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INTERVIEW/011: Die DPG stellt vor - Fortschreitendes Verständnis (Teil 1) ...    Prof. Dr. Domenico Giulini im Gespräch (SB)


Die Grenzen der Physik ausloten

Frühjahrstagung der Sektion Materie und Kosmos (SMuK) der Deutschen Physikalischen Gesellschaft vom 13. - 17. März 2017 an der Universität Bremen

Prof. Dr. Domenico Giulini über Zustände der Materie, Experimente die erst anschließend einen Nutzen bekommen, Additionen mit ungewöhnlichem Ergebnis und warum es ein Grund ist, sich zu freuen, wenn die Theorie am Experiment scheitert ...


Der leichte Einstieg in das Abenteuer Physik, den sich drei Redakteure des Schattenblicks auf Empfehlung des Fachverbands "Theoretische und Mathematische Grundlagen der Physik (MP)" für junge Mitglieder der Deutschen Physikalischen Gesellschaft ausgesucht hatten, erwies sich für Nicht-Physiker umfassender und mathematisch anspruchsvoller als gedacht. Die jungen DPGler, Studentinnen und Studenten der Physik - so die anschließende Erklärung von Prof. Dr. Domenico Giulini - suchten sich die "Nachhilfe-Themen" selbst aus und hätten sich von ihm und den anderen Referenten speziell ein auf den Stand bringendes Seminar gewünscht. Bei Fragen wie "Was ist eine Raumzeit?", "Welche ihrer Strukturen werden in Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie bestimmt und welche nicht?" oder "Welche globalen Strukturen setzt man voraus, damit man lokale Physik betreiben kann?" könne es dann schon etwas mathematischer zugehen.


Prof. Dr. Domenico Giulini erklärt die Grundlagen der Raumzeit in einem Nachhilfe-Tutorium für junge Physiker. - Foto: © 2017 by Schattenblick Prof. Dr. Domenico Giulini erklärt die Grundlagen der Raumzeit in einem Nachhilfe-Tutorium für junge Physiker. - Foto: © 2017 by Schattenblick

Bei Fragen der Theoretischen Physik geht es schon mal etwas mathematischer zu ...
Wenn Formeln zu unverständlich werden, wird mit den Fingern gerechnet.
Fotos: © 2017 by Schattenblick

Unbestritten hat die Grundlagenphysik unser Weltbild geprägt. Ohne ihren theoretischen Hintergrund oder ihre Funktion im Detail zu verstehen, nutzt der Mensch - angefangen mit dem Feuermachen und dem Rad, heute Smartphones, Computer, Fernseher, mobile Navigationsgeräte und vieles mehr, das auf physikalische Grundlagen [1] zurückgeht oder damit erklärt wird. Doch während Kenntnisse der klassischen Mechanik seinerzeit den Umgang mit Dampf- oder Nähmaschine noch erleichterten, können die wenigsten Nutzer die "Mechanotronik" ihrer fernsteuerbaren Multimedia-, HighTech-, Haushalts- und Alltagsgeräte noch theoretisch nachvollziehen, zumal sich die physikalischen Erklärungsmodelle ständig verändern. Wie aber geht es den Experten der theoretischen Materie, welchen praktischen Zugewinn schöpfen Physiker aus ihrem Wissen? Leben sie in einer anderen Welt? Und müssen vielleicht erst physikalische Theorien wie Tunneleffekte der Quantenmechanik in die Praxis umgesetzt oder der Sprung durch ein schwarzes Loch in andere Dimensionen neu erfunden werden, damit ihre Welt für den Nicht-Physiker erreichbar wird und umgekehrt?

Gelegenheit für das experimentelle Encounter "Laien versus Wissenschaft" gab die Physikalische Gesellschaft, die wie jedes Jahr ihre Mitglieder, aber auch Physiklehrer, Journalisten, Industrie und andere interessierte Teilnehmer zu ihren Frühjahrstagungen eingeladen hatte, um den Stand der Lehre und Forschung wie potentielle Anwendungsmöglichkeiten und neue Projekte im Kreis von Fachleuten vorzustellen und zu diskutieren. Vom 13.-17. März bot sie in Bremen ein besonders breites wissenschaftliches Spektrum an Fachvorträgen und Seminaren an. Da die lateinische "Physica", die "wissenschaftliche Erforschung der Naturerscheinungen", wörtlich genommen bereits bei den atomaren Bausteinen beginnt und selbst bei Fragen nach der Entstehung des Universums noch nicht endet, sind die Fachgebiete der Physik so zahlreich, daß die Deutsche Physikalische Gesellschaft, wie Prof. Giulini erklärte, in drei Sektionen unterteilt werden mußte, die nun jeweils für eine Woche in verschiedenen Universitätsstädten Deutschlands tagten. Neben den Sektionen "Atome, Moleküle, Quantenoptik und Plasmen", die bereits vom 6. - 10. März in Mainz tagte und der Sektion Kondensierte Materie (Dresden 19. - 24. März) enthält die Sektion "Materie und Kosmos" (SMuK), welcher Domenico Giulini derzeit als Sektionsleiter und -sprecher vorsteht, gewissermaßen den ganzen, buntgewürfelten Rest an physikalischen Fachbereichen und Interessen wie Teilchenphysik (T), Physik der Hadronen und Kerne (HK), Strahlen- und Medizinphysik (ST), Extratrerrestrische Physik (EP), Umweltphysik (UP), Plasmaphysik (P), Kurzzeitphysik (K), Gravitation und Relativitätstheorie (GR), die Theoretischen und Mathematischen Grundlagen der Physik (MP) und die Arbeitsgruppe Philosophie der Physik (AGPhil). Darüber hinaus sei oft die Astronomische Gesellschaft zu Gast, auch wenn sie nicht zur DPG gehört. Entsprechend abwechslungs- und umfangreich wären auch die Tagungen dieser Sektion, auf der die jüngsten Ergebnisse elementarer Grundlagenforschung bis hin zu den Anwendungen in Medizin, Umweltwissenschaften, Rüstung und Industrie vorgestellt wurden.

Prof. Dr. Domenico Giulini kommt ursprünglich aus Heidelberg. Nach einem Studium der Physik in Heidelberg, Cambridge und Paris und weiteren Stationen in Freiburg, Zürich, Karlsruhe und Golm wurde er 2009 an die Leibniz-Universität Hannover gerufen und ist auf diese Weise durch die Zusammenarbeit im Rahmen des Exzellenzclusters auch am ZARM in Bremen tätig. [2] Seit 2014 ist er der Leiter des Fachverbandes Gravitation und Relativitätstheorie in der DPG-Sektion Kosmos und Materie, seit 2015 zudem Sprecher der Sektion. Sein Spezialgebiet ist die Theoretische Physik, in der er nach eigenen Angaben "besonders gerne und vor allem im Bereich Allgemeine und Spezielle Relativitätstheorie unterwegs ist".

In einem ausführlichen Gespräch, das in zwei Teilen veröffentlicht wird, brachte er den SB-Redakteuren die fremde Welt von Materie und Kosmos näher und machte klar, warum sich Fortschritt in der Forschung und Widersprüche in den Konzepten und Theorien nicht ausschließen müssen ...


Foto: © 2017 by Schattenblick

Prof. Dr. Domenico Giulini bei der öffentlichen Abendveranstaltung im alten Rathaus über die Brüche im Universum
Foto: © 2017 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Die Physik scheint sehr viel Mühe in verschiedene mathematische Ansätze und Strategien zu investieren, um der grundsätzlichen Problematik der Raumzeit und der Vereinheitlichenden Theorie näher zu kommen. Muß man das so verstehen, daß die Lösung dieses Problems noch lange auf sich warten lassen wird und daß die Wissenschaft genaugenommen sogar noch recht weit weg davon ist?

Prof. Dr. Domenico Giulini (DG): Man ist tatsächlich noch sehr weit davon entfernt. Es sah mal so aus, als sei die Physik schon näher dran gewesen. Sie hat sich aber wieder von einer Lösung entfernt. Es gibt aber auch Stimmen, die halten bereits den Versuch für ein hoffnungsloses Unterfangen und meinen, man solle sich doch mit bescheideneren Zielen zufrieden geben. Das ist natürlich nicht ganz falsch. Aber einen echten Theoretiker - zu denen gehöre ich eben auch - fuchst das. Der will nicht einfach nur für jeden Phänomenbereich eine eigene Theorie, deren Bilder nicht zusammenpassen, sondern der will schon eine gewisse Harmonie in der Beschreibung haben. Und dann versucht man es eben doch. Theorien zu vereinen, die auf der einen Seite bis in die größten kosmologischen Skalen, das sind 10 Milliarden Lichtjahre, gehen und auf der anderen Seite mit Größenordnungen arbeiten sollen, die bis in die atomaren, subatomaren und sogar subnuklearen Dimensionen von bis zu 10 hoch minus 15 Metern (also 0,000 000 000 000 001 Meter) reichen, scheint tatsächlich etwas vermessen zu sein. Eine vereinheitlichende Lösung zu finden, die für alle hier auftauchenden Phänomene irgendwie kompatibel wird, ist ein sehr hoher Anspruch.

SB: Was treibt die Physik dazu, die Latte so hoch anzulegen, zumal doch viele Grundlagen gar nicht geklärt sind?

DG: Das macht der Erfolg aus. Die Physik kann zwar auch vieles nicht. Aber das, was sie kann, kann sie gut. Und je mehr Erfolg man hat - und die Physik hat großen Erfolg, weil sie eine gewisse Art von Fragen stellt -, umso größer werden die Ansprüche.

SB: Wie würden Sie "gut" definieren? Ist die Physik "gut", wenn etwas im Experiment bestätigt werden kann oder sprechen Sie mehr von der technologischen Anwendung und Umsetzung?

DG: Ich spreche von beidem: Der Bestätigung im Experiment und die daraus entwickelte Technologie. Das Überzeugende wie Verblüffende an der Physik ist doch, daß Technologie so zuverlässig ist und funktioniert. Es gibt zwar auch Unfälle, aber allein die Tatsache, daß in diesem Raum hundert Leute gleichzeitig telefonieren können, ohne daß sich die Gespräche gegenseitig stören, und mitten in einem Gespräch ruft dann noch einer in seinem Smartphone die Börsenkurse ab, oder bucht nebenbei ein Flug- oder Bahnticket. Das ist eigentlich unglaublich. Und ganz nebenbei haben wir über einen GPS-Empfänger, der unseren Standort ermittelt, noch Verbindung zu einem Satelliten.

Jeder kann sich heute auf die Technik verlassen, obwohl wir oft nicht wissen, wie sie funktioniert. Auch Physiker wissen es oft nicht. Ich kann Ihnen auch nicht genau sagen, wieso das Handy funktioniert. Ich kenne die Grundprinzipien. Aber im Einzelnen nachvollziehen könnte ich nicht, wie man einen Chip baut oder wie die Software von Smartphones programmiert wird.

SB: Die Quantenphysik hilft einem also nicht dabei weiter, den eigenen Rechner besser zu verstehen, warum er an einem Tag mal "keine Lust" hat oder sich hin und wieder an irgendeiner Datei "verschluckt"?

DG: Ja dem Rechner auch mal Launen zuzugestehen, hilft durchaus in solchen Fällen. Ich spreche auch mit meinem Desktop. In dieser Hinsicht sind die Physiker nicht anders. Sie haben genau die gleiche Weltsicht wie andere Menschen auch. Abschnittsweise kennt man sich vielleicht mal ein bißchen besser aus.

Man sollte durchaus zwischen der Schwierigkeit, Grundlagen zu begreifen, und der Komplexität unterscheiden. Zusammenhänge können extrem komplex sein, so daß sie nicht mehr kommunizierbar werden. Wenn man sich natürlich in die einzelnen Schritte einarbeitet, versteht man sie ganz gut. Aber in der gesamten Komplexität, in der sie auftreten, lassen sie sich nicht mehr begreifen. Das können Computer extrem gut. Ein Computer macht genau das, was Sie ihm sagen - nicht mehr und nicht weniger. Auf diese Weise schafft er extrem komplexe Aufgaben. Aber die Sinnfrage kann er nicht stellen.

Ein Mensch macht in komplexen Aufgaben hingegen gerne mal Fehler. Er kann dann aber auch abkürzend denken. Der Computer denkt immer nur entlang der vorgegebenen Leitungen, die fest verdrahtet sind. Der Mensch versucht hin und wieder einmal, ganz anders heranzugehen. Und das kann ein Computer einfach nicht, auch wenn es inzwischen schon lernfähige Modelle gibt.

SB: Oft werden die funktionierenden Navigationsgeräte bereits als Bestätigung der Speziellen Relativitätstheorie gehandelt, weil sie einen ohne gewisse "Korrekturen nach Einsteinschen Prinzipien" in die Irre führen würden. Um noch einmal auf die Gegenüberstellung von technischer Anwendung sowie der Bestätigung von Theorien im Experiment zurückzukommen und wenn man zum Beispiel an die Entwicklung des Galileo-Systems denkt: In welchem Verhältnis zu Theorie und Planung sind dabei Handwerk und handwerkliche Umsetzung oder auch Versuch- und Irrtum an der Ausführung und schlußendlichen Verläßlichkeit einer Technologie beteiligt? Und welchen Anteil hat die Theoretische Physik dabei?

DG: Ich denke, beides ist gleichermaßen wichtig. Es gibt viele Beispiele dafür, daß etwas theoretisch entworfen wurde, ohne daß man dabei am Anfang an eine praktische Anwendung gedacht hat.

Aber es gibt auch die umgekehrte Herangehensweise, daß man etwas einfach nur macht, weil man ingenieurmäßig schon soweit ist, daß man etwas Interessantes tun kann, aber eigentlich noch gar nicht genau weiß, was man daraus lernen soll. Wenn ich meinem Vortrag morgen einmal vorgreifen darf: Es gibt hier in Bremen den Fallturm, in dem man unter anderem auch Dinge fallen lassen kann, die in den Bereich der Quantenmechanik gehören, beispielsweise ein ultrakaltes Gas. Das ist ein Gas, das auf nur ein Millionstel Grad über dem absoluten Nullpunkt, d.h. über minus 273 Grad, abgekühlt worden ist.

Wenn man ein Gas soweit abkühlt, gelangt es in einen neuen, in der klassischen Physik unbekannten Aggregatzustand, der nicht fest, flüssig oder gasförmig, sondern ein sogenanntes Einstein-Bose-Kondensat ist. In diesem Zustand wird die quantenmechanische Natur der Mikrowelt auf einmal makroskopisch wichtig. Die Quantennatur, die laut Theorie nur in ganz kleinen Dimensionen erscheinen soll, offenbart sich dann in einer Dimension von Zentimetern. Denn die Moleküle dieses Gases sind plötzlich alle in dem gleichen Zustand. Sie sind also auch nicht mehr räumlich getrennt. Das heißt, man könnte keine Atome mehr unterscheiden, sondern alle Atome sind in einem gewissen Raumgebiet verschmiert und nehmen den gleichen, wellenartigen Zustand ein.


Kopie einer Seite aus dem Fachmagazin, die Giulini im Vortrag auf die Leinwand projizierte - Foto: © 2017 by Schattenblick

Welle zu Welle addiert kann ein 'Nichts' ergeben.
Beispiel für ein Bose-Einstein-Kondensat-Interferenzmuster, wie es 1997 in der Fachzeitschrift "Science" veröffentlicht wurde.
Foto: © 2017 by Schattenblick

Nun weiß man sehr wenig über die Reaktion solcher Materie-Kondensat-Zustände auf ein Gravitationsfeld. Das soll hier getestet werden. Aber nur, weil man einerseits in der Lage ist, ein solches Bose-Einstein-Kondensat herzustellen, was aufgrund der starken Kühlung extreme Schwierigkeiten macht, und auf der anderen Seite bereits ein Fallturm existiert, in dem man Dinge fallen lassen kann, kam man auf den Gedanken zu fragen: 'Warum lassen wir so einen Zustand nicht einfach mal fallen?' Und dann sagte man eigentlich ohne weiteren Hintergedanken oder Grund: 'Ja, okay - why not.'

Erst später kam man auf die Idee, daß man damit auch ein ganz fundamentales Prinzip der Gravitationstheorie, nämlich das Einsteinsche Äquivalenzprinzip, auf eine völlig neue Weise überprüfen könnte. Danach hat herkömmliche Materie die Eigenschaft, im Gravitationsfeld gleich schnell zu beschleunigen, egal aus welchem Stoff sie gemacht ist oder was sie für physikalische Eigenschaften besitzt. Ein Uranatom soll also genauso schnell wie ein Rubidiumatom fallen und beide genau so schnell wie ein Wasserstoffatom. Auf diesem Prinzip aufbauend hat Einstein eine mathematisch sehr weitreichende Theorie entwickelt, die Allgemeine Relativitätstheorie. Wenn dieses Prinzip sich nun im mikroskopischen Bereich als falsch erweisen würde, dann wäre auch die Allgemeine Relativitätstheorie im mikroskopischen Bereich nicht gültig. Durch dieses Experiment eröffnet sich vielleicht die Möglichkeit, mit den Quantenzuständen dieser ultrakalten Gase an den fallenden, klassisch nicht mehr beschreibbaren Zuständen von Materie eben dieses Äquivalenzprinzip zu testen. So ist aus einer Ingenieursmöglichkeit eine fundamentale Fragestellung der Theoretischen Physik geworden.

SB: Kann man denn bei dem Gas noch von einem mikroskopischen Bereich sprechen, wenn es sich um zentimeterskalierte Größenordnungen handelt?

DG: Eben nicht mehr. Man hat sozusagen die seltsame Welt, die man normalerweise nur im Mikroskop sichtbar machen kann, auf makroskopische Skalen vergrößert. Daß sich ein Elektron in einem Atom anders verhält, als ein Tennisball, daran hat man sich bereits irgendwie gewöhnt. Aber daß jetzt ein Gas von der Ausdehnung eines Zentimeters sich völlig anders verhält, als ein Gas aus normalen, herkömmlichen Metriken, die räumlich lokalisiert und gegeneinander abgegrenzt sind, das ist eben ungewöhnlich. Es bedeutet aber, daß die Quantenmechanik, die bislang nur die Mikrophysik beschrieben hat, sehr wahrscheinlich universelle Gültigkeit besitzt, obwohl sie ein sehr bizarres Bild der Welt entwirft. Also was ist Materie wirklich? Physiker fragen diese Frage nicht gerne, weil das Schleusentore öffnet für unkontrollierte Antworten. Doch letztendlich interessiert es sie natürlich auch, wie wir uns das vorstellen sollen.

SB: Würde bei dem Experiment Bose-Einstein-Kondensat der Raum seine Bedeutung verlieren?

DG: Nein.

SB: Wie kann man das verstehen, wenn die räumliche Trennung der Materie nicht mehr konkret, sondern "verschmiert" ist?

DG: Da verwandelt sich ganz simpel und einfach, aber doch zutreffend gesprochen, nur das, was wir als harte, kleine Kügelchen verstehen, also die Moleküle, die gegen die Wände des Gefäßes stoßen und damit Druck ausüben. Diese Kügelchen werden beim Abkühlen in ein wellenförmiges Etwas transformiert. Das entspricht dann mehr dem Wellenbild der Materie als dem Teilchenbild.

SB: Sie sprechen von der Welle-Teilchen Dualität als sei sie etwas Konkretes oder Reales. Ist es tatsächlich mehr als nur ein theoretisches Konstrukt auf dem Reißbrett oder ein Gedankenspiel?

DG: Den Übergang von Teilchen zu Welle kann man direkt sehen. Ich kann ihn sogar regelrecht andrehen, indem ich die Temperatur absenke. Bis zu einer bestimmten Schwellentemperatur sehr weit im Minusbereich sieht man nichts als Teilchen und dann dreht man die Temperatur nur ein kleines weiteres Stück runter - und peng - hat man eine Welle.

SB: Gestern erwähnten Sie im Tutorium, daß sich die Vorstellung in der Quantengravitation mehr in Richtung "Felder" entwickelt und daß sich die Physik in Zukunft immer mehr von den Teilchenmodellen wegbewegt. Kann es denn sein, daß wir das, was bislang als Teilchen betrachtet wurde, nun als ein beobachtbares Phänomen im Raum verstanden werden muß, etwa eine Überlagerung von Feldern? Oder wäre diese Vorstellung daneben?

DG: Nein. Allerdings würde den Physiker ein kleines Detail daran stören, nämlich das Wort "beobachtbar". Es gibt ein Quantenfeld im Raum, das den Zustand der Quantenfeldtheorie beschreibt. Aber dieses Feld ist nicht direkt beobachtbar. Sie können an dem Feld Dinge beobachten. Aber Sie können nicht das Feld beobachten. Es ist keine "Observarie", wie der Physiker sagt. Das ist ein bißchen schwer zu verstehen, das gebe ich zu, weil es in der klassischen Physik mit Feldern anders gehandhabt wird. Wenn Sie ein Temperaturfeld haben oder ein Strömungsfeld von Gasen, dann können Sie an jedem Ort im Raum und zu jeder Zeit sagen, wie groß die Temperatur dort ist und wie schnell ein Gas zu dieser Zeit an diesem Ort strömt. Das heißt, das Feld ist "meßbar".

In der Quantenphysik können Sie nicht wie eine Art Thermometerfühler an den Ort gehen und sagen, der Wert meines Quantenfeldes dort beträgt "fünf". Das geht nicht.

SB: Das ist schwer zu verstehen.

DG: Auch die Bedeutung ist schwer zu verstehen. Eben weil es sich um keine direkt meßbare Größe handelt, sondern um einen mathematischen Repräsentanten von allen meßbaren Dingen an diesem System und das nennt man in der Physik einen Zustand, der dann im mathematischen Apparat meiner Theorie beschrieben wird. 'Ein Zustand ist mir dann gegeben, wenn ich weiß, daß die Werte aller beobachtbaren Größen an diesem System in diesem Zustand sind' sagt der Physiker dazu. Es gibt Zustände und beobachtbare Größen. Die Zustände bestimmen, welche Werte die beobachtbaren Größen haben. Und letztlich will ich natürlich dann auf das, was der Zustand war, durch alle mir möglichen Beobachtungen zurückschließen. Die Theorie ist vollständig, wenn mir das gelingt.

SB: Und wenn es keine Widersprüche gibt.

DG: Genau. So kann man übrigens den Unterschied zwischen Mechanik oder klassischer Physik und Quantenmechanik ganz gut verstehen. In beiden gibt es diese Unterscheidung von Zuständen, Observarien oder beobachtbaren Größen. In der klassischen Physik gehe ich grundsätzlich davon aus, daß ich alle beobachtbaren Größen an diesem System messen kann, ohne das System in wesentlicher Weise dabei zu stören. In der Quantenmechanik ist das nicht so. Da gibt es inkompatible, beobachtbare Größen. Ich kann entweder nur die einen oder die anderen messen. Und wenn ich fertig bin mit der Messung, dann darf ich nicht annehmen, daß das System noch nach wie vor in seinem alten Zustand ist. Sondern wenn ich die einen Größen gemessen habe, dann wird sich das System zur Ruhe setzen oder zu einem - wie wir es nennen - Eigenzustand dieser Gruppe von beobachtbaren Größen übergehen. Wenn ich aber eine andere nicht kompatible Menge von Observarien gemessen hätte, dann hätte es sich in einen anderen Zustand gesetzt, der ebenfalls zu dieser Menge von kompatiblen beobachtbaren Größen gehört. Da würde man dann als naiver Realist sofort fragen, 'ja aber in welchem Zustand ist es denn nun wirklich?' Und diese Frage beantwortet die Quantenmechanik nicht. Sie sagt einfach, daß das sinnlos ist.

SB: Das wäre für den naiven Realisten tatsächlich ein Widerspruch.

DG: Ja, aber das muß man schlucken, wenn man die Quantenmechanik akzeptiert.

SB: Um nochmal auf Ihr konkretes Fallturm-Experiment zurückzukommen. Sie sprachen anfangs von einem Bose-Einstein-Gas. Nach klassischer Physik nehmen die Moleküle oder Teilchen in einem Gas den chaotischten Aggregatzustand ein. Sie bewegen sich unkoordiniert und üben durch ständige Kollision einen erhöhten Druck auf die Wände ihres Gefäßes aus. Als Bose-Einstein-Kondensat verdichtet sich das Gas dann wieder in eine geordnete, koordinierte Wellenbewegung? Würden sich das beides nicht gegenseitig ausschließen: chaotisches Gas und geordnete Welle?

DG: Nein, manche sprechen zwar von einem Gas. Aber es ist ein Bose-Einstein-Kondensat und ein völlig anderer Aggregatzustand. Er ist so, daß die einzelnen Moleküle in diesem Gas, wenn ich bei diesem Bild bleibe, räumlich nicht mehr zu unterschieden sind. Sie sind eine Welle. Und diese Welle ist nicht stark lokalisiert, sie hat keine Amplitude, die in einem kleinen Raumbereich groß ist und außerhalb ist sie Null, dann würde ich sagen, das Teilchen sitzt genau da, wo die Amplitude groß ist und außerhalb sitzt es nicht. Sondern die Wellen der verschiedenen Atome überlappen sich sehr stark, bis sie im Idealfall sogar dieselbe werden. Alle Teilchen sind in derselben Welle.


Darstellung einer Welle in einem Koordinatensystem, auf der eine Ameise mit einem Surfbrett reitet - Grafik: by Sharon Bewick [CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0</a>)], via Wikimedia Commons

'... sonst würde ich sagen, das Teilchen sitzt genau da, wo die Amplitude groß ist und außerhalb (auf der x-Achse) sitzt es nicht.'(Prof. Giulini)
Grafik: by Sharon Bewick [CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons

Das heißt, da könnte man nicht reingreifen und mal das eine oder andere Teilchen rausholen. Die haben sich in einen räumlich verschmierten Zustand, den der Physiker dann ein Kondensat nennt, vollständig aufgelöst.

Man kann sogar zwei Bose-Einstein-Kondensate nebeneinander herstellen und dann an denselben Ort zusammenführen und zur Deckung bringen. Dann sind alle Moleküle des einen Kondensats über den ganzen Bereich verschmiert und alle Moleküle des anderen auch.

Was man dann feststellt ist, daß man die Wellenfunktion des einen und die Wellenfunktion des anderen superponieren kann. Und wenn man Wellen superponiert, dann bekommt man sogenannte Interferenzen. Das heißt Welle zu Welle addiert, kann auch ein Nichts ergeben.

Wenn ich Teilchen addiere, bekomme ich immer noch mehr Teilchen. Aber wenn ich zwei Wellen addiere, dann wird der Wellenberg höher oder sie löschen sich aus, je nach der Phase der Welle, beziehungsweise, je nachdem ob ein Wellenberg auf einen anderen Wellenberg oder auf ein Wellental trifft. Das kann man sehen. 1997 wurde es zum ersten Mal im Labor gemacht und dafür hat es 2001 den Nobelpreis gegeben.

Die Interferenz von verschiedenen Bose-Einstein-Kondensaten wird auch in den Fallturm-Experimenten genutzt. Dabei soll verglichen werden, ob das eine Bose-Einstein-Kondensat, das aus dem Element Kalium besteht, beziehungsweise aus Kalium-Atomen, genau so schnell fällt, wie das aus Rubidium. Wenn man jetzt mit diesem Interferenzmuster die Lokalisation der Gase relativ zueinander bestimmen kann, erhofft man sich, sehr genaue Aussagen über mögliche unterschiedliche Fallbeschleunigungen in einem Gravitationsfeld treffen zu können.

SB: Man läßt die beiden Kondensate nebeneinander fallen oder schon die Überlagerung der beiden?

DG: Man bringt sie übereinander und läßt sie dann fallen.

SB: Exististieren denn noch Atome in den Interferenzlücken? Ist da noch irgendetwas?

DG: Da ist genau das, was die Quantenmechanik als Materiewelle beschreibt. Da ist etwas. Es ist aber kein lokalisiertes Teilchen mehr. Selbst wenn Sie ganz genau hinschauen könnten, könnten Sie dort keine Teilchen herumsausen sehen.

SB: Haben Sie mal einen Blick auf so ein Bose-Einstein-Kondensat im Fallturm nehmen können?

DG: Ich kenne nur die Bilder, die davon geschossen wurden.

SB: Falls die Ergebnisse nicht mit den erwarteten übereinstimmen, müßte dann die Physik wieder ganz von vorne anfangen, etwa dort, wo Einstein vor ungefähr 100 Jahren begonnen hat?

DG: Also wenn eine Theorie in Aspekten falsch ist, dann muß sie deshalb noch lange kein kompletter Unsinn sein. Aber im Prinzip haben Sie recht. Nun wird bei dem Experiment keine Abweichung von dem Äquivalenzprinzip erwartet, sie wird aber auch nicht ganz ausgeschlossen. Könnte man tatsächlich eine Abweichung finden, wäre das schon eine große Sensation, die an unserem allgemeinen Verständnis von Gravitation gewaltig rütteln würde.

SB: Dann wäre Einstein ebenso obsolet wie Newton in der Geschichte der Physik?

DG: Die Newtonsche Physik hat nach wie vor ihre Berechtigung. Wie wir in dem Plenarvortrag gerade sehen konnten werden die Satellitenbahnen nach wie vor mit Hilfe der Newtonschen Gleichungen und vielleicht der einen oder anderen kleinen Korrektur berechnet.

SB: Worin liegt der Reiz, sich immer wieder neu mit den physikalischen Theorien zu befassen oder überhaupt diese Fach zu studieren?

DG: Man merkt als Universitätslehrer, daß es bei den jungen Physikern zwei Hauptstränge der Motivation gibt, Physik als Studienfach zu wählen. Das sind zum einen diejenigen, die schon immer gerne Mathematik gemacht haben. Also Studenten, denen sich das Bewegen in abstrakten Strukturen einfach Spaß macht. Das hat ja viel mit dem eigenen Kopf und noch viel mehr mit Phantasie zu tun. Mathematik ist überhaupt nicht so trocken, wie man sich das vielleicht vorstellt. Sondern das Denken in abstrakten Strukturen kann ausgesprochen befriedigend und sehr schön sein.

Und die anderen sind diejenigen, die schon immer gerne am Radio herumgebastelt haben oder heute vielleicht die Computerfreaks, die gerne etwas mit ihren Händen machen und etwas erschaffen wollen. So etwas wie einen Detektor oder eine Rakete zu bauen, kann viel Freude machen. Denn wenn man das baut und es funktioniert wirklich, wie man es vorausberechnet hat, kann darin eine große Befriedigung liegen.

SB: Zu welcher Gattung würden Sie sich selbst zählen?

DG: Physik fand ich als Schüler absolut grauenhaft. Mein Physiklehrer kam aus der Industrie. Der war gar kein ausgebildeter Lehrer. Er hat mich aber für die Physik begeistert, weil er uns angeregt hat, unter seiner Anleitung praktische physikalische Projekte durchzuführen. Ich habe zum Beispiel mit der Bohrmaschine von meinem Vater und einem Drehspiegel die Lichtgeschwindigkeit im Schulgebäude bestimmt und zwar nach Vorbild des alten Versuchs von Hippolyte Fizeau [3]. Aber das war eben kein vorgefertigter Kasten, den man nach Gebrauchsanleitung bedient und am Ende geht der Zeiger auf "fünf" und man hat gar nichts verstanden. Sondern wir mußten erstmal die Voraussetzungen schaffen, also zum Beispiel messen, wie schnell sich die Bohrmaschine überhaupt dreht. Dafür mußten wir mit einem Stroboskop arbeiten. Das hat mir Riesenspaß gemacht. Darüber hinaus hat mir dieser Lehrer Bücher geliehen, unter anderem eins über Theoretische Physik, das für mich voller unbekannter Hieroglyphen war. Daß man über diese Zeichen etwas über die Welt erfahren kann, hat mich fasziniert. Ich wollte dieses Buch unbedingt verstehen.

Das hat mich schließlich dazu gebracht, Originalarbeiten und Folianten aus der Uni-Bibliothek zu holen. Noch vor meinem eigentlichen Studienbeginn hatte ich schon alle Originalarbeiten von Max Planck gelesen, einige auch von Einstein, die teilweise gar nicht so schwer zu verstehen sind. Denn die Mathematik ist ja bekannt, auch wenn man manche Begrifflichkeiten als Schüler noch nicht versteht. Dieses Lesen der alten Meister im Original, gewissermaßen die Physik aus erster Hand nachzuvollziehen, habe ich mir bis heute erhalten. Doch klar war für mich bereits beim Abitur, daß ich Physik studieren wollte.

Der Wunsch hatte sicher irrationale Momente. Ich hatte keine Ambitionen, die Welt zu verbessern oder so etwas. Was ich wollte, war, Sachen und Zusammenhänge allein im Kopf verstehen zu können.

Daher gefällt mir auch der moderne Begriff des Wissens nicht, der mit Worten wie "Wissensgesellschaft" oder "Wissenskultur" geradezu inflationär gebraucht wird. Das Anhäufen von Wissen ist so tot wie ein Schotterhaufen. Es geht doch vielmehr um den Begriff des Verstehens. Und häufig stellen wir fest, daß wir erst dann etwas besser verstehen, wenn wir erkennen, daß wir es in der Vergangenheit noch gar nicht richtig verstanden hatten, obwohl wir es glaubten. So war das auch mit der Newtonschen Physik.

Die Einsicht, daß eine Theorie wie die Newtonsche Physik nicht gilt, ist nur ein Grund, sich zu freuen, auch wenn es die eigene Lieblingstheorie war. Die Einsicht zum Unverständnis ist immer der Kern zu neuem Verständnis. Wie im wirklichen Leben auch.

Fortsetzung folgt ...


Bahnhof mit Zügen, Menschen und Tunnel - Foto: © 2017 by Schattenblick

Wie man die Strecke von Berlin nach Bremen über Hannover mit dem Weg durch die Raumzeit vergleichen kann, erklärt Prof. Giulini im 2. Teil des Interviews.
Foto: © 2017 by Schattenblick


Anmerkungen:

[1] Zum Beispiel fußt die Satellitennavigation auf der Relativitätstheorie

[2] https://www.zarm.uni-bremen.de/en/research/space-science/quantum-theory-and-gravity/team-members/domenico-giulini.html

[3] http://www.phynet.de/optik/bestimmung-der-lichtgeschwindigkeit-nach-fizeau


Zur Frühjahrstagung der Sektion Materie und Kosmos sind bisher, mit dem kategorischen Titel "Die DPG stellt vor" versehen, im Pool NATURWISSENSCHAFTEN → REPORT erschienen:

BERICHT/004: Die DPG stellt vor - Verantwortung der Wissenschaft ...(SB)
INTERVIEW/009: Die DPG stellt vor - unzureichend treibt voran ...   Prof. Dr. Claus Lämmerzahl im Gespräch (SB)
INTERVIEW/010: Die DPG stellt vor - Schwingungen und Perspektiven ...   Prof. Dr. Klaus Fredenhagen im Gespräch (SB)
INTERVIEW/012: Die DPG stellt vor - das Mögliche auch nutzen ...   Prof. Dr. Dr. Claus Beisbart im Gespräch (SB)
INTERVIEW/013: Die DPG stellt vor - die Maßstäbe prüfen ...    Martina Gebbe im Gespräch (SB)

27. März 2017


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