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FORSCHUNG/818: Supraleiter - Paare in leitender Funktion (MaxPlanckForschung)


MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft 1/2011

Paare in leitender Funktion

Von Roland Wengenmayr


Elektrische Kabel, die im Alltag Strom ohne Verlust leiten - seit der Entdeckung der Supraleitung vor 100 Jahren motiviert Physiker diese Vorstellung. Daher wollen Forscher um Bernhard Keimer am Max-Planck-Institut für Festkörperforschung in Stuttgart und Frank Steglich am Max-Planck-Institut für Chemische Physik fester Stoffe in Dresden verstehen, wie unkonventionelle Supraleiter im Detail ihren Widerstand verlieren.


8. April 1911. An der niederländischen Universität Leiden sitzen zwei Männer in einer abgedunkelten Kabine. Nur ihre Instrumente verraten ihnen, was in dem Kryostaten nebenan passiert. An dieser Super-Thermoskanne hantiert ein Endfünfziger mit markantem Walrossbart: Heike Kamerlingh Onnes ist berühmt, seit es ihm 1908 erstmals gelungen war, Helium zu verflüssigen. Damit erreichte er extrem tiefe Temperaturen von 4,2 Kelvin, also rund vier Grad über dem absoluten Temperaturnullpunkt bei minus 273,2 Grad Celsius. Für diese Leistung sollte Kamerlingh Onnes 1913 den Nobelpreis für Physik erhalten.

Jetzt steckt ein kleines Glasröhrchen im Kryostaten, gefüllt mit Quecksilber. An ihm wollen die Leidener erstmals beobachten, wie sich der elektrische Widerstand von Metallen bei Annäherung an den absoluten Nullpunkt verhält. Bei 4,2 Kelvin, also minus 269 Grad Celsius, geschieht etwas Unerwartetes: Die Anzeige für den elektrischen Widerstand des Quecksilbers fällt schlagartig auf null. Dort verharrt sie. Zunächst glauben die Forscher an einen Fehler. Doch nachfolgende Experimente zeigen, dass sie ein neues Phänomen entdeckt haben. 1913 wird Kamerlingh Onnes dafür den Begriff Supraleitung prägen.


Firmenvertreter warten auf Supraleiter für den Alltag

Seit ihrer Entdeckung regen Supraleiter die Fantasie an. Schon Kamerlingh Onnes träumte vom völlig verlustfreien Stromtransport in Netzen. Für große Euphorie sorgte die Entdeckung der sogenannten Hochtemperatur-Supraleiter im Jahr 1986 am IBM-Forschungslabor bei Zürich. Dafür erhielten die beiden Entdecker Karl Alex Müller und Johann Georg Bednorz schon 1987 den Nobelpreis für Physik. Doch inzwischen ist wieder Ernüchterung eingekehrt, wie so oft in der Geschichte der Supraleiter.

Supraleitende Techniken sind zwar in der Grundlagenforschung unverzichtbar geworden. Im Alltag begegnet man ihnen aber nur im Kernspintomografen, denn die aufwendige Kühlung ist teuer. Die Lösung wäre Supraleitung bei Zimmertemperatur, aber solche Materialien blieben bislang ein Traum. Seit 1993 gelang es nicht mehr, den Temperaturrekord höher zu schieben. Mit minus 138 Grad Celsius (135 Kelvin) hält ihn ein keramischer Hochtemperatur-Supraleiter mit dem komplizierten Namen HgBa2Ca2Cu3O8 (Hg: Quecksilber, Ca: Calcium, Ba: Barium, Cu: Kupfer, O: Sauerstoff).

Bernhard Keimer erzählt von Firmenvertretern, die ihn kürzlich fragten, wann Supraleitung bei Raumtemperatur zu erwarten sei. "Zu ihrer Enttäuschung sagte ich ihnen, dass das völlig offen ist", sagt er und schmunzelt. Der Direktor am Max-Planck-Institut für Festkörperforschung in Stuttgart und diesjährige Träger des renommierten Leibniz-Preises muss es wissen. Schließlich forscht er seit vielen Jahren an Hochtemperatur-Supraleitern. Er möchte im Detail verstehen, wie diese Materialien ihren Widerstand verlieren - um so die Basis zu schaffen, auf der sich alltagstaugliche Supraleiter entwickeln lassen.

Das motiviert auch die Forschung von Frank Steglich, der Direktor am Max-Planck-Institut für Chemische Physik fester Stoffe in Dresden ist. Zu den Gemeinsamkeiten von Steglich und Keimer zählt nicht nur die Auszeichnung mit dem höchstdotierten deutschen Wissenschaftspreis: Beider Forschungsgebiete fallen unter den Überbegriff "unkonventionelle Supraleiter". Steglichs Dresdener Team arbeitet allerdings an sogenannten Schwere-Fermionen-Systemen, die bei sehr tiefen Temperaturen supraleitend werden.

"Um verstehen zu können, was unkonventionelle Supraleitung meint, muss man zuvor die klassische, konventionelle Supraleitung erklären", macht Steglich deutlich. Diese harte Nuss haben die drei Amerikaner John Bardeen, Leon Cooper und Robert Schrieffer erst 1957 geknackt. 1972 erhielten sie dafür den Physik-Nobelpreis. Die nach ihren Initialen benannte BCS-Theorie erschließt sich nur, wenn man in die Physik der Festkörper eintaucht.

Supraleitende Materialien bestehen wie die meisten Festkörper aus Kristallen. Darin organisieren sich ihre Atome zu einem regelmäßigen räumlichen Gitter. Die Natur liebt Ordnung, falls diese hilft, Energie zu sparen. Und das gelingt den Atomen in Kristallen, weil sie sich bestimmte Elektronen untereinander teilen können. Diese Elektronen sorgen für den Kitt, die chemische Bindung, zwischen den Atomen. Das funktioniert nur dank der Quantenphysik: Weil Elektronen als Quantenteilchen auch räumlich ausgedehnte Wellen sind, können sie benachbarte Atome miteinander verbinden.

In Metallen und Halbleitern wirken allerdings nicht alle Elektronen allein als Kristallkitt. Ein Teil von ihnen entwischt den Atomen und bewegt sich nahezu frei durch das Gitter, wobei sie dafür in Halbleitern eine gewisse Energiezufuhr benötigen. Diese freien Leitungselektronen tragen den elektrischen Strom. Die "Atomrümpfe" behalten durch den Verlust eine positive elektrische Ladung zurück.


Weiche Schwingungen verbinden zwei Elektronen

"Durch einen perfekten Kristall könnten die Leitungselektronen sich sogar ohne Widerstand bewegen", erklärt Frank Steglich. Dafür sorgt die gleichmäßige Anordnung der Atome: Passen die Abstände der Berge und Täler der Elektronenwelle zu den Distanzen zwischen den Atomen, kann das Elektron ungehindert durch den Kristall hüpfen.

Doch perfekte Kristalle gibt es nicht. Jedes Kristallgitter weist Webfehler auf. Sie passen nicht zum Takt der Elektronenwellen, weshalb diese an ihnen regelrecht abprallen. Und selbst wenn es Kristalle mit perfekt geordneten Atomen gäbe, würde die Temperatur den widerstandslosen Stromfluss vereiteln. Denn je höher sie steigt, desto stärker und schneller schwingt das Atomgitter des Kristalls - wie eine Matratze, auf der man wild hüpft. Auch das stört die kristalline Perfektion und behindert die Wellen der Leitungselektronen.

In den konventionellen Supraleitern werden die Schwingungen der atomaren Matratze bei tiefen Temperaturen langsam und weich - wie grundsätzlich in allen Materialien. Rast ein Leitungselektron durch das Gitter, dann zieht es auf seiner Bahn die positiv geladenen Atomrümpfe elektrisch an. Beim weichen Gitter schlackern die Atomrümpfe dem Elektron träge hinterher und kehren erst viel später in ihre Ausgangslage zurück.

"Bei konventionellen Supraleitern ist diese Gitterschwingung im Vergleich zur Elektronenbewegung äußerst langsam", betont Frank Steglich: "Das ist ganz wichtig!" Kommt nun ein zweites Elektron vorbei, dann wird es von dieser stärker konzentrierten positiven Ladung angezogen. Die Folge: Das Gitter verbindet es mit dem ersten Elektron, obwohl beide sich als elektrisch gleich geladene Teilchen heftig voneinander abstoßen. Erst der große zeitliche und damit auch räumliche Abstand bis zu einem Mikrometer - das entspricht einem tausendstel Millimeter - zwischen den beiden erlaubt die Ehe im weichen Gitterbett. Zum Vergleich: Der Abstand der Atome im Kristallgitter ist rund tausend Mal enger, er liegt im Bereich von zehntel Nanometern - ein Nanometer entspricht einem millionstel Millimeter.


Heftige Schwingungen zerstören die Cooperpaare

So entsteht aus zwei freien Elektronen ein Cooperpaar. Es ist nach Leon Cooper benannt, einem der drei Väter der BCS-Theorie. Seine Idee brachte 1957 den Durchbruch zu einer schlüssigen Erklärung der klassischen Supraleitung. Um die Eigenschaften der Cooperpaare zu verstehen, braucht man noch ihre "Spins". Spins beschreiben, etwas nonchalant gesagt, eine Art Quantenpirouette der Teilchen, und machen diese zu winzigen Quantenmagneten. Nach den strengen Regeln der Quantenphysik dürfen Spins sich allerdings nicht beliebig zueinander verdrehen. In den Cooperpaaren können sie sich wie einrastende Drehschalter nur parallel oder antiparallel zueinander orientieren.

Die Eigenschaften der Cooperpaare unterscheiden sich radikal von denen der Elektronen. Elektronen besitzen nach den Regeln der Quantenmechanik einen halbzahligen Spin. Sie zählen damit zur Teilchensorte der Fermionen. Diese sind recht besitzergreifend, sie beanspruchen einen Quantenzustand für sich allein. Im Cooperpaar subtrahieren sich nun die halbzahligen Spins beider Elektronen entweder zu einem Gesamtspin null, seltener addieren sie sich auch zu eins.

Quantenteilchen mit ganzzahligem Spin gehören jedoch zur Teilchensorte der Bosonen. Bosonen sind so gesellig, dass sie gerne alle gemeinsam in einen Quantenzustand hineinkondensieren, sofern die Wärmeenergie im System klein genug dafür wird. Bei Cooperpaaren ist das der supraleitende Zustand. Dort formen viele einander durchdringende Cooperpaare einen "makroskopischen" Quantenzustand. Dieses große Quantenobjekt kann einfach durch die vielen kleinen Fehler im Kristallgitter "hindurch schlittern", ohne sie zu spüren. So verschwindet der elektrische Widerstand. "In supraleitenden Kabeln kann sich dieser makroskopische Quantenzustand über Kilometer erstrecken", sagt Bernhard Keimer: "Das ist ganz erstaunlich!"

In konventionellen Supraleitern haben die räumlich weit ausgedehnten Cooperpaare immer einen Gesamtspin von null. Entscheidend für die Eigenschaften der konventionellen Supraleiter sind die im Vergleich zur Geschwindigkeit der Elektronen langsamen Gitterschwingungen, die die beiden Leitungselektronen zu einem Cooperpaar verbinden. Da Kristallgitter mit steigender Temperatur immer schneller und heftiger schwingen, zerstört dies die Cooperpaare. Deshalb lässt sich konventionelle Supraleitung nur bei relativ niedrigen Temperaturen beobachten.

Hochtemperatur-Supraleiter werden bei viel höheren Temperaturen supraleitend. Also muss in ihnen ein viel stärkerer Cooperpaar-Kleber wirken, damit die Gitterschwingungen die Paare nicht auseinanderreißen. Viele Indizien sprechen dafür, dass dieser Quanten-Superkleber ganz anders funktioniert als über Gitterschwingungen. Deshalb gilt er als Merkmal unkonventioneller Supraleitung. Eine schlüssige Theorie fehlt noch, doch eines ist klar: Supraleitung und Magnetismus spielen bei unkonventioneller Supraleitung eng zusammen.

Das ist überraschend, denn für konventionelle Supraleiter ist Magnetismus das reinste Gift. "Weniger als ein Prozent magnetischer Atome als Verunreinigung im Kristall zerstört schon dessen Supraleitung", erläutert Frank Steglich. Magnetische Atome bringen ein Elektron ins Kristallgitter ein, dessen nicht abgeschirmter Spin als kleiner Magnet am Platz des Atoms wirkt. Kommt nun in einem konventionellen Supraleiter ein Elektron eines ausgedehnten Cooperpaares vorbei, dann zwingt der lokale Spin dieses, seinen Spin passend umzuklappen. Dieser Seitensprung zerstört aber die schwache bosonische Ehe mit dem weit entfernten "Cooperpartner". Geschieht das zu oft, dann bricht die Supraleitung zusammen.


Cooperpaare mit besonders starkem Kleber

Bei unkonventionellen Supraleitern hingegen scheinen bestimmte Formen von Magnetismus geradezu förderlich zu sein. Das gilt auch für Schwere-Fermionen-Supraleiter, die Frank Steglich seit mehr als drei Jahrzehnten faszinieren: "Heute kennen wir knapp vierzig von ihnen!" Die meisten Schwere-Fermionen-Supraleiter verlieren erst bei sehr niedrigen Temperaturen ihren Widerstand. "Wenn wir ungefähr zwei Kelvin, also minus 271 Grad Celsius haben, sind wir schon froh", erklärt Steffen Wirth, ein Mitarbeiter von Steglich, die Herausforderung. Trotzdem erhoffen die Dresdener sich von solchen Supraleitern, auch zur Lösung des Rätsels um den Klebemechanismus in Hochtemperatur-Supraleitern beitragen zu können. Was aber ist ein Schweres Fermion?

Die Teilchen sind in einem Kristallgitter zu finden, zu dessen Grundbausteinen jeweils ein magnetisches Atom gehört: Cer zum Beispiel übernimmt diese Rolle in der Cer-Kupfer-Silicium-Verbindung CeCu2Si2, in der 1979 zum ersten Mal unkonventionelle Supraleitung entdeckt wurde. Inzwischen kennen die Dresdener diesen Urvater der Schwere-Fermionen-Supraleiter so gut, dass sie seine Eigenschaften bei der Kristallzucht genau einstellen können: Ein winziger Überschuss an Kupfer macht ihn zum Supraleiter, ein kleines Defizit zu einem Antiferromagneten.

Bei Antiferromagneten richten sich die den Magnetismus tragenden Elektronen, die beim Cer nach ihrem Platz in dessen Elektronenschalen 4f-Elektronen heißen, von Atom zu benachbartem Atom immer entgegengesetzt aus. Ihr gemeinsames Magnetfeld hebt sich also im Mittel perfekt auf. Deshalb heißt diese magnetische Ordnung Antiferromagnetismus, denn sie ist das Gegenstück zum weithin spürbaren Ferromagnetismus, der seinen Namen dem Eisen (lat. ferrum) verdankt.

In CeCu2Si2 als typischem Vertreter entwickeln die lokalen 4f-Elektronen bei sehr tiefen Temperaturen einen besonders starken Einfluss auf die freien Leitungselektronen: Sie verbinden diese, einfach gesagt, zu einer honigzähen Quantenflüssigkeit. Die darin steckenden Elektronen schleppen sich nun träge durch das Gitter - bis zu tausend Mal langsamer als normale Leitungselektronen. "Diese neuen Quasiteilchen verhalten sich also wie Elektronen, die scheinbar eine bis zu tausendfach größere Masse haben", sagt Steglich, "weshalb wir dafür Ende der 1970er-Jahre den Begriff Schwere Fermionen prägten."

Die Schweren Fermionen formen in solchen Supraleitern auch die Cooperpaare. Wegen ihrer Trägheit müssen die beiden Partner dafür jedoch nahe zusammenrücken, um sich miteinander verbinden zu können. Damit stoßen sie sich aber umso kräftiger elektrisch voneinander ab. Folglich muss der Kleber zwischen ihnen viel stärker sein als in konventionellen Cooperpaaren. Deshalb war schon vor über drei Jahrzehnten klar, dass der klassische BCS-Mechanismus hier nicht funktioniert.

Die Theoretiker machten zwar schon früh Vorschläge für alternative Klebemechanismen. Doch Festkörper sind komplizierte Gebilde aus enorm vielen Atomen und Elektronen, die sich wechselseitig beeinflussen. Im Experiment lässt sich deshalb nur schwer in sie "hinein schauen". Eine Möglichkeit bieten Neutronen: Diese Kernteilchen sind klein und elektrisch neutral, sodass sie Materie fast ungehindert durchdringen. Sie besitzen aber wie Elektronen einen halbzahligen Spin, der sie zu ebenbürtigen kleinen Magneten macht. Damit werden sie zu Sonden, die auf alle Elektronen mit "freiem" magnetischem Moment reagieren.

Mit dieser Methode hat Oliver Stockert, ebenfalls Mitarbeiter von Frank Steglich, kürzlich CeCu2Si2 an der Neutronenquelle des Instituts Laue-Langevin in Grenoble untersucht. Dabei fand sein Team heraus, dass die magnetischen Wechselwirkungen in dem Gitter tatsächlich zwanzigmal stärker sind, als das Verkleben der Cooperpaare es benötigt. "Offenbar ermöglichen sie auf diese Weise Supraleitung", so Stockert. Die Messungen mit Neutronen liefern zwar keinen Beweis, aber sozusagen den rauchenden Colt. Sein Kollege Steffen Wirth setzt parallel andere Methoden ein, um das Bild schlüssig zu ergänzen.


Kurzzeitige Magnetfelder verbinden die Elektronen

Dieses Bild nimmt inzwischen Konturen an. Der Cooperpaar-Kleber ist tatsächlich magnetisch. Für seine Kraft sorgen Spinfluktuationen der Schweren Fermionen. Sie bilden im allgemeinen Chaos kleine "Blasen" mit kurzreichweitiger magnetischer Ordnung, die schnell entstehen und wieder vergehen. Diese Fluktuationen entfalten ihre Wirkung besonders in der Nähe eines Zustands, der Quantenkritischer Punkt heißt. Erreichbar ist er über tiefe Temperaturen, die richtige chemische Mischung im Kristall, durch Magnetfelder oder Druck. Im CeCu2Si2 konkurrieren dort zwei sehr starke Effekte miteinander: Die antiferromagnetische Ordnung ringt mit dem normalen metallischen Zustand, der magnetisch ungeordnet ist. "Und wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte", sagt Wirth, und Stockert ergänzt: "Gerade an dem Punkt, wo sich die beiden gegenseitig aufheben, gibt es sehr starke Cooperpaar-erzeugende Spinfluktuationen."

Bei Spinfluktuationen wackeln die beteiligten Teilchen, respektlos gesagt, mit ihren Spins und beeinflussen sich so gegenseitig. Die dabei entstehenden kurzzeitigen Magnetfelder genügen, um die Elektronen kraftvoll zu Cooperpaaren zu verbinden. Auch in den keramischen Hochtemperatur-Supraleitern spielen Spinfluktuationen eine entscheidende Rolle. Davon seien zumindest die meisten der auf dem Gebiet forschenden Physikerinnen und Physiker überzeugt, sagt Bernhard Keimer - auch er.

"Allerdings haben wir hier nur ein einziges Elektronensystem, anders als bei den Schwere-Fermionen-Supraleitern", erklärt er. Das heißt, dass hier keine lokalen 4f-Elektronen für eine Tendenz zum latenten Antiferromagnetismus sorgen. Stattdessen tragen allein die Leitungselektronen das Wechselspiel zwischen magnetischer Ordnung und Supraleitung aus.

Die meisten Kupferoxid-Verbindungen, zu denen auch die Hochtemperatur-Supraleiter zählen, sind sogar Isolatoren. Ihr komplexes Kristallgitter hat einen sandwichartigen Aufbau. Darin spielen Schichten aus Kupfer- und Sauerstoffatomen eine zentrale Rolle. Deshalb heißen diese spröden Materialien Kuprate. Entlang dieser Kupferoxid-Ebenen bewegen sich die Cooperpaare, ihre Supraleitung ist also stark zweidimensional - sozusagen "flach". Die dafür nötigen Leitungselektronen bringen Fremdatome mit, mit denen die Forscher ihre Kristalle gezielt verunreinigen.

Bernhard Keimer zeigt an Bildern, wie die Supraleitung in Kupraten wahrscheinlich funktioniert. In den Kupferoxid-Ebenen der Kristalle überlappen sich bestimmte Elektronenzustände der Kupferatome gegenseitig. Diese "d-Orbitale" bilden die Rennbahn für die Leitungselektronen. Die Elektronen tendieren nun bei Annäherung zur supraleitenden Übergangstemperatur zu fluktuierender antiferromagnetischer Ordnung: Sie richten sich also in der engeren Nachbarschaft antiparallel aus.

Wenn nun ein elektrischer Strom fließt, dann müssen einzelne Leitungselektronen durch diese Spinlandschaft wandern. Die Regeln der Quantenphysik gebieten, dass sie dabei permanent die Spins von Elektronen, die ihnen begegnen, passend zum eigenen Spin umklappen. "Sie hinterlassen eine Spur von geflippten Spins, was eine Menge Energie kostet", erläutert Keimer: "Ihre Bewegung durch so einen antiferromagnetischen Hintergrund ist sehr zäh!" Diesen Energieaufwand können die Elektronen einsparen, wenn sie Cooperpaare formen - die wie bei den Schwere-Fermionen-Supraleitern sehr klein sind. Mit ihrem Gesamtspin von null werden sie gewissermaßen unsichtbar für das antiferromagnetische Stoppelfeld halbzahliger Spins. Sie rutschen ohne jeglichen Energieverlust durch, und das Kuprat wird perfekt elektrisch leitend.


Die Forschung soll der Gesellschaft etwas bringen

"Noch ist das eine Modellvorstellung", sagt Keimer lächelnd. Ein Stuttgarter Team unter Leitung seines Mitarbeiters Vladimir Hinkov hat aber am Forschungsreaktor FRM-II in Garching mit Neutronen beobachtet, dass tatsächlich starke Spinfluktuationen auftreten. Die Messdaten gaben sie "ohne Feintuning", so Keimer, in ein Modell ein, an dem Theoretiker in Stuttgart arbeiten. Diese rechneten damit eine Sprungtemperatur aus, bei der die Substanz theoretisch supraleitend wird. Der erste Schuss lag zwar mit 170 Kelvin fast doppelt so hoch wie die tatsächliche Sprungtemperatur der Substanz, aber aus Keimers Sicht ist das Resultat sehr ermutigend: "Je näher man hinschaut, desto einfacher wird das Bild."

Die Stuttgarter haben auch die Herstellung künstlicher Kristalle perfektioniert, mit denen sie nun den Schichtaufbau der Kuprate imitieren wollen. Davon erhoffen sie sich weitere Lernschritte. "Man kommt mit einfachen Modellen bei der Hochtemperatur-Supraleitung sehr weit", bilanziert Keimer optimistisch. Vielleicht tragen die Erkenntnisse eines Tages dazu bei, ein Material zu entwickeln, das Strom bei Zimmertemperatur ohne Widerstand leitet. Dieses Fernziel hat Bernhard Keimer im Blick. "Als Grundlagenforscher hat man schon die Vision, dass diese Forschung eines Tages der Gesellschaft etwas bringt."


GLOSSAR

Sprungtemperatur
Die Temperatur, unterhalb derer ein Material supraleitend wird.

Fermion
Teilchen mit halbzahligem Spin; Fermionen wie etwa Elektronen beanspruchen jedes für sich einen eigenen Quantenzustand.

Schwere-Fermionen-Supraleiter
In ihnen tragen ungepaarte Elektronen zur Supraleitung bei, die sich in einigen Metallen sehr nah an den Atomkernen aufhalten. Daher bewegen sie sich fast mit Lichtgeschwindigkeit, weshalb sie schwerer erscheinen, als sie tatsächlich sind.

Cooperpaar
Zwei Elektronen, die zu den Fermionen gehören, schließen sich zu einem Cooperpaar zusammen und werden zu einem Bosonen. Bei ausreichend tiefen Temperaturen besetzen zahllose Cooperpaare einen Quantenzustand, in dem sie die Defekte und Schwingungen des Kristalls nicht mehr spüren - der Widerstand verschwindet.

Bosonen
Teilchen mit ganzzahligem Spin; anders als die Fermionen besetzen sie im Grundzustand alle einen einzigen Quantenzustand.

Spinfluktuationen
Der Spin oder Eigendrehimpuls gibt einem Elektron ein magnetisches Moment. Die Ausrichtung der Spins entscheidet daher über die magnetische Ordnung in einem Material. Auch bevor es eine bestimmte magnetische Ordnung - etwa ferromagnetisch oder antiferromagnetisch - annimmt, kann sich diese Ordnung vorübergehend in manchen Bereichen bereits ausbilden, weil die Spins fluktuieren, also ihre Orientierung ändern.


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Quelle:
MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftmagazin der Max-Planck-Gesellschaft
Ausgabe 1/2011, Seite 48-55
Herausgeber: Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juli 2011