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BERICHT/005: Die DPG stellt vor - Endlichkeit nicht vorgesehen ... (SB)



Die Geschwindigkeit, mit der gegenwärtig Veränderungen in den verschiedenen Natursystemen ablaufen, ist erdgeschichtlich einmalig. Unter dem Einfluß des Menschen findet ein Massenaussterben der Tier- und Pflanzenarten statt, die Ozeane versauern, die Atmosphäre wird mit Klimagasen und Schadstoffen vergiftet, Grundwasserpegel sinken weltweit, die untere Atmosphäre heizt sich auf, Gletscher schmelzen, der Meeresspiegel steigt ... Mit dem im vergangenen Jahr in Kraft getretenen Klimaschutzabkommen von Paris wurde beschlossen, die Erderwärmung auf einem Niveau auszubremsen, bei dem bestenfalls die wohlhabenderen Staaten mit einem blauen Auge davonkommen, nicht jedoch die ärmeren Länder, die sich die erforderlichen Anpassungsmaßnahmen nicht leisten können. Daß sie hierfür ausreichende finanzielle Unterstützung über international aufgelegte Klimafonds erhalten, ist bislang ein bloßes Versprechen. Nicht erst seit der Nationalchauvinist Donald Trump das Präsidentenamt in den USA übernommen hat, klaffen zwischen solchen Zusagen der sogenannten Geberländer und ihren tatsächlichen Transferleistungen - seien es akute Hungerhilfe, Entwicklungszusammenarbeit oder Entschuldungsinitiativen - oftmals gewaltige Lücken. In der heutigen Zeit zunehmender zwischenstaatlicher Feindseligkeiten hat verloren, wer auf Hilfe hofft. Schon sechs Monate nach dem Abkommen von Paris wurde die darin beschlossene Grenze, die globale Erwärmung möglichst auf unter 1,5 Grad gegenüber der vorindustriellen Zeit zu halten, beinahe erreicht. Das Verbrennen fossiler Energierohstoffe wird nicht gestoppt. Die Erde steuert auf Verhältnisse zu, in denen auch die 2-Grad-Leitplanke durchbrochen wird. Business as usual, ob mit oder ohne grünem Feigenblatt, wird seitens der Natursysteme nicht unbeantwortet bleiben. Das ergeben die vielen wissenschaftlichen Untersuchungen von kaum weniger vielen Aspekten der nur unzureichend mit "Klimawandel" bezeichneten globalen Umwälzungen.

"Manchmal ist es leichter, eine langfristige Stellungnahme abzugeben als eine kurzfristige", sagte der Klimaphysiker Prof. Anders Levermann vom Potsdam Institut für Klimawandelfolgen (PIK). "Wenn ich hier einen Eiswürfel auf den Tisch lege, werden wir vielleicht unterschiedlicher Ansicht sein, wie lange er braucht, um zu schmelzen", setzte er fort, "aber wir werden keinen Dissenz darüber haben, daß er schmilzt." Mit dieser Analogie wollte er verdeutlichen, wie schwierig es einerseits ist, das kurzfristige Verhalten der antarktischen Gletscher bei zunehmender globaler Erwärmung vorauszusagen, aber daß andererseits Einigkeit darin besteht, daß das Eis irgendwann verschwunden sein wird, wenn sich die Erde weiter aufheizt. Den Vergleich zog Levermann in seinem Vortrag mit dem Titel: "Future sea level: Antarctica's ways of losing ice" (z. Dt.: Zukünftiger Meeresspiegel: Auf welchen Wegen die Antarktis Eis verliert) am zweiten Tag der Frühjahrstagung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG), die vom 13. bis 17. März 2017 in Bremen stattfand.


Beim Vortrag vor einer Projektion mit verschiedenen Diagrammen zur Eisentwicklung der Antarktis - Foto: © 2017 by Schattenblick

Prof. Dr. Anders Levermann
Foto: © 2017 by Schattenblick

Mögen die physikalischen Berechnungsmethoden zu den Volumenänderungen des antarktischen Eises zunächst nachvollziehbarer erscheinen als die zu einigen anderen der auf der Frühjahrstagung beschriebenen Phänomene wie Schwarze Löcher, gekrümmte Raumzeiten oder Gravitationswellen, so ging aus den Ausführungen des Klimaforschers hervor, daß der Teufel im Detail steckt. In einer wärmeren Welt schmelzen die Gletscher und Eismassen der Antarktis erwartungsgemäß schneller ab als in einer kälteren, aber zugleich werden die Eisschilde mächtiger. Denn in einer wärmeren Welt vermag die Luft mehr Wasser zu binden, so daß die Luftfeuchtigkeit steigt, was mit einem stärkeren Schneefall einhergeht. Pro ein Grad globale Erwärmung nehme der Schneefall in der Antarktis um 5,5 Prozent zu, berichtete der Referent.

Aber der Schnee, der auf das Schelfeis fällt, drückt dieses ins Wasser. Bekanntlich sieht man von einem Eisberg nur die Spitze, fast 90 Prozent liegen unter Wasser. Das gleiche gilt auch für die Schelfgebiete. Sie schwimmen auf dem Meer und sind lediglich mit den landeinwärts liegenden Gletschern fest verbunden. Das heißt, auf einem Schelf würde 90 Prozent des zusätzlichen Schneeintrags im Wasser verschwinden. Das gilt jedoch nicht für die Eisschilde und Gletscher ab der sogenannten Aufsetzlinie. Diese Linie markiert die Grenze zwischen dem schwimmenden und dem auf dem Meeresboden aufsetzenden Teil von Gletschern und Eisschelfen. Ab der Aufsetzlinie summiert sich ein zusätzlicher Schneefall auf, das Eis wächst. Dadurch wird jedoch das Gefälle der Gletscher von Land zum Meer steiler, was zur Folge hat, daß sie schneller fließen und stärker kalben, so daß die Eisverluste anwachsen. "Rund 35 Prozent der Eisverluste der Antarktis gehen auf zusätzlichen Schneeintrag zurück", berichtete Levermann.

Es hätte den Zeitrahmen des Vortrags maßlos gesprengt, wäre der Referent auf sämtliche Effekte im Zusammenhang mit der Fließgeschwindigkeit der Gletscher in einer wärmeren Welt eingegangen. Beispielsweise sorgt sommerliches oberflächliches Schmelzwasser, das in die Spalten und Risse der Gletscher fließt, sowohl für deren Desintegration als auch einen aufgeweichten, rutschigeren Untergrund; dies verstärkt die Eisverluste.


Mehrere Meter breiter Fluß im zerklüfteten Eis - Foto: Halorache, freigegeben als CC-BY-SA-3.0 [https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:CC-BY-SA-3.0] via Wikimedia Commons

Fluß auf dem Inlandeis von Grönland, Expédition ACarré, 22. Juli 2009
Foto: Halorache, freigegeben als CC-BY-SA-3.0 [https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:CC-BY-SA-3.0] via Wikimedia Commons

Wie Levermann sagt, machen die oberflächlichen Schmelzprozesse zur Zeit nur ein Prozent der gesamten jährlichen Eisverluste der Antarktis aus, aber ergänzend zum Vortrag wäre zu sagen, daß das wenige Schmelzwasser an bestimmten Stellen eine nicht zu vernachlässigende Wirkung entfalten kann. Das zeigt sich besonders drastisch am Eisschild Grönlands, der seit 1997 immer schneller an Masse verliert. Zuvor war das sommerliche Schmelzwasser in Spalten und Rissen gefangen worden und ist im Winter festgefroren, so daß das Eisvolumen relativ stabil blieb. Doch inzwischen ist das Eis so porös, daß das Schmelzwasser vollständig abfließt und ein realer Eismassenverlust eintritt. Darüber berichtete eine schweizerisch-niederländische Forschergruppe am 31. März 2017 in dem Fachjournal "Nature Communications". [1]

Auf das Gletscherkalben infolge warmen Strömungen von unterwärts kommt laut Levermann der Hauptanteil an Eisverlusten in der Antarktis zu. Und er nannte hierzu ein weiteres Beispiel; Berechnungen zur Dynamik an der Kalbungsfront sind gewissermaßen eines der Spezialgebiete des Referenten: Wenn ein Eisschelf randlich nicht mehr durch Landmassen oder vorgelagerte Inseln eingefaßt wird, nimmt die Kalbungsgeschwindigkeit zu. Am Beispiel einer Computersimulation, in die zahlreiche Daten unter anderem aus Satellitenbeobachtungen eingeflossen sind, zeigte er, wie sich nach dem Zusammenbruch des Eisschelfs Larsen A im Jahr 1995 die Aufsetzlinie des benachbarten Schelfs Larsen B zurückgezogen hat. 2002 löste sich Larsen B größtenteils auf. (Quer durch das Schelfgebiet Larsen C, das sich südlich an Larsen B anschließt, wächst seit einigen Jahren ein riesiger Riß.)

Noch sorgen kalte Meeresströmungen in vielen Küstenbereichen der Antarktis dafür, daß wärmeres Meerwasser nicht an die Schelfeisgebiete herankommt. Aber das könnte sich ändern, wenn die großen Schelfflächen abbrechen. Deren Eis schwimmt, das heißt, wenn es abbricht, trägt es nicht unmittelbar zum Meeresspiegelanstieg bei. Aber weil nach dem Abbrechen die Geschwindigkeit der von ihrem Widerstand befreiten Gletscher wächst, sorgt dies indirekt für einen Anstieg des Meeresspiegels.

Die Auflösung des Larsen-Schelfeisgebiets und das beschleunigte Abgleiten einer Reihe von Gletschern auf der westantarktischen Halbinsel läßt die Klimaforschung zu dem Schluß kommen, daß in dieser Region ein sogenannter Tipping Point überschritten wurde. Der Vorgang ist nicht mehr aufzuhalten, voraussichtlich wird das gesamte Eis der Westantarktis verschwinden. Der globale Meeresspiegel dürfte dadurch um drei bis vier Meter steigen.


Grafik: © Levermann et al./The Cryosphere [siehe Anm. 2], freigegeben als CC-BY-3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/]

Schematische Darstellung des Gletscherfließens. Die grünen Pfeile geben Kräfte in und gegen die Fließrichtung des Gletschers an. Die roten Pfeile zeigen zunächst nach innen, solange der Gletscher durch Land begrenzt ist, aber weisen dann nach außen, wenn die seitliche Begrenzung wegfällt.
Grafik: © Levermann et al./The Cryosphere [siehe Anm. 2], freigegeben als CC-BY-3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/]

Heute liegt der Meeresspiegel rund 19 cm höher als vor rund 100 Jahren. Dieser Trend wird sich in den nächsten Jahrhunderten fortsetzen, durchaus mit höherer Geschwindigkeit, wie Levermann berichtete. Er zählt allerdings nicht zu den Forschern, die von drastischen Meeresspiegeländerungen ausgehen. So zog er das Resümee, daß der Meeresspiegel bis Ende dieses Jahrhunderts um 40 bis 50 cm steigen könnte. Für jedes Grad Temperaturanstieg kämen noch einmal 2,30 bis 2,50 Meter hinzu.

Wie anders vernimmt sich demgegenüber eine Studie, die der frühere leitende Klimaforscher der US-Raumfahrtbehörde NASA, James Hansen, der US-Eisforscher Eric Rignot (den Levermann in seinem Vortrag zitiert hat) und mehr als ein Dutzend weiterer Expertinnen und Experten im vergangenen Jahr veröffentlicht haben. Sie schreiben, daß der Meeresspiegel in den nächsten 50 bis 150 Jahren um mehrere Meter steigen könnte, und gründen ihre Analyse unter anderem auf einen Vergleich mit dem, was man aufgrund sogenannter Proxy-Daten für das geologische Zeitalter des Eem festgestellt hat. Demnach lag damals die globale Durchschnittstemperatur nur rund ein Grad höher als heute, aber der Meeresspiegel übertraf den des heutigen Niveaus um sechs bis neun Meter. Die Volumenabnahme der empfindlicheren Eismassen auf der Erde dürfe nicht linear, sondern müsse exponentiell berechnet werden, heißt es in der Studie. [3]

Einerseits wandte sich Levermann gegen die Angst vor dem Meeresspiegelanstieg - wenn man sich nicht ausgesprochen dumm anstelle, werde man nicht ertrinken, - andererseits gegen Politiker und Industrie, die sich wegen der langsamen Geschwindigkeit, mit der das Meer steigt, keine Sorgen machen und sagen, es passiere sowieso nichts, man brauche darauf keine Rücksicht zu nehmen. Diese Einschätzung sei falsch, denn das Potential des Meeresspiegelanstiegs sei enorm. Allein wenn der ostantarktische Eisschild abschmelze, werde der Meeresspiegel um 50 Meter steigen.

Alles in allem äußerte sich der Klimaphysiker immer dann besonders vorsichtig, wenn er konkrete Zahlen wiedergab. Ganz im Sinne der eingangs erwähnten Eiswürfel-Analogie bevorzugte er die Weitergabe von Bandbreiten, die sich aufgrund verschiedener Szenarien ergeben, anstatt sich auf einen einzigen Wert zur Projektion der Klima- und Eisentwicklung festzulegen. Der Referent arbeitet viel mit Computermodellen, sagt aber dennoch von ihnen bezogen auf die Antarktis, daß sie ungenügend sind, da keine ausreichend langen Meßreihen vorliegen. Feststellbar sei mit den Simulationsberechnungen eher, ob überhaupt eine Destabilisierung der antarktischen Eismassen eintritt.


Luftaufnahme von weiter, ebener Schneelandschaft, durch die ein riesiger Riß bis zum Horizont führt - Foto: John Sonntag/NASA

Ein langer, breiter Riß zieht sich durch einen Teil des Schelfeises Larsen C
10. November 2016, Operation IceBridge
Foto: John Sonntag/NASA

Wie andere Wissenschaftsbereiche auch steht die Eis- und Klimaforschung vor dem Problem, daß sie vielleicht die vergangenen Entwicklungen mit Computersimulationen ganz gut modellieren kann, aber darauf gegründet kann sie nur Projektionen erstellen. Um mit dem Schweizer Physiker und Philosophen Prof. Dr. Dr. Claus Beisbart zu sprechen, der mit Blick auf die Datenverarbeitung für Wettervorhersagen konstatierte: Die Daten dafür sind nicht in den zuvor gemessenen Datensätzen enthalten. "Philosophisch gesprochen stehen wir vor dem folgenden Problem: Wir haben immer nur Daten für die Vergangenheit, die wir trotzdem in die Zukunft projizieren wollen." [4]

So hat es im Laufe der Erdgeschichte immer Warm- und Kaltzeiten im Wechsel gegeben. Das leitet die Forschung aus Proxydaten wie zum Beispiel Baumringen, Eisbohrkernen, Sedimentgesteinen etc. ab. Dabei geht die Forschung von wechselweise wiederkehrenden Phänomenen aus. Was war, wird Maßstab dafür, wie es werden könnte. Was nicht war, ist kein Bestandteil der Simulationen. Endlichkeit ist nicht vorgesehen. Da der Mensch inzwischen als treibende Kraft des Klimawandels angesehen wird und die Ausbreitung der menschlichen Spezies über den gesamten Planeten so deutliche geologische Spuren hinterlassen hat, daß Stratigraphen bereits von einem neuen Erdzeitalter, dem Anthropozän, sprechen, kommt ein neuer erdgeschichtlicher Faktor ins Spiel, der nicht aus der geologischen Vorzeit hergeleitet werden kann und keinen zyklischen Charakter aufweist.

Levermann empfiehlt, bei Klimaanpassungsmaßnahmen sich am oberen Wert der Simulationsergebnisse zum Meeresspiegelanstieg zu orientieren. Allerdings, so wäre dem Referenten entgegenzuhalten, besteht in der Wissenschaft darüber, was der obere Wert ist, kein Konsens.


Fußnoten:

[1] http://www.nature.com/articles/ncomms14730

[2] Levermann, A., Albrecht, T., Winkelmann, R., Martin, M. A., Haseloff, M., and Joughin, I.: Kinematic first-order calving law implies potential for abrupt ice-shelf retreat, The Cryosphere, 6, 273-286, doi:10.5194/tc-6-273-2012, 2012.

[3] http://www.atmos-chem-phys.net/16/3761/2016/acp-16-3761-2016.pdf

[4] http://schattenblick.de/infopool/natur/report/nrin0012.html


Bisher im Schattenblick unter INFOPOOL → NATURWISSENSCHAFTEN → REPORT zur DPG-Frühjahrstagung in Bremen erschienen:

BERICHT/004: Die DPG stellt vor - Verantwortung der Wissenschaft ... (SB)
INTERVIEW/009: Die DPG stellt vor - unzureichend treibt voran ...    Prof. Dr. Claus Lämmerzahl im Gespräch (SB)
INTERVIEW/010: Die DPG stellt vor - Schwingungen und Perspektiven ...    Prof. Dr. Klaus Fredenhagen im Gespräch (SB)
INTERVIEW/011: Die DPG stellt vor - fortschreitendes Verständnis (Teil 1) ...    Prof. Dr. Domenico Giulini im Gespräch (SB)
INTERVIEW/012: Die DPG stellt vor - das Mögliche auch nutzen ...    Prof. Dr. Dr. Claus Beisbart im Gespräch (SB)
INTERVIEW/013: Die DPG stellt vor - die Maßstäbe prüfen ...    Martina Gebbe im Gespräch (SB)
INTERVIEW/014: Die DPG stellt vor - unbekannten Emissionen auf der Spur ...    Dr. Stefan Schmitt im Gespräch (SB)
INTERVIEW/015: Die DPG stellt vor - Zusammenschau ...    Dr. Irena Doicescu im Gespräch (SB)
INTERVIEW/016: Die DPG stellt vor - Vermächtnis der Vergleiche ...    Dipl. Ing. Stefanie Bremer im Gespräch (SB)
INTERVIEW/017: Die DPG stellt vor - fortschreitendes Verständnis (Teil 2) ...    Prof. Dr. Domenico Giulini im Gespräch (SB)

3. April 2017


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