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GESCHICHTE/028: Erinnerungen an den deutschen Physiker Hans Falkenhagen (1895-1971) (Sieghard Scheffczyk)


Dem freien Schöpferprozess des Denkens verpflichtet

Erinnerungen an Professor Hans Falkenhagen

Von Sieghard Scheffczyk, Mai 2011


Anmerkung der Schattenblick-Redaktion:
Anläßlich des 116. Geburtstags von Professor Dr. Hans Falkenhagen, dem Mitbegründer der Theorie starker Elektrolyte, am 13.05.2011 veröffentlicht der Schattenblick den folgenden Beitrag von Sieghard Scheffczyk


Vor 40 Jahren, am 26. Juni 1971, verstarb in Rostock der aus Wernigerode gebürtige Physiker Hans Falkenhagen nach einem erfüllten Forscherleben. Dieses Datum soll zum Anlass genommen werden, dessen Lebensweg und insbesondere seine bleibenden wissenschaftlichen Leistungen auf dem Gebiet der Elektrolytforschung sowie in zahlreichen anderen Fachbereichen der theoretischen und experimentellen Physik, aber auch der physikalischen Chemie, in das Blickfeld der Leserinnen und Leser zu rücken.

Foto: Porträt von Prof. Dr. Hans Falkenhagen (13.05.1895 - 26.06.1971) -Quelle: Catalogus Professorum Rostochiensium

Foto: Prof. Dr. Hans Falkenhagen (13.05.1895 - 26.06.1971)
Quelle: Catalogus Professorum Rostochiensium


Begabung als Verantwortung

Umso mehr gilt dies, da Hans Falkenhagen ein Repräsentant jener Kategorie von Wissenschaftlern war, die ihre herausragende Befähigung und überdurchschnittliche Intelligenz nicht als naturgegebenes Privileg ansahen, das sie über ihre Mitmenschen erhob, sondern als Ansporn und Verpflichtung zu unermüdlicher Forschertätigkeit, um den Wissenshorizont der Menschheit zum gemeinschaftlichen Wohle zu erweitern. Ganz in diesem Sinne fühlte sich Falkenhagen dem freien Schöpferprozess des Denkens verpflichtet, den er im Vorspann zu seinem im Jahre 1948 im S. Hirzel Verlag Stuttgart erschienenen wissenschaftshistorischen Buch "Die Naturwissenschaft in Lebensbildern großer Forscher" als wichtigste Triebkraft für alle Fortschritte und positiven Entwicklungen charakterisiert.

Bescheidenheit und Güte, sowie Achtung und Anerkennung der Leistungen anderer prägten die Persönlichkeit des vielseitig begabten Hans Eduard Wilhelm Falkenhagen - so sein vollständiger Name - seit frühester Jugend. Geboren als Sohn eines Baumeisters und Bildhauers am 13. Mai 1895 im idyllischen Harzstädtchen Wernigerode, wo er auch seine schulische Ausbildung erhielt und im Februar 1913 das Abitur ablegte, wählte Hans Falkenhagen auf Wunsch seiner Eltern die naturwissenschaftliche Laufbahn, obwohl er auch über eine hohe musikalische Begabung verfügte, die in seinem virtuosen Geigenspiel zum Ausdruck kam. Das Studium der Physik, Mathematik und Chemie an den Universitäten Heidelberg, München und Göttingen, das durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen wurde, schloss er im Jahre 1921 mit der Promotion zum Thema "Kohäsion und Zustandsgleichung von Dipolgasen" beim späteren Nobelpreisträger Prof. Peter Debye (1884 - 1966) ab. Deren Prädikat "summa cum laude" - mit höchstem Lob - stand gleichsam als Leitstern am Horizont der weiteren wissenschaftlichen Entwicklung des Dr. phil. Hans Falkenhagen.


Frühe wissenschaftliche Leistung von Weltrang

Nach einer einjährigen Assistententätigkeit an der Technischen Hochschule Danzig wechselte Falkenhagen am 1. Oktober 1922 an die sich in einer Aufschwungphase befindlichen Universität zu Köln, wo er 1924 als Assistent von Prof. Karl Försterling (1885 - 1960) - der ebenfalls aus Wernigerode stammte - mit einer Arbeit über den Paschen-Back-Effekt des Wasserstoffatoms habilitiert wurde. In jener Zeit beschäftigten sich Försterling und Falkenhagen intensiv mit Themenstellungen aus der Optik und der Atomphysik. Falkenhagen erhielt einen außerplanmäßigen Lehrauftrag, der in den Jahren 1927 bis 1931 durch die auf Grund der Gewährung eines Forschungsstipendiums der Rockefeller-Stiftung ermöglichte wissenschaftliche Tätigkeit bei Peter Debye in Zürich und Leipzig sowie einen Forschungsaufenthalt in den USA unterbrochen war. 1928 gelang ihm gemeinsam mit seinem Lehrer und akademischen Mentor Debye die Entdeckung des Debye-Falkenhagen-Effektes, der die Dispersion der Leitfähigkeit starker Elektrolyte aufzeigt und Bestandteil der Debye-Hückel-Onsager-Falkenhagen-Theorie - der Theorie der interionischen Wechselwirkungen in Elektrolytlösungen - ist. Diese bedeutende wissenschaftliche Leistung begründete Hans Falkenhagens exzellenten Ruf in der internationalen Fachwelt, der durch sein im Jahre 1932 erschienenes Standardwerk "Elektrolyte", das umgehend in mehrere Sprachen übersetzt wurde, zusätzliches Renommee erhielt. Die Theorie der elektrolytischen Lösungen war bestimmend für seine weitere Arbeit. Nachfolgend widmete sich Hans Falkenhagen vorrangig der Erforschung der Struktur und Eigenschaften von Ionenlösungen.

Foto: französische Ausgabe des Hauptwerks von Professor Falkenhagen: 'Elektrolyte'

Foto: französische Ausgabe des Hauptwerks
von Professor Falkenhagen: "Elektrolyte"

Der Aufenthalt an der Universität von Wisconsin in Madison vom 1. April 1930 bis zum 30. September 1931 bildete einen weiteren Meilenstein in der wissenschaftlichen Karriere von Hans Falkenhagen, der im Mai 1930 zum außerordentlichen Professor an der Universität Köln ernannt worden war. Über seine Forschungsarbeiten in den USA - u. a. bei Farrington Daniels (1889 - 1972), der später als Leiter des Metallurgischen Labors des Manhattan-Projektes maßgeblich am Bau der ersten Atombomben mitgewirkt hatte und als Pionier auf dem Gebiet der praktischen Einführung der Solarenergie in den USA gilt - ist leider wenig bekannt, da an der Universität von Wisconsin keine entsprechenden Unterlagen mehr vorhanden sind, wie eine Anfrage des Autors dieses Beitrages ergab. Überliefert ist lediglich, dass Falkenhagen in der Abteilung für physikalische Chemie tätig war und dort das Problem der Viskosität stark verdünnter Elektrolyte bearbeitete.


Ein ausgeschlagener Nobelpreis?

Beim gegenwärtigen Stand der Recherchen muss die Vermutung rein spekulativ bleiben, dass sich Hans Falkenhagen an der Universität von Wisconsin - oder aber unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Deutschland an der Universität Köln - mit Untersuchungen beschäftigt haben könnte, die zum experimentellen Nachweis des Neutrons führten. Die spätere wissenschaftliche Tätigkeit von Hans Falkenhagen ist hinreichend genau dokumentiert und lässt anhand der zugänglichen Quellen keine Freiräume bzw. Zeitfenster für solche Experimente erkennen. Trotzdem findet man in der Literatur immer wieder Angaben, die von einer parallelen Entdeckung des Neutrons durch Hans Falkenhagen und James Chadwick (1891 - 1974), der dafür im Jahre 1935 den Nobelpreis erhielt, ausgehen. Vom Autor dieses Beitrages wurden mehrere Dutzend entsprechender Äußerungen aus zahlreichen Ländern recherchiert[1]. Deren Ursprung liegt - soviel lässt sich bereits heute zweifellos feststellen - im angelsächsischen Raum. In diesen wird angeführt, dass Chadwick, nachdem er von der parallelen Entdeckung des Neutrons durch Hans Falkenhagen erfuhr, diesem angeboten haben soll, den Nobelpreis mit ihm zu teilen, was Falkenhagen indes bescheiden abgelehnt habe.

Abb.: Auszug aus einem Eintrag zu dem englischen Physiker James Chadwick in der New World Encyclopedia unter www.newworldencyclopedia.org

Abb.: Auszug aus einem Eintrag zu dem englischen Physiker
James Chadwick in der New World Encyclopedia unter
www.newworldencyclopedia.org

Eine Anfrage im Churchill-Archiv in Cambridge, in dem der Nachlass von Chadwick aufbewahrt wird, ergab, dass dort keine Korrespondenz mit Falkenhagen vorhanden ist. Jedoch teilte die dortige Archivarin mit, dass zahlreiche Dokumente - insbesondere solche, die im Zusammenhang mit dem Manhattan-Projekt stehen - noch immer unter Verschluss gehalten werden. Und die Entdeckung des Neutrons war ja eine der Voraussetzungen für jenes umheilvolle Projekt, in dem wissenschaftliches Schöpfertum pervertiert zur massenhaften Vernichtung von Menschenleben herangezogen wurde. Die Opfer von Hiroshima und Nagasaki haben dafür mit ihrer Gesundheit oder sogar mit ihrem Leben bezahlt. Sie stehen als Menetekel für eine Wissenschaft, die Hans Falkenhagen und mit ihm viele der besten Gelehrten aller Epochen niemals gutgeheißen haben.

In etlichen vom Autor geführten Gesprächen - auch mit noch lebenden ehemaligen Mitarbeitern und Schülern Falkenhagens aus seiner Rostocker Zeit - hat es unterschiedliche Erklärungsmuster für die Unwahrscheinlichkeit der Parallelität der Neutronenentdeckung gegeben. Der absolut stichhaltige Beweis hierfür fehlt jedoch. Solange dieser nicht erbracht ist, gilt es weiter zu recherchieren, um das "letzte Geheimnis Hans Falkenhagens" zu entschlüsseln.

Foto: Handschrift von Professor Hans Falkenhagen -Quelle: Harzbücherei Wernigerode

Foto: Handschrift von Professor Hans Falkenhagen
Quelle: Harzbücherei Wernigerode


In Leitungsverantwortung

Am 1. Januar 1933 übernahm Professor Falkenhagen die Leitung der Abteilung für Elektrolytforschung am Physikalischen Institut der Universität Köln. Zum 1. Oktober 1936 folgte er einem Ruf an die Technische Hochschule Dresden, wo er mit der Leitung des Instituts für Theoretische Physik, betraut wurde, die er bis zu seinem erzwungenen Ausscheiden im Jahre 1945 innehatte. In jene Zeit fielen auch Arbeiten von kriegswirtschaftlicher Bedeutung, z. B. Untersuchungen zur Entwicklung von Materialien, die die Radarortung von U-Booten erschweren bzw. unmöglich machen sollten. Des Weiteren wurde eine experimentelle Methode zur Erzeugung von Ultraschall mittels Elektrostriktion entwickelt, deren Publikation in der Fachwelt auf große Aufmerksamkeit stieß.

Mit Beginn des Jahres 1949 konnte Hans Falkenhagen seine wissenschaftliche Laufbahn an der Universität Rostock als Professor mit Lehrstuhl für theoretische Physik fortsetzen. Noch im gleichen Jahr übernahm er die Leitung des neugegründeten Instituts für Theoretische Physik, das sich schon bald zur weltweit anerkannten "Rostocker Elektrolytschule von Professor Hans Falkenhagen" entwickeln sollte, aus der zahlreiche Wissenschaftler hervorgingen, deren Arbeitsresultate Meilensteine auf dem Weg der modernen Elektrolytforschung setzten, an denen sich die Physiker und Chemiker noch heute - nach einem halben Jahrhundert - orientieren. In diesem Zusammenhang dürfen die Fähigkeiten und Verdienste von Professor Hans Falkenhagen als Hochschullehrer nicht unerwähnt bleiben. Mit treffsicherem Urteil erkannte und förderte er Talente, deren wissenschaftliches Leistungspotential er optimal für das von ihm geleitete Institut nutzte.

Als Mensch zeichnete sich der geniale Forscher durch Bescheidenheit und Güte aus, dem auch die zahlreichen zu seinen Lebzeiten erfolgten Ehrungen - Falkenhagen war u. a. Nationalpreisträger und Mitglied Deutschen Akademie der Wissenschaften sowie der Leopoldina - nicht die Bodenhaftung verlieren ließen. Sein konsequentes Eintreten für den Weltfrieden und gegen eine atomare Aufrüstung belegte Hans Falkenhagen am 3. Mai 1957 als Mitunterzeichner der Solidaritätserklärung für die "Göttinger Achtzehn"[2].


Erfülltes Forscherleben

Bis weit über das siebzigste Lebensjahr hinaus wissenschaftlich aktiv und seinem Institut als Berater und Nestor zur Verfügung stehend, konnte Professor Hans Falkenhagen auf ein erfülltes Leben zurückblicken, das im Dienste von Wissenschaft und Forschung stand. Seine Beiträge zur modernen Physik und Chemie sind weiterhin relevant. Als Mensch und Forscher war - und bleibt - er Vorbild für nachfolgende Wissenschaftlergenerationen. Umso erfreulicher für alle, die ihn kennen und schätzen, ist deshalb der am 24. März diesen Jahres erfolgte Beschluss des Stadtrates von Wernigerode, eine Straße im künftigen Gewerbegebiet "Am Smatvelde" nach Hans Falkenhagen zu benennen. Zwar spät, aber nicht zu spät, hat die "Bunte Stadt am Harz" damit ihrem bedeutenden Sohn ein bleibendes Denkmal gesetzt.


Fußnoten:

[1] u. a.: John C. Kotz, Paul M.Treichel and John Townsend: Chemistry & Chemical Reactivity, Brooks/Cole Publishing Company, 7th Edition (2010), ISBN 13: 9780495387039, S. 347: "At the same time Hans Falkenhagen in Germany discovered neutrons also, but he did not publish his results."

[2] Die Göttinger Achtzehn waren eine Gruppe von 18 prominenten westdeutschen Atomphysikern - u. a. Otto Hahn, Werner Heisenberg, Fritz Strassmann und Carl Friedrich von Weizsäcker -, die sich am 12. April 1957 in einer gemeinsamen Göttinger Erklärung gegen die angestrebte Aufrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen wandten und dafür Repressalien ausgesetzt waren.


Zum Autor:
Sieghard Scheffczyk ist Projektleiter der JugendTechnikSchule in Berlin und Redakteur der KON TE XIS-Informationsschrift.

Abb.: Dokument des Stadtrats Wernigerode zur Vergabe des Straßennamens 'Hans-Falkenhagen-Straße'   
    Abb.: Dokument des Stadtrats Wernigerode zur Vergabe des Straßennamens 'Hans-Falkenhagen-Straße'

Abb.: Dokument des Stadtrats Wernigerode zur Vergabe des Straßennamens "Hans-Falkenhagen-Straße"


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Quelle:
© 2011 Sieghard Scheffczyk
Mit freundlicher Genehmigung des Autors
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Mai 2011