mitmachen einlädt.

"Jeder hat das Zeug zum Forscher", meint Johannes Vogel, Generaldirektor am Museum für Naturkunde, in dem schon heute über 50 Amateurwissenschaftler mitforschen. Vor seinem Wechsel nach Berlin hat Vogel als Botanik-Direktor am legendären Natural History Museum in London die Begeisterung der Briten für bürgerschaftliche Forschung kennen gelernt - und tatkräftig gefördert. Der Botaniker mit dem markanten Schnurrbart berichtet anschaulich, wie das Wissen der Blumenliebhaber und Fliegenfischer die professionellen Kenntnisse über den Zustand der Natur in Großbritannien verbessert hat.


Tausende Mücken auf dem Postweg

Bürgerwissenschaftler forschen in Disziplinen wie der Mathematik, den Geschichtswissenschaften und in der Astronomie. Mit einer Smartphone-App können sie beispielsweise das Citizen Science-Projekt "GLOBE at Night" unterstützen, das der Forschungsverbund "Verlust der Nacht" zur Untersuchung der Lichtverschmutzung ins Leben gerufen hat. Unter den deutschen Projekten dominieren Themen aus dem naturwissenschaftlichen Bereich. Gerade die Biodiversitätsforschung kann aus der Bürgerbeteiligung Nutzen ziehen.

Globe at Night: Android-App des Forschungsverbunds Verlust der Nacht
www.globeatnight.org/de/webapp


Das zeigt auch der "Mücken-Atlas" des Leibniz-Zentrums für Agrarlandschaftsforschung (ZALF) im brandenburgischen Müncheberg, der in Zusammenarbeit mit dem Bundesforschungsinstitut für Tiergesundheit auf der Insel Riems ins Leben gerufen wurde. ZALF-Biologin Doreen Werner verweist auf das Beispiel der "Blauzungenkrankheit", einer Tierseuche, die sich in Deutschland 2006 unter Wiederkäuern verbreitete. "Wie sich herausstellte, sind hierzulande mindestens sieben Arten der Gnitzen, einer blutsaugenden Mückenfamilie, heimisch, die den Krankheitserreger übertragen könnten." Innerhalb der Familie der Stechmücken sind in Deutschland 50 Arten bekannt. "Aber wir wissen nicht genug darüber, wie sie auf bestimmte Krankheitserreger reagieren und sie weitergeben", skizziert Werner das Erkenntnisinteresse. Stechmücken seien in Deutschland "wissenschaftlich lange vernachlässigt" worden, daher fehle es an grundlegendem Wissen über Vorkommen und Verbreitung der verschiedenen Arten.

So konnte erst durch die Mücken-Kartierung nachgewiesen werden, dass sich die Asiatische Buschmücke in Nordrhein-Westfalen und im Großraum Hannover etabliert hat. Möglich wird der Erkenntnisgewinn durch die Hilfe vieler ehrenamtlicher Mückenforscher, deren Zahl sich seit Einführung des Online-Portals (www.mueckenatlas.de) vor zwei Jahren deutlich erhöht hat. "2012 bekamen wir über 2.000 Einsendungen mit 6.000 Mücken, im Jahr darauf waren es bereits 2.400 Einsendungen mit 12.000 Tieren", berichtet die Forscherin. 2014 ist dagegen witterungsbedingt kein gutes Mückenjahr: Bislang trafen knapp 700 Mückenlieferungen in Müncheberg ein. Die Bürgerforscher fangen die Insekten in einem Behältnis, töten sie über Nacht im Gefrierfach ab und schicken sie dann in einer Streichholzschachtel oder in einem kleinen Döschen plus Fangprotokoll an das Brandenburger Institut. "Nach drei Jahren können wir sagen, dass der Mückenatlas für uns einen unschätzbaren wissenschaftlichen Wert erlangt hat", betont Werner. Insgesamt 42 Mückenarten konnten in ihrer Verbreitung nachgewiesen werden. Der direkte Kontakt mit den Bürgern ist den ZALF-Wissenschaftlern dabei wichtig: "Jeder Einsender", sagt Werner, "bekommt von uns eine persönliche Antwort."


Borstenvieh und Stacheltier

Mit größerem Getier haben es die Wissenschaftler am Berliner Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) zu tun. Sie untersuchen die Verbreitung von wildlebenden Tieren in Städten. In Berlin laufen zwei Citizen Science-Projekte zu Igeln und Wildschweinen.

Wenn IZW-Forscherin Anne Berger die Vielfalt der Fragen aufzählt, die von wissenschaftlichem Interesse sind, kommt eine lange Liste zustande. "Wo kommen Igel vor? Wie haben sie sich in ihrer Lebensweise an die Großstadtbedingungen angepasst? Gibt es bei Nahrung, Parasitenbelastung, körperlicher Verfassung, Fortpflanzung und Sterblichkeit Unterschiede zwischen 'Stadtigeln' und 'Landigeln'? Wie beeinflussen die wärmeren Stadtbedingungen oder die menschlichen Aktivitäten das Verhalten von Igeln, zum Beispiel den Winterschlaf?"

Auch hier läuft der Bürgerkontakt in den meisten Fällen über das Internet. Im "Portal Beee" (www.portalbeee.de) - die Abkürzung steht für "Biodiversität erkennen, erforschen, erhalten" - melden die Laienforscher, wann, wo und unter welchen Bedingungen sie die Wildtiere beobachtet haben. Seit seiner Öffnung Anfang 2013 verzeichnet es inzwischen 228 Igel- und knapp 90 Wildschweinsichtungen. Die Schwarzkittel erobern die Hauptstadt. Und ihre zunehmende Zahl "verursacht enorme Konflikte mit der Bevölkerung und stellt Jäger, Förster und zuständige Behörden vor die Aufgabe, ein effektives Management zu entwickeln, um Konflikte langfristig zu vermeiden", heißt es in der Projektbeschreibung. Erster Schritt sei die genaue Erforschung der Lebensweise "städtischer Wildschweine".

Im Unterschied zu den Mückenforschern stehen die Arbeiten mit Bürger-Unterstützung am IZW noch am Anfang. "Wir bilden gerade einen Suchhund aus, der die nachtaktiven Igel sicher aufspüren kann", berichtet IZW-Forscherin Berger. Die Igel-Meldungen der Bürger helfen, da man bei den angegebenen Orten schon einmal von einem klaren Nachweis ausgehen kann. Auch hier ist die Rückkopplung wichtig; in einem regelmäßigen Newsletter berichtet das Institut über "Neuigkeiten von unseren tierischen Nachbarn".


Citizen-Science-Strategie

Bisher kamen solche Kontakte zwischen Wissenschaft und Bürgerforschern nur punktuell zustande, waren begrenzt auf bestimmte, überwiegend "grüne" Themenbereiche und sehr vom individuellen Engagement auf beiden Seiten abhängig. Mit einem neuen Förderprojekt des Bundesforschungsministeriums unter dem Titel "BürGEr schaffen WISSen - Wissen schafft Bürger" (GEWISS, www.buergerschaffenwissen.de) wurde im Mai 2014 ein Programm gestartet, das die Stärkung von Citizen Science in Deutschland in der Breite erreichen will. In einer Reihe von Workshops sollen die Akteure vernetzt und in den nächsten zwei Jahren eine "Citizen-Science-Strategie" für mehr Bürgerbeteiligung in der Wissenschaft erarbeitet werden.

Dem GEWISS-Konsortium, das vom Museum für Naturkunde der Leibniz-Gemeinschaft und dem Umweltforschungszentrum der Helmholtz-Gemeinschaft geleitet wird, gehören neun wissenschaftliche Einrichtungen an.

MfN-Generaldirektor Vogel, der auch Vorsitzender der Europäischen Vereinigung für Citizen Science ist, sieht in der Bürgerforschung keine Modeerscheinung. "Langfristig hat Citizen Science das Potential, die gesamte Forschungslandschaft zu modernisieren", prognostiziert der Biodiversitäts-Professor. Er erwartet, dass in zehn Jahren jede größere Wissenschaftseinrichtung in Deutschland eine Kontaktstelle für Bürgerwissenschaft unterhält.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Bürgerwissenschaftler in Aktion: Mit einer Insektenfalle durchkämmt Michael Woelky von der Entomologischen Gesellschaft Orion ein Gebüsch.

Inventur im Präsidentengarten: Im Park von Schloss Bellevue untersuchen ehrenamtliche Experten der Entomologischen Gesellschaft Orion Berlin gemeinsam mit Forschern des Berliner Museums für Naturkunde die Artenvielfalt.

In Berlin melden Bürgerforscher Wildschweinsichtungen, bundesweit können sie tiefgefrorene Mücken für den "Mücken-Atlas" einsenden. "Langfristig kann Citizen Science die Naturwissenschaft modernisieren", sagt Johannes Vogel, Generaldirektor des Museums für Naturkunde.

*

Quelle:
Leibniz-Journal - Das Magazin der Leibniz-Gemeinschaft, Nr. 3/2014, Seite 26-29
Herausgeber: Präsident der Leibniz-Gemeinschaft
Chausseestraße 111, 10115 Berlin
Telefon: 030/20 60 49-0, Fax: 030/20 60 49-55
Internet: www.leibniz-gemeinschaft.de
Redaktion:
E-Mail: journal[at]leibniz-gemeinschaft.de
Internet: www.leibniz-gemeinschaft.de/journal
 
Das Leibniz-Journal erscheint vier Mal jährlich
und kann über die Redaktion kostenlos abonniert werde.


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Februar 2015

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang